Schwestern
22. Mai 2019
Sie nickte und krampfte ihr Lächeln ins Gesicht. Doch sofort schwenkte die Aufmerksamkeit der anderen wieder um. Alice seufzte, sie nippte gedankenverloren an ihrem Getränk und versuchte nicht aufzufallen. Wird ein netter Abend, hatten sie gesagt. Ein paar Freunde, die was trinken gehen, hatten sie gesagt.
Doch sie ignorierten sie fast komplett und sponnen ihre Unterhaltungen ohne sie zusammen. Selbst Stacy amüsierte sich, früher mal ihre einzige Freundin. Alice seufzte noch mal stumm und stellte ihren alkoholfreien Cocktail auf den Tisch zurück. Dann stand sie auf.
,,Ähm ... ich muss ... ich bin ... " Doch ihre zarte Stimme ging unter und so steuerte sie schnell und leise das Klo an. Ob sie merken würden, dass sie fehlt? Ob es sie überhaupt kümmert? Der Club war voll und Alice bahnte sich ihren Weg frei zur genauso vollen Damentoilette.
Dort roch es nach Rauch und Alkohol. Zwei junge Frauen hingen zugedröhnt am Waschbeckenrand und zogen ihre Schminke nach. Eine junge Mutter im Minirock schob ein kleines Mädchen vor sich raus aus der Toilette. Das Kind schien irgendwie so völlig fehl am Platz und so fühlte es sich wohl auch. Alice sah ihnen kurz nach und huschte an einer korpulenten Frau vorbei in die Klokabine.
Das war ja mal ein Abend. Ein schöner Abend, wirklich. Sie hätte einfach zuhause bleiben sollen. Aber als Stacy sie heute morgen aus heiterem Himmel angerufen und gefragt hatte, ob sie gerne mit Freunden was trinken will, war sie voller Hoffung. Hoffnung, die im Laufe des Abends recht schnell verblasste.
Erschöpft legte sie ihren Kopf in die Hände und musste wieder seufzen. Auf der Toilette wurde es ruhiger. Alice stand vom Sitz auf und verließ die Kabine wieder. Es war wirklich ruhig. Niemand war mehr da. Waren sie alle gegangen? Verwundert wusch Alice ihre Hände und musterte sich mit müden Augen im Spiegel. Sie beugte sich ins Becken und klatschte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht.
Dann sah sie wieder auf und erschrak bei ihrem Spiegelbild. Das da war nicht sie!
,,Was willst du? Soll ich dir gratulieren?"
Im Spiegel blickte eine junge Frau mit verdammt ähnlichem Aussehen und einem amüsiert hämischen Blick auf Alice herab. Sie grinste.
,,Was fauchst du mich denn so an? Ich kann doch wirklich nichts dafür, dass dein Abend nicht läuft."grinste Shynia, ,,Ich habe dich nur gewarnt und jetzt stehen wir doch hier."
,,Halt die Klappe."murmelte Alice erschöpft. Es schien, als würde ihr Spiegelbild ihr alle Energie aussaugen.
,,Oh, das stimmt auch." grinste ihr freches Spiegelbild, ,,Wir sind eins. Zwei Seelen, die sich von der Energie eines einzigen Körpers ernähren. Denkst du, das wäre nicht anstrengend?"
,,Wie wäre es, wenn du mich dann einfach in Ruhe lässt, wenn du mich so viel Energie kostest?"fragte Alice genervt und stützte sich am Waschbecken ab, ,,Außerdem bist du nicht echt, also verschwinde aus meinem Unterbewusstsein."
,,Du meinst, wie Debbie und Sara?"
,,Schluss jetzt, ich werde jetzt hier raus gehen und du lässt mich in Ruhe, klar!"
Ohne auf eine Antwort zu warten drehte sich Alice zur Tür und entfernte sich von Shynia. Ihr eigenes echtes Spiegelbild trennte sich von Shynias, die Hexe selber blieb im Spiegel an Ort und Stelle und sah Alice überheblich grinsend nach.
Genervt verließ Alice die Toilette und erstarrte. Der ganze Club war leer. Keine Menschenseele mehr. Der Tisch mit ihren Freunden, leer. Der Tisch mit den beiden grölenden Typen, leer. Der Tresen, hinter dem der Barkeeper stehen sollte, leer. Alles leer und verlassen, nichts lag auf dem Boden, als wäre hier nie jemand gewesen. Verwirrt und panisch öffnete Alice die Toilettentür wieder und funkelte Shynia an.
,,Was hast du getan?!"fauchte sie, ,,Der ganze Schuppen ist leer, du Verrückte!!"
,,Und sie nennt mich Verrückte." Amüsiert schüttelte Shynia in ihrem Spiegel den Kopf, ,,Wer spricht denn mit einer Hexe, die gar nicht existiert?"
,,Was hast du getan?"wiederholte Alice nachdrücklicher.
,,Gar nichts, Fräulein. Du bist bloß auf dem Klositz eingeschlafen."
Alice riss den Kopf hoch. Tatsächlich. Sie saß noch auf dem Klo. Die Wände waren so schmierig wie vorher. Der Lärm von draußen war derselbe wie vorher und Alice' Pobacken taten ein wenig weh. Wie lange saß sie schon hier?
7 Minuten, sagte ihre Uhr. Schnell wischte sich Alice ab und trat in den voll gefüllten Waschraum. Sie wusch sich neben einem kettenrauchenden Drachen ihre Hände und würdigte ihrem frech grinsenden Spiegelbild, dass offenbar niemandem auffiel, keinen Blick.
Schnell verließ sie die Damentoilette und atmete erleichtert auf. Der Barkeeper hinterm Tresen war wieder da und schenkte einem jungen Mann schmachtend ein Getränk aus. Die beiden lauten Typen saßen wieder an ihrem Tisch und begrabschten jede Bedienung und ihre Freunde ... ja, wo waren die denn?
Verwirrt bahnte sich Alice einen Weg durch die Tische zu ihrem Platz. Ihre Tasche lag unter dem Stuhl und die Teller und Getränke der anderen waren noch da. Aber ihre Freunde waren weg. Sogar Stacy. Ihre Sachen lagen nicht auf ihren Stühlen. Das Geld für die Rechnung lag auf dem Tisch unter einem kleinen Stein, damit es nicht weg flog. Enttäuscht zog Alice ihre Jacke über.
Sie hatten sie tatsächlich vergessen.
Traurig schulterte Alice ihre Tasche und verdrückte sich eine Träne. Sie war wieder alleine. Seufzend verließ sie den Club und sah sich auf dem Parkplatz um. Fantastisch. Ihr Auto steht zuhause. Stacy hatte darauf bestanden, sie abzuholen und sie waren alle zusammen hergekommen. Alice fühlte sich jetzt noch einsamer.
Hier. In der Dunkelheit. Mitten auf dem Parkplatz. Ohne eine Möglichkeit, nach Hause zu kommen. Sie zog ihr Handy raus und sah nach, ob ihr einer von denen geschrieben hatte, doch Fehlanzeige. Dafür zeigte das Handy niedrigen Akkustand an. Schnell öffnete Alice Maps und sah nach, wo die nächste Haltestelle nach Hause war.
Einen halben Kilometer von hier. Gut, war nicht so weit. Da käme sie schon alleine hin. Sie raffte ihre Sachen auf und marschierte los. Die Sterne funkelten am Himmel und der Mond beschien sie traurig. Schon bald hatte die junge Frau sich vom Club weit entfernt und irrte durch die Straßen der Stadt. Immer wieder schaute sie auf ihr Handy und beeilte sich, denn der Akkustand sank drastisch.
Schließlich war sie fast bei der Haltestelle, es fehlten nur noch vielleicht 50 Meter durch die dunkle Gasse. Alice zögerte. Sie stand unter der letzten Laterne. Die Gasse war eng, gerade mal so breit wie zwei Menschen. Es war ein Durchgang zwischen zwei Häuserblöcken und das Ende war sogar zu sehen. Die Laterne schickte ihr Licht durch die Gasse Alice entgegen, doch es reichte nicht mal bis zur Hälfte.
Alice atmete einmal tief ein und aus.
Was soll schon passieren?
,,Soll ich dir die Frage wirklich beantworten?" meinte Shynia sarkastisch und Alice seufzte genervt, vermutlich zum Tausendsten mal.
,,Halt die Klappe!" Mit diesem lauten Worten betrat Alice die Gasse. Eine Ratte huschte in der Dunkelheit vorbei und stieß eine Dose um. Alice ging tapfer weiter. Es waren nur noch 40 Meter, jetzt nur noch 30.
Ein lautes Geräusch ließ Alice schockiert herum fahren! Irgendwas war da, nur was? Zu sehen war nichts, nicht hinter ihr und nicht vor ihr. Doch das Geräusch hielt an. Es klang so nah, wie das Reißen eines Stoffes. Im nächsten Moment wurde Alice an der Kehle gepackt und mit Wucht gegen die nächste Hauswand gedrückt. Instinktiv senkte sie den Kopf und drückte ihr Kinn runter, um ihren Hals irgendwie zu schützen, während ihre Beine unkontrolliert in der Luft baumelten.
Aber zu sehen war nichts. Doch! Da!
Eine große Silhouette zeichnete sich langsam vor Alice ab. Es war die Statur einer Frau. Sie zeichnete sich vom Nichts ab, als wäre sie kurz davor noch Luft und Licht gewesen. Von ihrer Gestalt lag alles in tiefstem Schatten. Nur ihre Augen leuchteten gefährlich auf. Und sie leuchteten wirklich, es war keine Spiegelung von Licht, nein, sie leuchteten aus eigener Kraft.
Hektisch griff Alice nach der stählernen Hand an ihrem Hals, doch der Griff lockerte sich in keinster Weise! Panik überkam sie! Die Luft wurde dünner!
,,Was wollen Sie?"krächzte Alice verzweifelt und zappelte mit den Beinen, erreichte die Frau aber nicht. Ein Ruck ging durch ihren Körper. Shynia hatte übernommen. Sie verdrängte Alice ins Unterbewusstsein und übernahm selbst die Kontrolle. Shynia war stärker, als Alice. Sie drückte das Handgelenk der fremden Person so fest und so kräftig weg, dass der Griff um den Hals sich lockerte. Sie ließ los und Shynia landete federnd auf dem Boden.
In der selben Bewegung ging sie in die Hocke und schnellte von unten heraus nach hoben, direkt an die Kehle der Frau. Diese war nicht untätig, erfasste Shynia vorher am Nacken und wirbelte sie von sich. Wie ein nasser Mehlsack landete Shynia auf dem gepflasterten Gehweg und blieb kurz ächzend liegen. Die Frau kam langsam hinterher und trat aus der Gasse raus, in den Schein der Laterne. Ihr Anblick löste in Alice pure Angst aus. Hysterisch rutschte sie tiefer ins Unterbewusstsein.
Shynia schüttelte ihren Kopf, um wieder klar zu werden.
Die Frau blieb stehen und begann zu reden. Alice konnte aber nicht verstehen, was. Ihre Sprache schien abgehackt und hörte sich seltsam falsch an. Als sie merkte, dass Shynia nichts von ihren Worten verstand, versuchte die Frau es mit einer anderen Sprache, doch auch diese war den beiden unbekannt.
Frustriert trat die Frau noch einen Schritt vor und zog Shynia am Arm grob auf die Beine. Dann griff sie mit beiden Händen an Shynias Schläfen und schloss die Augen.
,,Wer seid ihr?"fragte die Frau nun in einer verständlichen Frage und nahm die Hände weg. Shynia wich sicherheitshalber einen Schritt zurück, um gewappnet zu sein. Die Frau war mindestens einen Kopf größer als sie und kräftig gebaut.
,,Wer 'ihr'?"hakte Shynia nach, ,,'Ihr' im Sinner von 'Eure Majestät' oder im Sinne ... "
,,Ich meine euch beide."
,,Oh, tja ... " Verwirrt kniff Shynia die Augen zusammen und auch Alice war verwirrt. Woher wusste die Frau von ihnen beiden. Denn auch, wenn Shynia momentan die Kontrolle über ihren Körper besaß, es war immer noch Alice' Körper. Shynia verschränkte Alice' Arme.
,,Wer sind Sie eigentlich?"fragte sie skeptisch.
,,Ich bin eure Schwester."
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