Ein alter Bekannter
09. Juni 182 n.Y., Ehemaliges Österreich, Bezirk Wien, Distrikt 04, 17:13 Uhr
Es klingelte. John öffnete seine Tür und ihm viel erneut ein, wie gut ihr einmal etwas Öl tun würde. Doch dafür würde er wahrscheinlich erst Zeit finden, wenn er als ein alter Greis auf dem löchrigen Sofa saß und die Luft mit seinen Blicken ebenso löchrig zu machen versuchen würde. Doch in aller Wahrscheinlichkeit würde er nie auch nur ein kleines Tröpfchen seiner grauen Substanz für so etwas wie das Ölen von rostigen, quietschenden Türscharnieren verschwenden.
Vor ihm stand ein Mann, Anfang dreißig, wie er selbst.
„Bonjour, Joe, lange nischt gese‘en!“, grüßte der Mann fröhlich mit einem starken französischen Akzent.
Joe … So hatten seine Freunde aus seiner Jugend ihn immer genannt … Doch John konnte beim besten Willen nicht sagen, um wen es sich bei dem dunkelhäutigen Mann mit Brille und Schirmmütze handelte, der ihn jedoch zu kennen schien.
„Ähm … Verzeihung …“, sagte John, „Wer sind Sie denn eigentlich?“ Man sah ihm an, wie peinlich ihm diese Frage war.
Der Mann, bei dem es sich offensichtlich um einen Franzosen südafrikanischer Abstammung handelte, wirkte zutiefst getroffen und setzte eine Miene auf wie drei Tage Regenwetter (weshalb auch immer, diese Redewendung war selbst noch hier unten, wo Wetter nur der Bestandteil alter Geschichten war und eigentlich keiner mehr wirklich wusste, wie Regen oder auch alle anderen Wetter aussahen, noch ständig in Gebrauch).
„Aber Joe! Erkennst du misch denn nischt?“, hakte er noch einmal nach. „Isch bin es, Marc!“
Als John nur fragend dreinblickte, fügte er noch hinzu: „Marc-Antoine Morel! Wir waren gemeinsam beim Handball, weißt du noch?“
John wusste nicht, welcher Faktor am stärksten dazu beigetragen hatte, dass in ihm die Erinnerung geweckt wurde, der starke französische Akzent, der Name des Typen oder die wiedererrungenen Erinnerungen an seine Jugend. Doch nun wusste er, wen er da vor sich hatte…
Marc.
Marc war einer seiner besten – und einzigen – Freunde gewesen, als John seine Zeit noch mit Sport vertrieb und nicht wie mit seinem ‚Beruf‘ als Dieb.
Er war damals für ein paar Jahre nach Österreich zu seinen Großeltern gekommen, da Frankreich zu dieser Zeit eine starke Hungersnot befiel. Jetzt erinnerte John sich wieder genau, wie sie sich kennengelernt hatten: Damals hatte es im Bezirk Wien einen Handballclub gegeben, welchen John auch regelmäßig besuchte. Eines Tages war dann Marc da gewesen. Er spielte brillant. Er warf mehr Tore als alle anderen in seiner Mannschaft zusammen. Im Laufe der Zeit waren sie äußerst gute Freunde geworden.
„Ach, Marc! Bitte entschuldige, hab dich nicht sofort erkannt. Komm doch rein!“
John hielt ihm die Tür auf. Marc trat ein.
„Euh … ‘Übsch hast du‘s ‘ier“, war das Erste, was er sagte. Sein starker Akzent erschwerte das Verstehen gewaltig, doch John gab sich Mühe, um nicht noch einmal in solch eine peinliche Situation zu geraten, wie er es eben schon getan hatte.
„Nun ja, es gibt schönere Wohnungen“, lachte John.
Er bot seinem alten Freund einen Stuhl an, der an seinem Schreibtisch stand, welcher übrigens der einzige Tisch war, den man wirklich als einen solchen bezeichnen konnte.
Kurz darauf kam er mit zwei Dosen Bier zurück.
„Tut mir wirklich Leid, etwas besseres hab ich nicht gefunden“, entschuldigte such John.
Marc winkte ab. „Kein Problem, die ‘Auptsache ist doch, dass wir keine trockene Kehle bekommen.“ Er lachte. „Prost!“
„Sag mal, Marc, warum bist du eigentlich zu mir gekommen? Ich meine, wir haben uns doch nun schon so lange nicht mehr gesehen“, bemerkte John, nachdem sie die Dosen geleert hatten.
„Nun, euh, isch war zufällisch in der Gegend“, antwortete Marc-Antoine, „und isch wusste nischt, was isch machen sollte. Da bist du mir in den Sinn gekommen. Und dann, euh, 'ab isch misch erkundischt, wo du wohnst und bin sofort zu dir gekommen.“
John bemerkte, was für eine schlechte Ausrede das war.
„Nein, jetzt mal im Ernst. Wieso kommst du zu mir? Spontan eingefallen bin ich dir bestimmt nicht. Du musst doch einen guten Grund haben. Hier wohnen schließlich noch viele weitere Menschen, bessere, interessantere Menschen als ich, mit denen du dich bestimmt sehr viel besser unterhalten könntest als mit mir. Also frage ich dich nochmal: Wieso zur Hölle kommst du bitte zu mir?“
Marcs Gesichtszüge verfinsterten sich plötzlich, sein Grinsen erstarb.
„Nun gut, isch will disch nicht belügen“, sagte er nun, „aber es ist eine lange Geschichte.“
„Schieß los!“
„Also gut, euh … Alles begann vor ein paar Monaten, als isch in meinem Bezirk eine alte Kammer entdeckte.“
„Was? Ich dachte, es gibt nur die Tunnel und die Wohnungen ...“, sagte John verdutzt.
„Oui, das dachte isch ja auch“, entgegnete Marc. „In dieser Kammer lagen alte Papiere herum, auf die Baupläne gedruckt waren. John! Was isch darauf gese'en 'abe, du wirst es mir kaum glauben: Isch entdeckte die Pläne für eine ... euh ... Luftkissenbahn, ein Fortbewegungsmittel, das mit Druckluft betrieben wird.“
„Wie bitte? Ein Gefährt ohne Benzinmotor?“
„Exact! Isch weiß nischt, wie alt diese Pläne wohl waren, aber sie waren in altem Französisch verfasst, das hat man vor 'undert Jahren zuletzt gesprochen! Parbleu, isch schweife ab. Also, euh, den Bauplänen waren Fahrpläne beigelegt, auf denen die verschiedenen Stationen angegeben waren, an denen so eine Bahn hielt. Einer von ihnen … befand sisch im Bezirk Paris. Also lief isch zu Fuß dorthin, du musst wissen, ein Auto kann isch mir nischt leisten, euh, das viele Geld krieg isch einfach nischt zusammen. Aber isch wollte natürlisch wissen, was es damit auf sisch 'atte.“
John sagte: „Na klar, Gott sei’s gedankt, dass du es getan hast!“ Er grinste.
Marc fuhr fort: „Die nächste Woche suchte und suchte isch, doch isch konnte nichts finden. Isch 'abe bei einem Freund übernachtet, während isch in Paris unterwegs war und nach 'Inweisen suchte. Doch erst in der zweiten Woche wurde isch fündig. Euh, isch bemerkte in einem Armendistrikt eine kaputte Wand, durch welche man in einen Tunnel gelangte. Doch dieser Tunnel war anders gebaut als die Tunnel, die wir kennen, er war aus dem Fels ge'auen, aus dem diese Schicht der Erde zu bestehen scheint.“
„Interessant …“
„Der Gang führte misch in einen Raum. Dort stand auf einer Schiene ein raketenförmiges Gefährt. Isch erinnerte misch, solche Geräte auch in den alten Aufzeichnungen gese'en zu 'aben. Es war eine Luftkissenbahn. Am nächsten Tag kam isch wieder dort hin, diesmal mit einer Tasche voll Proviant und Geräten wie einer Taschenlampe und einem Rasiermesser. So etwas kann isch nischt zu Hause liegen lassen.“ Grinsend zeigte er auf die Bartstoppeln, die sein Gesicht schmückten.
„In der Bahn gab es einen einzigen Knopf, den isch aus Abenteuerlust und mit zitternden Fingern drückte, nachdem isch misch auf einen der beiden Stühle gesetzt ‘atte. Sofort fuhr eine Art Fensterscheibe nach oben, sodass isch bald ringsherum von Glas umschlossen war. Und dann …“
„Was dann?“, fragte John, der nicht mehr länger auf die Folter gespannt werden wollte.
„Nun, und dann schoss das Ding los. John, so eine Geschwindischkeit ‘ab isch noch nie erlebt! Während isch fuhr, sagte eine englische Computerstimme die Namen von Haltestellen an. Nach einer 'alben Stunde fiel der Name „Wien“. Daraufhin drückte isch wieder auf den Knopf und bald stoppte das Gefährt. Doch als isch ausstieg, hat mir eine Mauer den Weg versperrt.“
„Was?“
„Isch musste einen anderen Weg nach draußen finden. Isch irrte dursch felsige Tunnel, die scheinbar unendlisch lang waren, bis isch endlisch Licht von außen sah. Der Distrikt, in dem isch misch befand, hatte die Nummer 7. Isch überlegte, wo isch nun hin sollte, denn Isch konnte misch ja nischt einfach auf die Straße setzen. Da fielst du mir plötzlich ein, isch weiß wirklich nischt, wieso gerade du. Aber isch erkundigte misch umgehend, wo ein gewisser John Wolf zu finden sei. Daraufhin kam isch ‘ierier'er. Oui, das ist meine ganze Geschichte.“
John schwieg eine Zeit lang. Das hatte er nun wirklich nicht erwartet.
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