22. Treffpunkt
Als ich zum Treffpunkt kam, an dem schon drei Busse warteten, war der Parkplatz noch menschenleer. Bloß vereinzelt standen kleine Schülergruppen herum und zwei Lehrer halfen den Busfahrern, die Koffer der schon anwesenden Schüler in den Gepäckraum der Busse zu stapeln. Auf einer Bordsteinkante am Rand des Platzes konnte ich Mik erkennen, der mir, als er mich sah, kurz zuwinkte. Ich nickte ihm zu als Zeichen, dass ich ihn gesehen hätte und ging dann zu unserem Klassenlehrer, bei dem Tobi schon stand.
»Morgen«, nuschelte ich und schlug mit meinem besten Freund ein.
»Seit wann bist du da?«, wollte ich wissen.
»Gerade gekommen. Hab meinen Koffer schon weggebracht und mich jetzt als anwesend gemeldet. Da hinten ist auch Mik.«
Ich nickte.
»Ja, hab ich schon gesehen. Weißt du, wie lange die Fahrt dauert?«
Tobi zuckte bloß mit den Schultern, doch in diesem Moment schaltete sich unser Lehrer ein:
»Gute vier Stunden werden wir unterwegs sein. Wir werden aber ein, zwei kleine Pausen an Raststätten machen. Ich habe Sie beide notiert, bleiben sie bitte bis zur Abfahrt auf dem Parkplatz.«
Wir beide nickten, bevor Tobi wie selbstverständlich nach meiner Tasche griff und sich wortlos auf den Weg zu einem der Busse machte. Ich folgte ihm und wollte ihm mein Gepäck wieder abnehmen, doch er lehnte sofort ab. Freundlich lächelnd wie eigentlich immer übergab er die große Reisetasche an den Fahrer, der sie im Gepäckraum verstaute. Ich wunderte mich immer wieder, wie Tobi, trotz all dem Scheiß, der ihm immer wieder widerfuhr, so viel Fröhlichkeit ausstrahlen konnte. Er war fast immer am Lächeln und seine gute Laune war fast schon ansteckend. Ich konnte durchaus verstehen, was so viele Alpha an ihm fanden, er war wie die meisten Omega klein und zierlich und hatte ein sehr hübsches, filigranes Gesicht. Ich würde ihn tatsächlich zu den hübschesten Leuten aus unserer Klasse zählen und seine fröhliche Ausstrahlung machte ihn noch liebenswerter. Für mich wäre schon das Grund genug, sie abzulegen, doch Tobi war da anders. Früher wurde mir oft gesagt, dass ich mindestens genauso gut aussähe, wie Tobi, aber seitdem ich mir das Gesicht aufgeschnitten hatte, hatte sich niemand mehr zu meinem Aussehen geäußert. Und gerade das machte mir klar, dass ich es tatsächlich mit drei mehr oder weniger tiefen Schnitten geschafft hatte, meine gesamte Attraktivität zu zerstören. Es hatte den Vorteil, dass ich mich wohl nie würde binden müssen, denn niemand würde jemanden wie mich, der weder mit Aussehen noch mit Charakter lockte, wollen, allerdings hieß das noch lange nicht, dass ich von da an meine Ruhe hatte, wie ich gehofft hatte. Natürlich war der Traum von Ruhe geplatzt, mir wurde ziemlich schnell klar gemacht, dass dem nicht so war und mein entstelltes Aussehen Leute wie Max keineswegs abschreckte. Die Übergriffe hatten tatsächlich erst fast vollkommen aufgehört, seitdem Tim mir geholfen hatte und mich in gewisser Weise in Schutz nahm. Seitdem hatte es kaum noch Versuche von Max gegeben, mir nahezukommen, auch wenn ich immer noch glaubte, dass er bloß auf eine Chance wartete. Er schien deswegen echt sauer auf seinen Bruder zu sein und fast schon auf Rache zu sinnen. Und am besten konnte er seinen Bruder wohl eins auswischen, wenn er es trotz Tims Achtsamkeit schaffen würde, ein weiteres Mal an mich heranzukommen. Der Gedanke machte mir, auch wenn ich es nicht zeigte, Angst. Aber jedes Mal, wenn ich daran dachte, verdrängte ich diese Angst einfach und freute mich, dass es in meinem Leben momentan so viel besser lief als zuvor. Natürlich hatten Mik und Dennis auch immer tapfer versucht, die Alpha von mir und Tobi fern zu halten und viele schreckte die Anwesenheit der Beta tatsächlich ab, jedoch nicht alle. Erst seitdem Veni und Tim zu unserer Gruppe gestoßen waren, hatten tatsächlich einige Alpha Respekt bekommen und die Übergriffe fast aufgehört. Ich freute mich deswegen jeden Tag und natürlich auch für Tobi, der zwar nicht so oft missbraucht worden war wie ich, jedoch auch ab und zu unter den Übergriffen der Alpha hatte leiden müssen. Er war vom Auftreten her sehr ruhig, hatte es einfach über sich ergehen lassen und sich nicht gewehrt, wenn erneut welche der Alpha über ihn hergefallen waren. Im Nachhinein jedoch war er jedes Mal zusammengebrochen und war nahezu verzweifelt und hoffnungslos gewesen. Ich wusste, dass es auch für mich das Beste gewesen wäre, einfach wehrlos alles über mich ergehen zu lassen, denn gerade mein Widerstand schien mich für die Alpha so interessant zu machen. Aber ich konnte einfach nicht. Ich konnte es nicht einfach über mich ergehen lassen, wenn ich von fremden Alpha angefasst wurde, wenn sie mir zwischen die Beine griffen und mich zu Dingen zwangen, die ich verabscheute, konnte nicht einfach zusehen, wie sie meinen besten Freund vergewaltigten. Ich konnte es einfach nicht, also wehrte ich mich. Jedes Mal, jeden Tag aufs Neue. Umso froher war ich, dass ich jetzt halbwegs Ruhe hatte und größtenteils nicht mehr mehr als Blicke und anzügliche Worte ertragen musste. Und auch, wenn der ein oder andere Alpha es immer noch versuchte, hatte bisher keiner mir wirklich etwas tun können. Jedes Mal waren Mik, Dennis, Tim oder Veni dazwischen gegangen. Und natürlich freute ich mich nicht nur für mich selbst, fast genauso froh war ich, dass Tobi einen Alpha gefunden zu haben schien, der ihn wirklich mochte und nur das Beste für ihn wollte. Denn inzwischen glaubt eich veni, was das anging. Ich hatte die vielen gierigen Blicke gesehen, die meinem besten Freund immer wieder zugeworfen worden waren, wusste, wie viele Alpha gerne an Venis Stelle gewesen wären.
Meine Gedanken wurden von Tobis leise lachender Stimme unterbrochen.
»Was lächelst du so?«
Ich sah ihn verwundert an, mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich lächelte. Ich hatte höchstens einen Mundwinkel ein Stück hochgezogen.
»Ach, lächeln. Das war doch kein Lächeln.«, winkte ich ab, doch Tobi ließ nicht locker.
»Ja, natürlich lächeln. Und wie das ein Lächeln war. Du lächelst nur noch so.«
»Wie lächle ich denn«, fragte ich verschmitzt nach und Tobi versuchte es nachzumachen, was uns beide zum Lachen brachte. Immer noch grinsend hielt ich meine rechte Gesichtshälfte. Inzwischen hatte ich mich an das Brennen der Narben gewöhnt und langsam kam es mir so vor, als würde er auch abklingen, doch wenn ich wie beim Lachen das Gesicht verzog, machte der Schmerz sich sofort wieder bemerkbar.
»Ob ich wohl je wieder ohne Schmerzen lachen werde können?«, überlegte ich laut, woraufhin Tobi mich nachdenklich traurig musterte.
»Ich glaube schon. Bei was tut es denn weh alles?«
»Eigentlich immer ein bisschen, aber es wird besser. Wenn ich spreche und die Haut sich bewegt ist es schlimmer, wenn ich mein Gesicht ganz ruhig halte, besser. Bei starken, unkontrollierbaren Bewegungen wie Lachen tut es noch Mal mehr weh.«, erklärte ich wahrheitsgemäß und Tobi nickte betroffen.
»Egal. Hi, Mik«, winkte ich ab und begrüßte unseren Freund, vor dem wir inzwischen standen, mit Handschlag, bevor ich mich neben ihn auf die Bordsteinkante setzte. Die nächsten Minuten sagte ich kein Wort, während Tobi und Mik ab und zu ein paar Worte wechselten, beobachtete bloß stumm das Kommen unserer Mitschüler. Als ich irgendwann einen seitlichen Blick auf Mik warf, starrte er mit leerem Blick zu Boden, während er gedankenverloren mit den Fingern die Linien nachfuhr, die in seinen fast schwarzen Undercut rasiert waren. Er wirkte ziemlich nachdenklich, irgendwie traurig und wieder einmal wurde mir bewusst, dass ich nicht der einzige Mensch auf dieser Welt war, bei dem nicht immer alles super lief.
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An Stegis Eltern:
Was denkt ihr euch eigentlich bei Stegis Wunden im Gesicht?
Es ist schlimm, dass er sich selbst so entstellt hat.
An Tim:
Könntest du dir eine Scheinbeziehung mit Stegi vorstellen, damit er nicht obdachlos wird?
Wieso würde er dann nicht obdachlos werden? Jeder Omega muss an seinem 18. Geburtstag ausziehen, ob gebunden oder nicht. Von daher wäre eine Scheinbeziehung sinnlos.
Freust du dich, dass Stegi dir nicht mehr misstraut?
Und wie. Ich kann nur Ahnen, wie groß seine Angst vor uns Alpha sein muss.
An Tobi:
Wann und wer hat dir das erste Mal seinen Willen aufgezwungen?
Vor drei Jahren ungefähr. Einer von Max' Freunden.
Wie riecht Veni?
Irgendwie nach Wald. Ich liebe seinen Geruch.
An Veni:
Wie riecht Tobi?
Es hat ein bisschen etwas von Lavendel. Aber noch ganz viel anderes.
An das System:
Wodurch wird bestimmt, ob man Alpha/Beta/Omega ist?
Das ist von Geburt an festgelegt. Ähnlich wie das Geschlecht.
An die Evolution:
Was hältst du von den ganzen Regelungen über die Omega? Ist es nötig oder sollte man es bleiben lassen?
Das ist Sache des Staats. Aber ohne diese Regelungen würden wohl viel weniger Omega sich binden und dementsprechend die Menschheit irgendwann aussterben.
An alle:
Wie ist euer Verhältnis zu euren Eltern?
Stegi: Naja. Sie sind den ganzen Tag nicht Zuhause
Tobi: Nicht so gut.
Tim: Okay.
Veni: Nicht gut.
Max: Gut
Dennis: Sehr gut.
Mik: Besser als bei vielen anderen.
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