Geschwisterliebe...?

11. Mai 182 n.Y., ehemaliges Österreich, Bezirk Wien, Distrikt 24, Krankenstation, 11:23 Uhr

Als er aufwachte, fand er sich auf der Krankenstation, liegend auf einem Krankenhausbett, wieder. Er sah sich um. Auf der Station waren noch andere Patienten untergebracht. Er reckte den Kopf und hielt Ausschau nach Alfred. Doch er konnte ihn nirgends entdecken. Immer wieder liefen Krankenschwestern und Ärzte umher und betätigten Geräte, die so aussahen, als seien sie schon viele Jahre in Betrieb. Nach einer Weile bemerkte eine der Schwestern, dass er wach geworden war. Sie kam zu ihm.

„Ah, Herr Wolf, Sie sind wach!", sagte sie mit sanfter Stimme.

„Sieht so aus, nicht?", erwiderte John. Er bemerkte, wie schwach er war und ließ den Kopf aufs Bett fallen. „Ist Alfred hier?", fragte er nach einer Weile.

„Wer?", fragte die Krankenschwester verdutzt.

„Alfred. Ein Freund von mir. Er war bei mir im Wagen", sagte John.

„Oh ..." Die Schwester schaute betreten drein.

„Was ist? Ist er hier?"

„Er ...", setzte die Krankenschwester an, „er ist ..."

John wusste, was sie ihm damit sagen wollte. Eine kalte Hand der Furcht schloss sich um sein Herz.

„... tot?", beendete er den Satz der Schwester.

Sie nickte stumm. John schloss die Augen. Wenn eine Sache nicht hätte passieren dürfen, so war es diese.

„Was geschieht nun mit mir?", fragte er nach einer Weile.

„Was soll denn schon geschehen?", entgegnete die Schwester mit verwundertem Blick, „Ihre Wunden müssen heilen und die Rippe, die ihnen der Aufprall des Airbags gebrochen hat, muss zusammenwachsen. Dann können Sie wieder heim.

„Und ich werde nicht bestraft? Die Bullen waren hinter uns her, logischerweise müsste ich als Mittäter eingesperrt werden, da wir erstens vor der Polizei geflohen sind, zweitens, weil wir... etwas zu schnell gefahren sind und drittens, weil ich für ihn gestohlen habe. Alle drei Sachen sind heutzutage verboten und es steht Gefängnisstrafe, wenn man mehr als eine Regel bricht."

„Nein, Herr Wolf, sie werden nicht eingesperrt, wir haben ihren Bruder benachrichtigt, ihren einzigen lebenden Familienangehörigen. Er ist daraufhin zum Gericht gefahren und hat 300 Silberaugen bezahlt, damit Sie freigesprochen werden."

Dreihundert Silberaugen! So viel verdient man nicht in einem halben Jahr! Und nur, dass ich freigesprochen werde... Warum? Ich habe ihm nie etwas bedeutet und auf einmal... Auf einmal hilft er mir aus der Scheiße, dachte John.

Bela Wolf war sechs Jahre älter als John. Als Kinder hatten sie sich nie vertragen und als sie erwachsen waren, hatten Bela und John nie wieder miteinander gesprochen. Aber jetzt... Nach guten zwanzig Jahren... WARUM?
 
 
03. Juni 182 n.Y., ehemaliges Österreich, Bezirk Wien, Distrikt 04, 18:55 Uhr

Es waren einige Monate vergangen, seit der Unfall passiert war. Johns Rippe war wieder zusammengewachsen und die Wunden hatten sich geschlossen, bis auf eine: Alfreds Tod. Warum? Warum war genau DAS passiert? Schweigend stand er vor seiner Tür. Er kramte seine Karte (es war eine andere als jene, die er benutzt hatte, um ins Labor in Distrikt 14 zu gelangen) heraus und scannte sie. Die alte rostige Tür schwang quietschend und surrend auf. Müsste dringend mal geölt werden, dachte John und trat ein. Die Einraumwohnung war nicht gerade geräumig, aber sie war auch nicht kleiner als andere Wohnungen im vierten Distrikt unter Wien.

John setzte sich vor seinen PC. Dabei handelte es sich um einen fast hundert Jahre alten 22-Zoll-Flachbildschirm der Marke ASUS, einen vergilbten Tower von Dell, der vielleicht einmal weiß gewesen sein mochte, eine Tastatur von HP, die laut klackerte, wenn man darauf schrieb und zu guter Letzt eine Maus der Marke Logitech, deren Kabel schon mehr als zehnmal geklebt worden war. Diese Sachen hatte er von seinem Großvater und seinem Vater bekommen, da so etwas früher noch überall zu kriegen war. Heute kostete ein kompletter PC mehrere Millionen Silberaugen, das hieß, nur Reiche konnten sich derselben leisten. Diese sogenannten ‚Laptops' gab es schon lange nicht mehr, sie wurden vom Markt genommen, weil sie fast dasselbe waren wie ein PC und dafür viel weniger kosteten. Aus diesem Grunde kauften sich die Menschen vor allem zur Zeit des Wertverlustes von Geld nur noch Laptops, wodurch die Produktion dieser eingestellt wurde.

John bückte sich unter seinen Schreibtisch, welcher eine neun Millimeter dicke Metallplatte war, die in der Wand verankert war und drückte auf den Power-Knopf des Towers. Ein lautes elektrisches Summen verriet John, dass die Lüfter zu arbeiten begonnen hatten. Nach einiger Zeit leuchtete auf dem Bildschirm das Dell-Logo auf, daraufhin rotierte eine Zeit lang eine gepunktete kreisförmige Linie auf blauem Hintergrund auf dem Display, was darauf hin deutete, dass es sich um das Betriebssystem Windows 12 handelte, das letzte System, was Windows je fertiggestellt hatte, bevor das Unternehmen eingestellt worden war. Es war uralt, so wie der Rest des Setups. Endlich kam der Sperrbildschirm zum Vorschein. John drückte auf Enter und gab das Passwort ein. Nach circa zehn Minuten hatte das System endlich realisiert, dass John das korrekte Passwort eingegeben hatte und dass es den Desktop laden konnte. Inzwischen hatte John die 0,25l-Dose eines Energydrinks geleert. Nun aktivierte er die Verbindung zum WLAN-Router, den ihm seine Mutter geschenkt hatte, als er auszog.

Seine Mutter...

Der Desktophintergrund stellte ein Bild von ihm, seinem Bruder, seiner kleinen Schwester, seiner Mutter und seinem Vater dar. Eine glückliche Familie. Bis auf ihn und Bela lebte keiner mehr von ihnen und somit gab es gar niemanden mehr, bei dem er zumindest ein gewisses Gefühl von Zuneigung spüren konnte. Er schluckte schwer.

Das WLAN-Symbol zeigte zwei Balken, gerade ausreichend, dass der Internetbrowser laden konnte. Viele Internetseiten waren nicht mehr zugänglich, da sie nicht mehr betrieben wurden, nur noch gewisse Seiten, die Millionen von Menschen täglich benutzten, konnten noch besucht werden. Einige waren Facebook, Spotify, Twitter, YouTube und eine ältere Version von Google. Er peilte Letztere an. Er suchte nach „Nachrichten". Nach einiger Zeit kamen viele Anzeigefelder zum Vorschein. Einige davon waren völlig sinnlos, beispielsweise das Feld „Wetter", die Wettervorhersage funktionierte über eine hundert Jahre alte Technologie, die verschiedene Wettermöglichkeiten berechnete und die Wahrscheinlichste anzeigte. In anderen wiederum standen dort mehr oder minder sinnvolle Informationen, wie zum Beispiel, was sich so auf der Welt ereignete.
 
John scrollte durch die gesamte Nachrichtenseite. Als er am unteren Seitenrand angekommen war, ploppte plötzlich eine Nachricht auf: „Morgen 12 Uhr: Außerplanmäßige Bezirksversammlung (nur für den Bezirk Wien)!" Er stutzte. Die letzte Versammlung hatte doch vor drei Tagen stattgefunden. Normalerweise fanden diese Treffen nur aller zwei Wochen statt und außerplanmäßige Versammlungen waren seines Erachtens noch nie passiert.

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