Sie sind wieder da

29. August 2019

Als ich heute aufwachte, bemerkte ich etwas.

Ich war alleine!

Aber was ist passiert in den letzten zwei Wochen meiner Einsamkeit? Mein Bruder ist wieder da. Ja, samt Eltern und allem drum und dran. Nur ohne seinen Dickdarm. Und er ist nerviger denn je. Das genaue Interview kommt demnächst noch. Das Skelett kann nur noch auf Krücken gehen, weil seinen Beinen die Kraft fehlt. Außerdem haben sie ihm ein Dünndarmende an seine Haut genäht, damit die ganze Scheiße raus und in einen Sack an seiner Hüfte fällt.

Eklig.

Der Abwasch ist jetzt größer als je zuvor. Jedes mal, wenn ich die die Küche komme, blockiert wieder ein neuer Haufen Geschirr den Ausguss. Denn wie eine Schwangere verlangt er das unmöglichste an Essen. Morgens verlangt er nach Waffeln, mittags schreit er nach Pfannkuchen und abends jammert er nach Milchreis. Und da es dem armen Gewurm ja so schlecht geht, macht ihm Mama alles, was er will, solange wir Zutaten im Haus haben.

Deswegen gibt es im Moment so unglaublich viel Geschirr in der Spüle.

Außerdem dreht sich alles nur noch um ihn.

Ist nicht so schlimm, dass bin ich gewöhnt. Seit er im Babyalter das Pfeifische Drüsenfieber hatte, ist er ständig krank geworden und ich musste an Aufmerksamkeit zurück stecken. Und da ich zum Leid der Götter sehr genügsam bin, setzte ich mich dann meistens zum Spielen in eine Ecke und wartete, bis die Erwachsenen mich bemerkten. Das war mir nie aufgefallen, geschweige denn richtig bewusst geworden. Ich tat es einfach.

Später, als wir in die Schule kamen, kümmerte sie Mama wieder hauptsächlich um ihn und seine Hausaufgaben, weil er sich seeeehr schwer damit tat und wenn Mama ihm nicht bei jedem Wort im Nacken saß, dann tat er es nicht. Manchmal saßen sie stundenlang an einen einzigen Satz, in denen er wie ein träger Schluck Wasser in der Kurve auf dem Stuhl hing und gewartet hat, dass sonst was passierte.

Ich hatte nie bemerkt, dass ich immer zu kurz kam. Zwar war 'Das ist unfair' eine alte Predigt von mir und ich fand immer mal wieder, dass ungerecht behandelt wurde und er viel mehr durfte, als ich. Aber erst vor einiger Zeit kam die Erinnerung an die damalige Zeit zurück.

Kennt ihr das?

Plötzlich macht es Klick und man erinnert sich wieder, wie es wirklich war.

Vorgestern waren wir im Kino, zu Ehren seiner Entlassung trotz Hindernissen. Wir guckten den neuen Teil Fast&Furios und schon an der Kinokasse ging das Desaster los. Nach 2 Wochen alleine sein habe ich mich gefreut, dass ich auch mal wieder was von meinen Eltern habe. Während wir uns mit Popcorn und allen Getränken auf den Weg zur Treppe machten, gingen meine Mutter und mein Bruder wieder zurück zur Kasse. Also ging ich neugierig hinterher und fragte, was sie noch kaufen wollten.

Es war Slusheis für meinen Bruder.

Aber das schlimmste war, Mama hat abgezähltes Geld mit zur Kasse genommen. Den Rest hatte Papa. Und sie hat nur an ein Eis gedacht! An eins! Nicht an zwei, für jeweils auch zwei Kinder! Es war verdammt nochmal nur ein Eis! Diese Unterhaltung hatten wir schon ein paar mal im Kino, weil das Skelett immer Slusheis verlangt und es auch bekam und ich nicht, weil ich mich mit dem begnügte, was ich hatte!

Und das ist ein schwerer Fehler meiner Matrix.

Das war immer schon so. Er bekam auch die cooleren Spielzeuge, weil er immer danach verlangt hat. Er wollte immer unbedingt das und nichts anderes! Bis er es sich kurz vor seinem Geburtstag anders überlegte und das andere haben wollte! Und ich war froh, wenn ich mit meinen Geschenken spielen konnte. Zwar habe auch ich ständig Listen erstellt, was ich gerne hätte, aber nur wenig davon habe ich inzwischen.

Er bekam die coolen Sachen, wie LEGO. Ich, als Mädchen, bekam langweilige rosa Schals und eine CD über die Sicht der Katze.

Wären wir Vögel, wäre er das überlebensfähigere Jungtier, das laut und zeternd nach Essen verlangt, während ich verhungern würde.

Und jetzt hatten sie mich wieder vergessen. Nach zwei Wochen ohne mich haben sie nur für ihn ein Eis gekauft und wunderten sich danach, dass ich mies gelaunt war.

Und heute morgen wachte ich auf und war alleine!

Komplett alleine!

Nicht mal der Hund, den ich gestern Abend hoch in mein Zimmer genommen habe, war noch da. Der Schlawiner hatte sich ins Schlafzimmer verzogen, wo er früher geschlafen hatte. Aber alle Menschen in diesem Haus haben sich das Auto geschnappt und sind verschwunden!

Ich ahne auch, wohin.

Ins Krankenhaus.

Und das, ohne mich zu benachrichtigen! Keine Whatsapp, keine Nachricht am Flurspiegel, kein Zettel auf meinem Platz am Esstisch.

Nichts!

Ich war alleine. Mit einem Hund, der fürs Gassi noch raus musste.

Normalerweise, wenn ich weiß, dass ich vor der Schule mit dem Hund raus muss, stelle ich mir den Wecker um 5 Uhr, damit ich genug Zeit für den Hund habe und rechtzeitig fürs Duschen und mich fertig machen zurück bin. Da mir aber niemand irgendetwas gesagt hat, musste ich mich schnell abmühen.

Manch einer würde jetzt fragen, wieso ich meinen Eltern nicht sage, was ich fühle.

Weil es nichts ändern würde. Mein Vater muss ständig arbeiten und arbeitet er nicht, ist er auch nicht da. Mama vergleicht ihn immer mit einem pustigen Kater. Der bleibt auch nie zuhause bei seinem Wurf. Und er hat null Einfluss auf das, was bei uns so passiert.

Und meine Mutter hat so schon viel zu tun. Sie muss sich um das Pflegegeld des lebenden Skeletts kümmern, muss dafür sorgen, dass er seine Drogen nimmt, den Haushalt führen, Essen machen, ständig mit den Ärzten und Krankenhäusern telefonieren ...

Und jetzt ist sie wieder für Tage im Krankenhaus, um meinen lebensunfähigen Skelettbruder zu bewirten. Der ist heute morgen nämlich ins Krankenhaus gekommen und per Helikopter weiter nach Heidelberg. Und meine Eltern sind mit dem Auto hinterher.

Und ich?

Im übrigen und was ich richtig mies finde, meine Tante wurde, wie ich nachher erfuhr, um drei Uhr nachts, als meine Eltern los fuhren, per Whatsapp informiert, dass sie wieder im Krankenhaus sind. Ich verstehe es, wenn man in der Hektik vergisst, mir einen Infozettel da zulassen.

Aber zur Hölle, sie hätten mir eine Nachricht schreiben können!

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