Samstag - 4.3 - Namjoon

Don't forget - it's fiction!

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Und ich weiß, dass ich für heute noch nicht entlassen bin. Denn Namjoon folgt mir sofort aus dem Raum. Die Müdigkeit in seinen Augen hat nochmal zugenommen. Ich hätte heute nach diesem entspannten Tag nicht gedacht, das das noch geht. Noch viel weniger allerdings habe ich mit dem Folgenden gerechnet. Kaum sitzen wir nebeneinander auf dem Sofa, laufen stille Tränen über sein Gesicht. Er versteckt sie nicht, er lacht sie nicht weg wie sonst immer. Er lässt einfach laufen. Namjoon ist am Ende.
„Ich kann nicht mehr."
Vor Erschöpfung kann er nur noch flüstern. So leise, als dürfte nicht auch er mal schwach sein. Also nehme ich den nächsten Kerl in die Arme. Ich wiege ihn hin und her und wünsche ihm sehnlichst, dass er jetzt mal den Leader, den Verantwortlichen, den Souveränen loslassen kann. Sich erlaubt, schwach zu sein.
„Ich glaube, ich weiß, was das ist, das du nicht mehr kannst. Kannst du es mir trotzdem selbst sagen? Es hilft, wenn du es aussprichst."
Er schluckt, die Worte wollen nicht raus.
„Lass dir Zeit."
Stille Tränen.

„Von dem Moment an, in dem wir anfingen, eine Gruppe zu sein, war ich der Leader, der Sprecher, der Verantwortliche für einfach alles. Da war ich 17 Jahre alt. ... Tina, was hast du gemacht, als du 17 warst?"

Ich muss kurz überlegen.
„Ich habe zu Hause gewohnt, mich von meiner Mutter bekochen, be-waschen und bemuttern lassen, bin in die Schule gegangen, hatte keinen Plan, was ich aus meinem Leben machen will und zu den wenigsten Dingen in dieser Welt eine Meinung. Verantwortung? Hatte ich eigentlich keine, außer für meine Meerschweinchen. Und ab und zu mal Rasen mähen. Und - nein - auch aus heutiger Sicht würde ich vieles anders machen, aber ganz bestimmt nicht mit dir tauschen wollen!"

„In unserer Kultur ist es normal, früh Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und sich einer Vielzahl von gesellschaftlichen und familiären Regeln und Normen unterzuordnen. Ich habe mich nie gegen diese Rolle und diese Verantwortung aufgelehnt. Aber ich habe oft darunter gelitten und mich oft überfordert gefühlt. Auch meinen hohen IQ habe ich nicht immer nur als Segen empfunden, denn er zieht automatisch eine Erwartungshaltung nach sich. Meine Eltern haben das nie von mir gefordert, aber Lehrer und Co. haben erwartet, dass ich IMMER schlau und schnell und gut BIN, einfach weil ich es KÖNNTE. Es gibt bei Youtube jede Menge Beispiele, wie ich albern sein kann. Aber noch viel mehr gibt es den vernünftigen, den souveränen, den verantwortungsbewussten, den erwachsenen, den reifen, den klugen, den ach-was-weiß-ich-tollen Rap Monster, RM, Kim Namjoon, der kein Messer grade halten oder tanzen, aber ansonsten ALLES kann. Angeblich.
Bei 'Burn the stage' habe ich versucht, dieser Rolle etwas zu entkommen. Indem ich es ausgesprochen habe. Indem ich gezeigt habe, wenn ich mit meiner Weisheit am Ende bin. Zum Beispiel, als Guk halb bewusstlos fast von der Bühne gekippt ist. Für ihn und seine Gesundheit hätten wir abbrechen müssen. Für die Fans und den Vertrag mussten wir irgendwie weitermachen. Das hat mich schier zerrissen, ich wollte diese Entscheidung nicht treffen müssen. Geholfen hat mir diese Ehrlichkeit nur bedingt, denn die Wahrnehmung war daraufhin: ah, er ist ja so ein toller Leader! Er denkt an alles!
Und jetzt klemmen wir hier in eurem Haus fest, und ich kann nichts dran ändern! Es ist eine riesige Last für euch, eine riesige Verantwortung, die Enge, die Unsicherheit. Hätte ich doch am Flughafen gelassener reagiert. Hätte ich doch intensiver nach einem Hotel gesucht. Hätte ..."

„Stoooop, Namjoon! Stop! Kein 'hätte' mehr. Das ist ein Befehl! Stell dir doch bitte mal vor, Du hättest gelassen reagiert, ihr würdet jetzt am Flughafen oder in der Stadt in irgend einem Hotel sitzen. Es wäre ein Geisterhaus, denn keine anderen Gäste und nur das nötigste Personal wären da. Ihr bekämt Standardessen, eine Erklärung der Radiomeldungen nur auf Nachfrage, das ständige Gefühl, dass ihr schuld daran seid, dass die Angestellten nicht zu Hause sein können, und keine Beschäftigung außer euch selbst. Ihr wärt längst ALLE durchgedreht, und vielmehr als hier. Jimin wäre vielleicht inzwischen in einem Krankenhaus, an der künstlichen Ernährung hängend, alleine ohne euch, ohne die Möglichkeit zu kommunizieren. Ich glaube, ich würde lieber verhungern, als das zuzulassen. Ihr seid das Wertvollste, das mir seit Jahren passiert ist, und ich werde das hier durchziehen bis zu egal welchem Ende!!!!!!!!"
Süß. Er ist einfach nur süß, wenn er so kullerrunde, staunende Augen macht. Allerdings sehen die heute dabei trotzdem viiieeeel zu traurig aus.

„Danke! Ich weiß das. Und das ist eine so große Ehre für uns und gibt uns so viel, dass wir hier sein dürfen. Ihr seid ein riesengroßes Geschenk für uns!"
Ich schüttele den Kopf.
„Aber???"
Diese Frage ist in den letzten Tagen eindeutig zu oft gestellt worden ...
„Ich halte es einfach nicht mehr aus, dass hier nichts ohne mich geht. Wir sind inzwischen alle recht geschickt darin, die Übersetzungsprogramme zu händeln und zwischen den Zeilen zu lesen und den Sinn zu erraten und Missverständnisse zu riechen und überhaupt. Aber sobald etwas in die Tiefe gehen soll, sind es wir Zwei. Du und ich. Wir nehmen Rücksicht auf alles und jeden. Wir werden noch Weltmeister im Dolmetschen. Aber auf die Weise wissen und fühlen wir auch alles mit, was irgendjemand hier im Haus angeht. Wir müssen jedes Gefühl, jede Angst, jeden Streit an uns ranlassen. Es ist mir völlig schleierhaft, warum du immer noch so geduldig und einfühlsam und kompetent auf alles eingehen kannst. Vier von uns sind schon aus den Latschen gekippt, und jetzt komme ich noch obendrauf. Eigentlich dürfte ich dich nicht auch noch mit mir belasten, ich müsste das mit mir ..."

„Schon wieder: Stop! Namjoon, das ist Unsinn. Was habe ich davon, wenn du heimlich, still und leise zusammenbrichst, und ich weiß es nicht??? Nichts! Ich MUSS das wissen. Und jetzt sage ich dir was: du wirst morgen aufhören, den Starken zu geben, du wirst den anderen erzählen, wie es dir geht, du wirst dir die Auszeit nehmen, zu der du jedes Recht hast. Und die anderen kriegen mal Probleme-hab-Verbot. Das wird doch wohl mal einen Tag lang funktionieren! Wir machen einen jeder-redet-für-sich-selbst-Tag, und du kriegst Übersetzungsverbot. Wer auch immer mit mir reden will, muss das ohne dich hinkriegen."

„Bist du jetzt sauer auf mich?"
Irritiert schaue ich ihn an.
„Hä? Wieso auf dich???"
Er schaut auf seine unruhigen Hände.
„Weil du dich grade offensichtlich aufregst."
Tja, ich offenes Buch ...
„Natürlich bin ich NICHT auf DICH sauer. Ich ärgere mich über die Situation. Und ich ärgere mich auch über mich selbst, dass ich es nicht hab kommen sehen. Auch ich habe Deine Dienste zu selbstverständlich hingenommen."
Ich sehe an seinem Gesicht, dass er protestieren will, aber das würge ich gleich ab.
"Namjoon, letzten Endes ist jeder Mensch für sich selbst verantwortlich. Also bin auch ich dafür verantwortlich, was ich tue oder lasse. Ob ich ein Gespräch führe oder nicht. Wie ich kommunizieren will und mit wem. Ich habe genauso wie die anderen immer selbstverständlich darauf gebaut, dass du übersetzt. Es ist aber nicht deine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass wir anderen keine Mühe haben. Nein, versuchs gar nicht erst, du weißt, dass ich Recht habe! Und: wenn ich überfordert bin mit einer Situation, dann liegt das auch in meiner Verantwortung. Das muss ich selbst merken und rechtzeitig reagieren. Wenn überhaupt, dann ist Markus mein Seelenwächter. Er merkt manchmal vor mir, dass ich an der Grenze bin, und macht mich dann darauf aufmerksam. DU bist jetzt mal nur noch dafür verantwortlich, dass DU in dieser Situation nicht untergehst. Du bist jetzt zu mir gekommen, also können wir für dich sorgen, damit es dir wieder gut geht. Deine Funktion als Leader heißt nicht, dass du um der anderen willen dabei drauf gehen sollst."

„Aber ich muss doch ..."
Arrrrgh!
„Namjoon. Loooooslassen!"
Ich würde ihm am liebsten das eingebläute Verantwortungsgefühl aus dem Kopf rütteln. Er lächelt.
Schon besser ...
Er schließt die Augen. Beugt sich vor. Schweigt. Seine erneuten stummen Tränen kann ich nicht deuten. Erschöpfung? Verzweiflung? Vielleicht doch Erleichterung? Habe ich schon erwähnt, dass ich längst im ganzen Haus Tatü-Boxen verteilt habe für die viel zu vielen Tränen? Ich greife mir die Schachtel neben dem Sofa und schiebe sie in sein Sichtfeld. Er öffnet die Augen, lacht leise, bedient sich. Er schaut mich an, stutzt, schiebt die Schachtel zu mir. Ich ... weine auch, und ich hab es selbst gar nicht gemerkt. Und dann lehnt er sich wieder mit der Stirn gegen meine. Ich fühle mich ihm unendlich nah, im Geiste tief verbunden, zusammen geschweißt in der Verantwortung für dieses surreale Projekt „Warten auf Biblis". Oder sollte ich sagen:"Warten auf Godot?" Auf zwei Gehirne, zwei Herzen und vier Schultern verteilt ist das alles jedenfalls viel erträglicher, auch wenn es im Moment furchtbar weh tut.

„Weißt du, was komisch ist?"
Er spricht auf einmal mit viel leichterer Stimme.
„Nein?"
Er macht sein lustiges 'kchchchch'-Lachgeräusch.
„Dass du im Gegensatz zu fast allen anderen Menschen nicht vor Ehrfurcht in die Knie gehst wegen meinem blöden IQ von 148."
Steilvorlage...
Ich richte mich auf und sehe ihn an.
„Dass könnte daran liegen, dass MEIN blöder IQ bei 145 liegt."
Sein Gesicht! Ich kann nicht mehr, ich schmeiß mich weg.
„Und ich glaube, du weißt, was ich meine, wenn ich sage: ich genieße es, mich mit dir zu unterhalten, weil wir einfach auf Augenhöhe sind. Man ist ja damit kein besserer oder wichtigerer Mensch. Aber wir IQ-Zombies ticken eben manchmal anders. Nur darf man das nie sagen, weil man dann sofort arrogant rüberkommt. Wir sind nicht arrogant, wir kennen 'es' und uns selbst einfach nicht anders. Unser Hirn fragt und fragt und fragt und ... Wir können das gar nicht abstellen! Und ich finde, wir dürfen es genießen, wenn uns mal eine geistige Herausforderung gegenüber sitzt."

„Ganz genau! Ich kann erstens nichts dafür, dass ich so schlau bin. Und ich bin zweitens durchaus geerdet, was das angeht. Denn es gibt dafür viele andere Sachen, die ich überhaupt nicht kann. Ich bin so dankbar, dass das in unserer Gruppe nie ein Thema war, nie Neid hervorgerufen hat. Dass wir uns so gut ergänzen. Ich kann wirklich keinen einzigen von uns wegdenken. Aber wenn ich meinen Kopf mal ganz ausreizen will, dann muss ich zu irgendwelchen Philosophen greifen. Da kaue ich wirklich lange drauf rum."

Dieses Gespräch nimmt eine lustige Wendung. Nur hochintelligente Menschen unter sich finden so ein Gespräch normal. Vor allen anderen würden wir das nie aussprechen.
Wir schauen uns einen Moment lang tief in die Augen - und brechen in schallendes Gelächter aus. Er muss gar nichts sagen. Er hat grade genau das selbe gedacht wie ich. Und das tut guuuut!

Ob er gleich sehr geschockt sein wird?
„Ähm, Namjoon, um ehrlich zu sein - die meisten modernen deutschen Philosophen sind mir sowas von egal. Ich finde es beeindruckend, dass sich ein junger Koreaner die Mühe macht, sich durch Kafka, Hesse und Nietzsche zu quälen, was ich als Muttersprachlerin schon niemals tun würde. Für mich sind alle drei nur depressive alte Säcke, die irgendwie versuchen, ihre verkorkste Kindheit zu verarbeiten. Aber immerhin ist es dein Verdienst, dass deutsche Jugendliche überhaupt auf einmal wieder echte Literatur lesen."
Tädäää - und wieder diese kugelrunden Augen.
„Ich mag andere klassische Autoren einfach lieber. Oder zum Beispiel Kant und Hegel. Die sind positiver. Und die sind auch meinen Werten als religiöser Mensch einfach näher. Ich gehöre definitiv nicht zu den Frommen, die die Bibel wortwörtlich nehmen. Aber Gott ist eine lebendige Konstante in meinem Leben, ein echtes Gegenüber. Und nicht eine Projektion meiner Bedürfnisse in die Wolken á la Schleiermacher."

Eine ganze Weile reden wir noch weiter über Gott (oder auch nicht) und die Welt, die Philosophie und Religionen, über das Leben und uns selbst mittendrin. Wir genießen es, ganz wir selbst zu sein. Und Namjoon entspannt sich sichtlich. Endlich ist die Trauer aus seinen Augen verschwunden.

Kurz googelt er was und schreibt dann.
PLING:"Ich muss nicht unbedingt ans Meer. Mit Dir an meiner Seite kann ich auch auf einen Eimer Wasser blicken und fühle mich wohl."
Ach, könnte ich ihm doch nur zeigen, WIE gut sich das grade anfühlt!
Namjoon geht nach einer herzlichen Umarmung ins Bett. Und ich schicke ihm noch ein PLING hinterher:"Freundschaft ist, wenn man nichts sagen muss und der andere trotzdem weiß, was man denkt."

Dann hake ich auf meiner inneren Katastrophen-Liste seufzend einen weiteren lieben Menschen ab. Bleiben noch Hoseok und Taehyung. Und ich glaube nicht mehr daran, dass die beiden unbeschadet bis zum wann-auch-immer-Ende durchhalten werden.

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6.11.2018 - 20.4.2019 - 28.10.2019
26.3.2020

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