15. Hilfe
Ich kniff die Augen zusammen, wollte alles um mich ausblenden, Max ausblenden, die Schmerzen ausblenden. Ich wartete nur noch auf weitere Schläge, weitere Tritte. Der Alpha über mir lachte höhnisch, dann spürte ich Nässe an meinem Gesicht. Mit einem Ärmel meines Pullis wischte ich darüber. Spucke, am Rand etwas Blut. Max hatte mich angespuckt. Wieder lachte er und hätte mir nicht alles weh getan, wäre ich jetzt aufgestanden, hätte mich zur Wehr gesetzt und Widerstand geleistet. Aber mein Widerstand war gebrochen. Ich konnte nicht mehr. Ich wollte einfach nur, dass Max verschwand. Selbst die Angst war verschwunden. Irgendwo im Hintergrund konnte ich Geschrei hören. Rufe. Rufe, dass Max mich in Ruhe lassen solle. Wieso? Wozu? Es war doch eh sinnlos. Sinnlos, hoffnungslos. Mein ganzes Leben war sinnlos und hoffnungslos. Ein Teil von mir schrie danach, dass Max endlich einmal ganze Sache machen solle. Dass er endlich zu Ende bringen solle, was er schon so oft angefangen hatte. Dass er dem ganzen endlich ein Ende setzen solle. Erneut ein Tritt in den Magen, erneut krümmte ich mich zusammen. Ich zwang mich, die Augen zu öffnen. Ich würde nicht aufgeben. Mein Peiniger kniete nun direkt vor mir. Mit einer Hand drückte er meine Schultern nach unten. Vollkommen überflüssig. Ich konnte mich eh kaum mehr bewegen. Und immer noch, obwohl er kniete, sah er auf mich hinab. Er würde wohl immer auf mich hinabsehen. Jeder würde immer auf mich hinabsehen. Ich wartete, erwiderte stumm seinen Blick, wartete bloß auf den nächsten Schlag. Stattdessen entfernte sich von einem Moment auf den anderen seine Gestalt von mir. Ich blinzelte. Tim. Tim stand da, Tim hatte Max von mir weg gezogen. Er wirkte wütend, so wütend. Wieso sahen die beiden sich so ähnlich? Die gleichen Gesichtszüge, die gleiche Statur. Bloß ihre Haarfarbe verlieh ihnen ein unterschiedliches Aussehen. Und Tims Blick, der um so viel sanfter wirkte als Max' Augen, die immer vor Wut zu funkeln schienen. Aber auch Tims Blick war nicht wie sonst gutmütig, sondern funkelte gefährlich. Gerade sah er Max so ähnlich wie noch nie. Aber gerade jetzt, da Tim seinem Bruder so ähnlich sah, merkte ich, wie anders er doch war. Ich hatte mich in Tim getäuscht. Er war wirklich nicht wie andere Alpha.
»Du bist echt das Allerletzte, Max, weißt du das?«, fauchte der Dunkelhaarige gerade gefährlich. Ich kroch auf die Wand in meinem Rücken zu, bemühte mich, mich daran hochzuziehen.
»Verpiss dich, Kleiner. Das geht dich nichts an. Such dir eigene Angelegenheiten und misch dich nicht in meine ein.«
Tim knurrte wütend.
»Ich habe dir gesagt, du sollst ihn in Ruhe lassen. Stegi ist jetzt meine Angelegenheit. Und du lässt die Finger von ihm.«
Max lachte bitterböse auf.
»Ach, Kleiner. Wenn du wüsstest. Was willst du denn von ihm? Sieh ihn doch an. Seitdem er sich so entstellt hat, ist der doch für nichts mehr zu gebrauchen! Du willst den doch gar nicht haben! Also lass uns in Ruhe unseren Kram erledigen. Hast du gehört, Kleiner?«
Autsch. Max' Worte taten weh. Kraftlos gab ich meine Versuche, aufzustehen, auf, ich schaffte es doch eh nicht.
»Nenn mich noch einmal ›Kleiner‹ und es knallt, Max. Du bist jünger als ich, vergiss das nicht. Du wirst die Finger von Stegi lassen. Und daran«, er deutete auf mein Gesicht. Ich zuckte unwillkürlich zusammen, »bist allein du Schuld.«
Max lachte. Wieder. Warum lachte er eigentlich immer? Und warum war sein Lachen bloß so grauenhaft?
»Ach, Tim. Jünger, älter. Was machen schon ein paar Minuten aus.«
»Anscheinend ja eine Menge. Ich warne dich noch einmal. Leg dich nicht mir mir an. Du willst mich nicht zum Feind haben. Ich weiß eine Menge Dinge über dich, die du nicht an der Öffentlichkeit wissen willst, glaub mir. Soll ich einmal anfangen, zu erzählen? Nein? Dann verpiss dich jetzt.«
»Du vergisst dabei aber eine Kleinigkeit. Nicht nur du kennst Geschichten. Ich kenne dich mindestens genauso gut. Auch ich kann anfangen zu erzählen.«
Dieses Mal war es an Tim, zu lachen. Wie anders sein Lachen doch war. Er wirkte so viel freundlicher und selbst wenn es so spöttisch war wie jetzt gerade, hatte Tim nicht die gleiche Grausamkeit wie sein Bruder.
»Oh ja, Max. Ja, das tust du. Aber weißt du was? Was bleibt dir noch, wenn ich einmal loslege? Ansehen, Freunde? Glaubst du wirklich, irgendwas davon bleibt dir dann noch? Hast du keine Angst davor, auf ein Mal vollkommen alleine dazustehen? Ich habe keinen Ruf zu wahren. Ich habe kein Ansehen zu verlieren. Ich lege keinen Wert auf Meinungen anderer. Und ich habe Freunde, wahre Freunde. Freunde, die auch noch zu mir stehen, wenn du noch so viele Kindheitsgeschichten von mir verbreitest. Und weißt du was? Stegi gehört jetzt zu diesen Freunden. Also lass ihn in Ruhe, oder ich mache dir dein Leben zur Hölle. Wenn du auch nur im Entferntesten versuchst, an einen meiner Freunde heranzukommen, wirst du das bereuen. Das gilt auch und gerade für Stegi und Tobi als Omega. Hast du mich verstanden?«
Max schien äußerlich keine Reaktion zu zeigen, doch ich sah, dass es ihm nicht mehr ganz wohl bei der Sache war.
»Weißt du was? Wir werden noch sehen, wie weit dich diese Schwäche bringen wird, auf die du auch noch so stolz zu sein scheinst. Nimm den Omega, verschwinde von hier. Aber glaub nicht, dass es das gewesen ist. Du wirst nicht immer da sein können, um sie zu beschützen.«
Mit diesen Worten verschwand Max tatsächlich und all seine Kumpanen mit ihm. Mit zwei Schritten war Tim bei mir, kniete sich vor mich. Ich wollte zu sprechen ansetzen, wurde jedoch sofort von einem Hustenanfall geschüttelt. Irgendwann beruhigte sich mein Atem wieder und ich brachte krächzend einen Satz hervor:
»Ich wusste gar nicht, dass ich zu deinen Freunden gehöre.«
Ich lächelte trotz der fast unerträglichen Schmerzen leicht, versuchte, alles auf die leichte Schulter zu nehmen. Ich sah Tims besorgtes Lächeln.
»Tust du. Ich mag dich, auch wenn du das nicht zu erwidern scheinst. Ich hoffe, das wird sich irgendwann ändern.«
Im nächsten Moment spürte ich, wie Tim mir einen Arm um den Oberkörper legte und mich leicht in die Höhe zog, meinen Arm legte er sich um die Schulter. Vorsichtig stand er auf und richtete so auch mich auf.
»Alles klar? Passt es so?«, fragte er besorgt und ich konnte nicht anders, als zu nicken. Wäre ich nicht so kaputt gewesen, hätte ich den engen Körperkontakt des Alpha sicher alles andere als angenehm gefunden. So aber war es mir egal. Ich glaubte irgendwie nicht mehr, dass von Tim große Gefahr ausging, schließlich hatte er mir bis jetzt nicht weh getan, und selbst, wenn er doch wie alle anderen Alpha wäre, würde er mir so zugerichtet, wie ich war, wohl trotzdem nichts mehr tun. Irgendwo zogen auch die meisten Alpha ihre Grenzen.
»Wo- wo ist Tobi?«, kam mir wenige Sekunden später wieder in den Sinn, während Tim mich auf dem Weg über den Hof stützte.
»Er hat mich geholt. Ich habe ihn bei Rafi gelassen. Er schien ziemlich aufgelöst. Und ich dachte, es wäre besser, wenn er nicht zu Max zurückgehen würde.«
Ich nickte erleichtert, was sofort einen stechenden Schmerz durch meinen Kopf pochen ließ. Ich zischte auf.
»Danke.«
Meine Stimme klang gepresst. Tim nickte und lächelte mir sanft zu. Wieder musste ich husten.
»Nicht... Nicht nur dafür, dass du Tobi rausgehalten hast... Auch...«
»Ich weiß, Stegi. Es ist okay. Du brauchst dich nicht zu bedanken. Das ist selbstverständlich.«
Er schien zu merken, wie schwer es mir fiel, nicht nur, weil ich immer wieder von Hustenkrämpfen geschüttelt wurde, sondern auch, weil ich mich kaum überwinden konnte, mir einzugestehen, wie viel ich ihm, einem Alpha, verdankte.
»Nein. Es ist nicht selbstverständlich. Danke, Tim. Danke für alles.«
Die nächsten Minuten waren die reinste Qual, während Tim mich die letzten Meter über den Hof und in das Schulgebäude zog, bis wir vor den Toilettentüren standen. Mein Begleiter stieß mit einem Fuß die Tür auf und zog mich mehr herein, als dass ich noch selber lief. Vorsichtig deutete er mir, mich an den Waschbecken abzustützen, bevor er mich langsam losließ. Ich taumelte kurz, stand dann aber sicher mit dem Halt des Waschbeckens neben mir und der Wand im Rücken. Erschöpft lehnte ich meinen Kopf an die kühlen Fliesen hinter mir und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Ich hörte, wie Tim das Wasser an den Waschbecken andrehte, aber es war mir egal. Ich wollte nur noch schlafen. Einfach all dem hier entkommen.
»Vorsicht. Nicht erschrecken«, warnte mich die tiefe Stimme des Alphas und ließ mich die Augen wieder öffnen, bevor ich die kühle Berührung eines nassen Papiertuches an der Stirn fühlte. Erschöpft ließ ich zu, dass Tim mein Gesicht und vorsichtig auch meine Wunden mit immer neuen Tüchern abtupfte. Die alten landeten im Mülleimer neben mir. Nüchtern stellte ich fest, dass sie rot waren. Kurz erinnerte ich mich an das Blut, das an meinem Ärmel geklebt hatte, als ich vorhin mein Gesicht abgetastet hatte. Sollte ich mir Gedanken machen, dass ich das schon wieder vergessen gehabt hatte? Wahrscheinlich schon, aber trotzdem tat ich es nicht. Ich konnte es mir nicht erklären, aber auf eine merkwürdige Art ging das alles an mir vorbei, ich nahm es alles nur hin. Es war mir egal.
Ebenso zuckte ich jetzt nur teilnahmslos mit den Schultern, als Tim mir erklärte, dass meine Wunden wieder aufgerissen wären. Der Alpha bedachte mich nur mit einem undefinierbaren Blick. Gerade warf er das letzte Tuch mit einem »So« weg und wusch sich die Hände, an denen tatsächlich mein Blut klebte. Er schien zu überlegen, während er mich ansah, dann kam er einen Schritt auf mich zu. Ich bekam mit, wie seine Hände sich zu mir bewegten, an meinen Pulli griffen, aber es war mir egal. Ich musste wirklich vollkommen neben mir stehen. Sonst hätte ich wohl niemals einen Alpha so nah an mich rangelassen.
Tim sah mich fragend an.
»Darf ich?«, flüsterte er fast schon und ich nickte. Warum nickte ich? Vorsichtig hob Tim meinen Pulli ein Stück an, sah mir dabei fest in die Augen, wie um festzustellen, ob es auch okay wäre. Und das war es. Ich wusste nicht warum, aber es war okay für mich. Wahrscheinlich, weil er mir geholfen hatte. Kurz zuckte ich vor Schmerz zusammen, als Tims Finger meinen Bauch streiften, sofort zog er sie entschuldigend zurück. Erst als mein Oberteil bis zu meiner Brust hochgezogen war, löste er seinen Blick von meinen Augen und richtete ihn auf meinen Oberkörper. Scharf zog er die Luft ein. Auch ich sah an mir runter. Mein gesamter Oberkörper begann gerade, sich in den verschiedensten Farben zu färben. Kurz gesagt sah es genauso beschissen aus, wie es sich anfühlte. Tim sah mich fassungslos und schien nach Worten zu suchen. Gerade machte er den Mund auf, als die Tür hinter uns aufflog.
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An den kleinen Jungen:
War das eine völlig neue Situation für dich mit Max und seiner Gang, oder musstest du das schon öfters durchmachen, dass sie dir Sachen wegnahmen?
Es ist davor erst zwei Mal passiert. Da hat mir aber niemand geholfen.
An Stegi:
Würdest du dich für Tobi oder auch andere Omega Aufopfern wenn wieder eine Gruppe an Alphas ankommt?
Versuchen ja. Schließlich scheinen Max und seine Leute aus irgendeinem Grund ein riesen Interesse an mir zu haben. Aber ich glaube nicht, dass ich etwas bewirken könnte.
Glaubst du inzwischen immer noch daran, dass die deine Selbstverletzungen geholfen haben/helfen werden?
Es scheint sich kaum etwas verändert zu haben. Das Einzige, das aufgehört hat ist dieses ekelhafte »So ein hübscher Omega« von Max. Aber dafür gibt es ja jetzt auch keinen Grund mehr.
An Veni und Tim:
Wie findet ihr Stegi? Was haltet ihr von seinem Auftreten als »aufmüpfiger« Omega, der oft dann den Kürzeren zieht?
Veni: Ich bewundere Stegi für seine Stärke. Aber damit macht er sich für viele Alpha nur noch verlockender. Man kann bloß hoffen für ihn, dass er irgendwann den richtigen für sich findet und dann nicht abblockt.
Tim: Ich würde ihm gerne helfen. Es scheint ihm lange nicht so gut zu gehen, wie er immer vorgibt. Er hat unglaubliche Angst vor jedem Alpha.
An Veni:
Wie stehst du zu Max und seinem Verhalten gegenüber Omega, insbesondere Stegi?
Ich finde das einfach unmöglich. Die Omega sind nicht sein Eigentum!
An Max:
Waren deine Eltern auch so?
Sie sind auf jeden Fall nicht so verweichlicht wie mein Bruder.
An Tobi und Stegi:
Wie seit ihr eigentlich Freunde geworden? Kam das einfach, weil ihr in der selben Situation seit oder steckt da mehr dahinter?
Stegi: Wenn wir mit jedem in unserer Situation befreundet wären wären wir wohl ziemlich beliebt. Das ist die Situation, in der so ziemlich jeder Omega steckt. Zumindest bei Tobi. Auf mich scheinen sie es fast noch mehr abgesehen zu haben.
Tobi: Wir haben uns als Schulanfänger schon kennen gelernt und einfach gut vertragen. Ohne größeren Hintergrund. Kennen uns aber jetzt schon ewig.
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