Kapitel 15
Er konnte gar nicht sagen, wie lange er bereits auf dem Baum gesessen hatte, als sich von unten plötzlich jemand dem Baum näherte. Sowohl der Dunkelhaarige als auf die Katze beugten sich vorsichtig nach vorne, um nach unten sehen zu können, als sie die Schritte hörten. Ein violetter Haarschopf erschien in ihrem Blickfeld und bückte sich nach unten, um das Handy aufzuheben, das er neben einem abgebrochenen Ast entdeckt hatte. Argwöhnisch begutachtete er das Gerät, ehe er sich umsah und schließlich den Blick nach oben schweifen ließ, wo der Junge Shota entdeckte. „Aizawa-Sensei?", stieß er fragend aus.
„Nenn mich doch bitte Shota, oder nur Aizawa", bat er den etwas jüngeren Schüler und seufzte. Im Moment war er schließlich alles andere als ein Lehrer. Daher wollte er auch nicht als solcher bezeichnet werden. Gestern während des Unterrichts hatte Shinsou es doch auch geschafft, ihn beim Vornamen zu nennen, und es schien ihm sogar richtig leicht gefallen zu sein. Immerhin waren sie im Augenblick fast im selben Alter und der Dunkelhaarige hatte keinerlei Erinnerungen an sein erwachsenes Leben.
„Natürlich ... Shota", murrte der Junge und sah zu dem abgebrochenen Ast, ehe er wieder den Kopf hob und versuchte zu erkennen, wo dieser abgebrochen war. Dabei erkannte er, dass der Dunkelhaarige im Moment wohl keine Möglichkeit hatte vom Baum runter zu kommen. Er sparte sich also eine Frage zu stellen, auf die es eine ziemlich offensichtliche Antwort geben würde, und nahm ein paar Meter seines Fangtuchs vom Hals, um es gezielt nach oben zu werfen. Es war offensichtlich, dass sein Lehrer wohl nicht von allein wieder runterkommen konnte.
Blitzschnell schoss es nach oben und wickelte sich um einen Ast über Shota. Dieser zog kurz daran, um sicher zu gehen, dass es auch festsaß, und setzte dann die Katze in seine Kapuze. „Bleib da drin, ja?", bat er das Tier, ehe er mit der zweiten Hand nach dem Tuch griff, und damit begann, nach unten zu klettern.
Hitoshi unterdrückte ein Seufzen, als Aizawa endlich vor ihm stand und die Katze wieder in seine Arme nahm. Die jüngere Version seines Lehrers hatte ein paar Kratzer im Gesicht und auf den Armen, auch die Kleidung hatte ein wenig abbekommen, aber ansonsten wirkte der Junge glücklich und zufrieden, was vermutlich an dem kleinen Tier in seinen Armen lag, das er wieder zu streicheln begonnen hatte und selig anlächelte. „Danke", meinte Shota und sah kurz auf, versuchte sich sogar an einem kleinen Lächeln für Hitoshi.
„Kein Ding", winkte Shinsou ab und zog einmal ruckartig an dem Fangtuch, damit es sich löste und er es wieder um seinen Hals wickeln konnte. Danach reichte er Shota das Handy, das er gefunden hatte. Irgendwie brannte es ihm auf der Zunge, seinen Mentor zu fragen, ob er denn irgendwann um Hilfe gerufen hatte oder einen Plan im Sinn gehabt hätte um sich aus seiner Notlage zu befreien, doch er wagte es nicht, die Taten des Dunkelhaarigen zu hinterfragen, vor allem nachdem er gestern erlebt hatte, wie unsicher dieser sein konnte. Stattdessen trat er einen Schritt näher und begann ebenso die Katze zu streicheln.
„Hoffentlich kommt sie nicht nochmal auf den Gedanken da hoch zu klettern", seufzte Shota und ließ das Tier dann schließlich runter. Allerdings schien sie gar nicht daran zu denken, von seiner Seite zu weichen und davon zu laufen. Viel lieber schmiegte sie sich um seine Beine und schnurrte dabei leise. „Falls doch muss ich auch mein Heldenkostüm holen, weil ich so ne Klettertour kein zweites Mal schaffe, vor allem nachdem der Ast ab ist", gab er zu und kratzte sich im Nacken.
„Du kannst sie ja auch so holen. Ich wollte gerade trainieren, wenn du willst, kannst du mitkommen", schlug Hitoshi vor und sah wie Aizawa kurz große Augen bekam, ehe er den Kopf schief legte und nachdachte. Ganz begeistert schien er von dem Plan nicht zu sein, was der Violetthaarige nach dem gestrigen Fiasko auch verstehen konnte. Doch nun einfach aufzugeben war auch keine Lösung.
Den Gedanken schien auch Shota zu haben. Obwohl er sein Gesicht kurz zu einer Grimasse verzog, schien er doch nicht abgeneigt zu sein. „Gut. Treffen wir uns dann beim Trainingsplatz?" Vielleicht erfuhr er so, wieso er Shinsou dazu auserkoren hatte, ebenso das Fangtuch zu lehren. Ein wenig neugierig war es ja schon, was er sich dabei gedacht hatte. Immerhin kam er selbst nicht mit dem Ding zurecht, da war es recht seltsam, so eine Kampftechnik jemand anderen zuzumuten.
~*~
In der Trainingshalle Gamma, für die Hitoshi für heute die Nutzungserlaubnis hatte, hatte Cementoss dafür gesorgt, dass es genügend Möglichkeiten gab mit dem Fangtuch herumzuschwingen und sich verstecken zu können. Nach dem gestrigen Kampftraining hatte Shinsou die Idee gehabt, die jüngere Version seines Lehrers zu schnappen, und mit ihm ein paar Bewegungen und Grundlagen durchzugehen, die er von ihm gelernt hatte. Er wusste, wie frustrierend es war, wenn man diese Waffe nicht beherrschte. Oft genug hatte Aizawa ihm erklären müssen, dass er selbst sechs Jahre dafür gebraucht hatte um sie zu meistern, weil er keine Anweisungen von jemanden bekommen hatte und alles selbst herausfinden und austesten musste. Ein Versuch, Hitoshi aufzumuntern, wenn er verzweifelt war und aufgeben wollte. Dementsprechend wollte er nun, da die Rollen vertauscht waren, Shota ein wenig zur Hand gehen und ihm helfen. Schließlich wusste niemand, wie lange die Wirkung der Macke tatsächlich anhielt. Es war also nur fair ihm zu helfen, so wie er ihm geholfen hatte. Nur für den Fall, falls Present Mic erneut auf so eine Idee wie gestern kommen würde, oder irgendwo wieder Schurken auftauchten, die es auf den Lehrer abgesehen hatten.
Tatsächlich kam es Shinsou ein wenig so vor, als ob dem jüngeren Selbst seines Lehrers genauso wie ihm das nötige Selbstvertrauen fehlte. Zwar war er ein Ass darin, wenn es um das Analysieren der Lage ging, und er hatte auch einige Verbesserungsvorschläge parat, doch wenn es um seine eigenen Fähigkeiten ging, schaltete Shota komplett ab und suchte ständig nach Möglichkeiten das Thema schnell zu wechseln und machte sich und sein Können ständig runter, sah immer nur das, was nicht geklappt hatte, anstatt auch das Positive anzuerkennen. Kein Wunder also, dass sein Lehrer ihm normalerweise immer erklärte, was er gut gemacht hatte, und wo es Verbesserungsbedarf gibt. Er war selbst in seinem Alter so gewesen und wusste, wie frustrierend und demotivierend es war, wenn man in seiner Gedankenwelt so sehr gefangen war.
Dennoch schafften sie es, weit mehr als zwei Stunden lang zu trainieren, weil keiner der beiden zugeben wollte, dass er keine Puste mehr hatte. Am Ende war es Aizawas klingelndes Handy, das die beiden schließlich unterbrach und zu einer Pause zwang. Shota sah auf sein Handy und verdrehte die Augen. „Hizashi ... wieso kann er mich nicht mal fünf Minuten in Ruhe lassen?", murmelte der Junge, ehe er abnahm. Natürlich wusste er, dass er den Blonden schon seit Stunden nicht gesehen hatte, doch es fühlte sich tatsächlich so an, als ob er immer und überall zur Stelle und an seiner Seite war. Dabei lag er mit einer Erkältung in der Krankenstation und wollte nur kurz die Lage checken. So heiser wie er klang, hatte Shota Mühe sich nicht lustig über ihn zu machen. „Wie geht's dir denn?", wollte er einfach nur wissen, um das Gespräch auf den Voicehero zu lenken, und nicht weiter erklären zu müssen, dass er immer noch in der Pubertät steckte.
Als er endlich auflegen konnte, seufzte Shota und packte das Handy wieder weg. „Anscheinend fällt der Unterricht der A-Klasse erst einmal Stundenweise aus, bis Hizashi und Yagi-sensei wieder fit sind. Eigentlich betrifft das wohl den Englischunterricht der gesamten Schule. Aber wer braucht das schon?" Mit Englisch hatte Aizawa noch nie viel anfangen können, und konnte daher auch nur das Nötigste um durch die Prüfungen zu kommen, solange Hizashi mit ihm lernte. „Was unterrichtet das Klappergestell eigentlich?", fragte Shota Shinsou schließlich, während sie ihre Sachen zusammenpackten und das Training für heute als beendet erklärten.
„Heldologie. War eine ziemliche Sensation, als es hieß, dass All Might als Lehrer an die UA kommt", erklärte Hitoshi, bevor er einen Schluck Wasser nahm, „hat auch eine Menge Schurken auf den Plan gerufen."
„Waaas? Das ist All Might?", staunte Aizawa nicht schlecht und sah den Violetthaarigen mit aufgeklapptem Mund auf. Ihm hatte er sich bloß als Toshinori Yagi vorgestellt. Anfangs hatte Shota überhaupt geglaubt, Eri wäre seine Tochter, weil beide in der Krankenstation gemeinsam bei ihm waren, bis man ihm erklärt hatte, wieso Eri wirklich hier war. Diese Wendung hatte er jedoch nicht kommen sehen.
„Jap", meinte Shinsou, ehe er anfing Shota die ganze Geschichte zu erzählen, soweit er sie kannte, während Aizawa aufmerksam lauschte. Tatsächlich hatte sich der Dunkelhaarige das große Idol und Vorbild von vielen Generationen von Helden anders vorgestellt. In den geschätzten 15 Jahren, die Aizawa nun eigentlich älter sein müsste, als er im Moment aussah, war wohl einiges passiert. Helden lebten schließlich auch ziemlich gefährlich, vor allem wenn man wie All Might ein Friedenssymbol war.
Während er davon erzählt hatte, waren die beiden längst Richtung Schule losgegangen. Immerhin war bald Mittag und die besten Plätze bekam man nur, wenn man früh genug auftauchte. Daher war es auch kein Wunder, dass bereits ein paar Schüler der 1-A an einem Tisch saßen und ihn zu sich winkten, als sie Shota entdeckten. Leider machte sich Shinsou viel zu schnell aus dem Staub, als dass der Junge ihn hätte fragen können, ob er mitkam. Viel lieber wäre er bei ihm beim Mittagessen geblieben als bei dieser lauten Klasse, die so fixiert auf ihn schien. Shota konnte sich nicht erinnern, dass er und seine Mitschüler damals so erpicht auf die Nähe ihres Klassenlehrers gewesen waren. Immerhin wollte man doch mit seinem Lehrer eher so wenig wie nur möglich zu tun haben.
Es blieb ihm also nichts anderes über, als sich neben Denki nieder zu lassen, der ihm einen Platz frei gehalten hatte. „Yo, wo warst du denn? Auf dem Zettel für Eri stand nur was von Joggen. Du wirst doch nicht bis jetzt unterwegs gewesen sein!", fragte der Blonde neugierig, was Shota ziemlich unangenehm war. Schließlich wollte er nicht davon erzählen, dass er auf einem Baum festgesessen hatte. „Hast du mit Shinsou trainiert?", quetschte Kaminari ihn weiter aus, woraufhin Aizawa nickte und in seinem Essen herumstocherte. Die Gesellschaft von Hitoshi wäre ihm eindeutig lieber gewesen. Der Blonde Schüler erinnerte ihn sehr an Yamadas neugierige und aufdringliche Art. Ob diese Charaktereigenschaften immer gemeinsam mit der Haarfarbe auftraten?
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top