Debbies Call

20. Mai 2019

(Manasi Subramaniam)

Nachdem ich aus dem Bus stieg und mit hundert anderen das große Gebäude meines Arbeitsplatzes betrat, gab es schon kaum noch freie Plätze für mich. Mein Arbeitstag hat gerade erst begonnen und ich bin schon erschöpft. Morgens überlebe ich müde den stressigen Schulalltag und nachmittags fahre ich mit dem Bus zur Arbeit.

Aber ich bin dankbar, dass ich einen Job habe - mein Gehalt ist bereits höher, als das meines Vaters. Für vier Stunden, jeden Tag bis sieben Uhr abends oder länger, wenn die Sonne untergeht und ich nach Hause kann. Man sagt mir, was für ein Glück ich habe, für so eine große Bank zu arbeiten, die Büros auf der ganzen Welt hat.

Ich gehe zu meinem Schreibtisch und übe meine Akzente. Ich habe zwei verschiedene Akzente, einen britischen und einen amerikanischen, die von mir gerne Teufelchen und Engelchen genannt werden. Abhängig davon, woher der Anruf kommt, benutze ich einen anderen Akzent. Ich weiß nicht, ob meine Akzente sehr gut sind, denn ich habe leider keinerlei Anhaltspunkte.

Ich bin noch nie gereist und außer meiner Interpretation der Akzente habe ich keinen wirklichen Vergleich dazu. Manchmal bin ich so tief in meiner Arbeit verwurzelt, dass ich meinen Freunden am Telefon sage ,,Danke für Ihre Geduld'' oder ,,Rufen Sie mich bei weiteren Fragen gerne an."

Sie lachen dann meistens und sagen mir, dass ich ein richtiges Callcenter bin. Mein britischer Name ist Sara und mein amerikanischer Name ist Debbie. Eigentlich könnte ich den selben Namen verwenden, egal von wo der Anruf kommt - mein Chef sagt, dass es keinen Unterschied machen würde - aber es ist für mich interessanter, ihnen Namen zu geben.

Ich benutze andere Namen, unterschiedliche Akzente und sogar verschiedene Persönlichkeiten. Der britische Akzent Sara ist eine unabhängige Frau, die keine Männer braucht, während die amerikanische Debbie verheiratet ist und einen sehnlichen Kinderwunsch hat. Sie sind beide sehr verschieden und wenn sie sich jemals treffen würden, würden sie nicht miteinander auskommen.

Oft streiten sie sich auch in meinen Gedanken, ich stelle mir gerne mögliche Unterhaltungen mit ihnen vor. Sara meint immer, ich muss selbstständiger werden. Sie will, dass ich mal raus komme und Partys besuche, Leute kennen lerne. Debbie hingegen will mich davor bewahren. Sie will nicht, dass ich meine Unschuld verliere und drängt mich dazu, eine Familie zu gründen. Im Grunde widersprechen sie sich in den selben Punkten, in denen sie sich einig sind und ich glaube, gerade deswegen streiten sie ständig.

Ich inzwischen habe ich es doch an meinen Schreibtisch geschafft. Erschöpft seufzend lasse ich mich auf den Drehstuhl fallen, stelle ich meine Tasche auf den Boden zu meinen Füßen und schalte meinen Computer ein. Das Telefon klingelt. Ich räuspere mich, bevor ich abhebe. Dies ist ein Anruf für Debbie aus Amerika.

,,Callcenter in Brooklyn, ich bin Debbie." Meine Stimme klingt höher und hat einen pseudofreundlichen Ton angenommen, ,,Vielen Dank für Ihren Anruf. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?"

Der erste Anruf des Tages ist mein Favorit, da bin ich in Bestform. Später werden meine Antworten immer mechanischer und meine Fröhlichkeit immer unechter. Der Amerikaner am anderen Ende der Leitung erklärt mir sein Problem. Mit meinem Antworthandbuch im Comupter habe ich alle Antworten bereit und helfe ihm mit seinen Bankdaten.

Als der Anruf so langsam zu Ende geht, bemerke ich einen Schatten an meinem Schreibtisch und schaue auf. Gerade ist Patricia gekommen, eine nette Arbeitskollegin, die mir freundlich zuwinkt und sich auf ihren Stuhl setzt, sie muss wohl gerade erst gekommen sein. Ich lächel zurück und wende mich wieder dem Kunden zu.

,,So das wär's. Kann ich Ihnen sonst noch behilflich sein?" Kaum das die Worte aus meinem Mund sind, stocke ich erschrocken. Mir ist klar, dass ich versehentlich von Debbie zu Sara gewechselt habe, die sich nicht nur im Akzent, sondern auch in ihrer Tonlage unterscheiden. Debbie klingt viel höher und unschuldiger, Sara zwar vornehmer, doch um einige Töne tiefer, rauchiger und direkter.

Nervös räuspere ich mich und wiederhole ich die Frage mit Debbies Stimme und hoffe, dass er nichts gemerkt hat. Der Anrufer antwortet für einen Moment nicht und die Minuten verwandeln sich für mich in Stunden und Jahrhunderte, in denen ich bange. Wie konnte mir nur so ein Fehler passieren? Ich hatte Sara nicht unter Kontrolle, sie hat einfach übernommen. Das darf nicht passieren, niemals!

,,Du bist kein verdammter Amerikaner, oder?!" Höre ich den Mann am anderen Ende der Leitung knurren. Ich sage nichts, obwohl es nur ein Anruf ist. Ich fürchte mich vor seinen schneidenden Worten. Seine Stimme klingt hart und laut in meinen Ohren und am liebsten hätte ich mir vor Frust kräftig auf die Zunge gebissen.

,,Was machen Sie mit meiner Bankverbindung, Sie Schlampe? Sie kommen nicht in die Nähe meiner Familie!!"schimpft er ins Telefon und wird immer lauter. Am liebsten würde ich den Hörer weiter weg halten, doch ich bin wie erstarrt.

,,Ich werde die Bank wechseln!! Du kannst deinen verdammten Leuten sagen, dass ich nichts mit einer britischen Bank am Hut haben will!!!"rief er weiter und sein erhitztes Gemüt schmierte mehr Salz in die Wunde. Denn jetzt hatte sich ein stechender Schmerz in meinen Rippen festgesägt.

Debbie versucht Sara mit kratziger Stimme verzweifelt bei dem Mann zu entschuldigen und ich klickte töricht durch das Antworthandbuch im Computer, als stünde dort die Antwort auf mein Problem. Ein dicker Kloß bildet sich in meinem Hals und schnürte mir die Kehle zu, lässt mich kaum noch sprechen.

Der Amerikaner schmettert Debbie eine Reihe von expliziten Beschimpfungen und Schilderungen an den Kopf, wie er sie auf möglichst grausame Art töten wird, wenn sie nicht sofort aus der Leitung geht, aber ich bin noch immer fast wie eingefroren. Das kann doch alles nur ein schlechter Traum sein.

Der wütende Amerikaner schimpft sich richtig in Rage und verflucht Debbie lauthals, seine Stimme schneidet in meinen Ohren und Debbies Stimme wird immer schwächer und schwächer.

Dann legt er auf.

Fassungslos halte ich das Telefon noch an mein Ohr. Debbie sagt nichts mehr. Sara auch nicht. Keine der beiden sagt was und der Kloß in meinem Hals wächst. Scheiße! Wäre das alles nur nicht passiert! Wäre ich nur nicht so töricht gewesen, mich ablenken zu lassen.

Debbie sagt noch immer nichts. Sie ist weg. Er hat sie getötet. Der Amerikaner auf der anderen Leitung hat Debbie getötet. Ich spüre sie nicht mehr. Verdammt, ich spüre gar nichts mehr von Debbie! Eine ungewohnte Leere breitet sich in meinem Inneren aus. Eine tosende Stille.

Ein fehlendes Ziehen macht sich bemerkbar. Ich habe was verloren. Und es ist weg, auf ewig. Der pochende Schmerz in meinen Rippen wird stärker. Hätte ich das nur nicht getan! Der Stress, den ich mir selber mache, frisst sich in meine Knochen und ich kann nicht mehr schlucken. Ich könnte vor Frustration aufschreien, doch auch das kann ich nicht.

Plötzlich füllt sich die Leere. Irgendetwas heißes breitet sich in meinem Inneren aus. Es kämpft sich an die Oberfläche und ich kann nichts dagegen tun, will auch gar nichts dagegen tun. Meine Hände sind wie erstarrt und krampfen sich noch immer um das schwarze Kabeltelefon. Die Schrift des Computerbildschirms starrte mich vernichtend an.

Der brennende Punkt in meinem Inneren wächst. Es tut weh, doch ich spüre nichts. Was ist das? Und wo ist Sara? Sara schweigt. Sie hält die Klappe. Wieso? Wo ist sie hin?

,,Sara ist weg." haucht eine leise Stimme in mein Ohr. Sie fühlt sich leicht an, ein feines Nichts, dass mich umwabert.

,,Debbie ist weg." Die Stimme streicht über meine Schulter und doch bin ich mir im Klaren, dass sie nur Einbildung ist. Nur in meinem Kopf, nicht vorhanden. Ein Schmerz zuckt durch meine Magengrube und als die weibliche Stimme wieder spricht, fährt mir ein eiskalter Schauer über den Rücken.

,,Doch ich bin real." Ihr machtvoller Klang vibriert durch meine Knochen und vermittelt mir die Unwirklichkeit von Debbie und Sara. Doch diese Stimme ist wirklich. Wer ist das? Was macht es in meinem Kopf?

,,Ich bin nicht in deinem Kopf."flüstert die Stimme und ihr Ton kommt nun von der anderen Seite, ,,Ich bin in deinem Körper, ich bin alle Macht der Welt. Ich will dir helfen."

Meine Augen sind noch immer panisch auf den Computer gerichtet und meine Kehle ist staubtrocken.

,,Wobei?"krächze ich mit heiserer Stimme und dank des Telefons in meiner Hand fällt niemandem auf, dass ich mit niemandem rede.

,,Er hat Debbie getötet, nicht wahr?"

Unfähig zu antworten nicke ich nur zögernd.

,,Und durch ihren Tod verschwand auch Sara, nicht wahr?"

Wieder ein willenloses, stockendes Nicken.

,,Wäre es da nicht all zu gerecht, ihn leiden zu lassen? Das wäre es, nicht wahr?"

Diesmal will ich nicht nicken. Ich will nicht, doch mein Kopf senkt und hebt sich mechanisch. Was passiert hier?

,,Wer bist du?"

,,Ich bin die Reinkarnation einer mächtigen, göttergleichen Hexe." haucht die Stimme vertrauensvoll und doch so machtvoll durch meinen Kopf. Ihre Stimme schallt stumm durch meinen Körper, durchzieht meine Knochen und Organe. Es fühlt sich an, als wäre ihre Macht überall.

,,Ich bin Shynia."

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