Verlorene Spuren

„Also langsam habe ich keine Lust mehr zu warten", maulte Uke. Das mochte auch daran liegen, dass er gerade zum zehnten Mal gegen Rando verloren hatte. Verärgert zahlte er diesem den Gewinn in Form einer Handvoll Blau- und Brombeeren aus. „Mehr habe ich nicht", erklärte er dem Bruder und wischte die Linien des Kästchenspiels aus. „Und nochmal spiele ich auch nicht. Sammel dir deine Beeren in Zukunft selbst!"

Rando kaute bereits. „Gewöhn dich dran, kleine Brüder sind zum Schikanieren da."

„Eher zum Verwöhnen und Umsorgen, wenn ich nach meiner Frau urteile", meinte Faolán und blickte der Erwähnten entgegen, die gerade auf sie zu kam. „Immer noch nichts", sagte sie müde und ließ sich neben ihnen nieder. „Ich halte das nicht mehr aus. Ich will endlich wissen, was mit Ylv ist."

Faolán nickte. „Ich denke, wir befragen die hohe Dame jetzt persönlich. Es ist früher Abend, Ylvigur sollte schon lange wieder da sein. Wecke Varg und frag ihn, was er davon hält."

„Ich würde so gerne Raifa anheulen", bemerkte Tala unglücklich.

„Ja, aber sie hat es nun einmal verboten, solange wir uns auf dieser Seite des Rötelflusses aufhalten", Faolán griff in Randos Hand und schnappte sich zwei Brombeeren.

„He, die hab ich ehrlich gewonnen", empörte sich der Beraubte.

„Schiedsrichterhonorar", entgegnete Faolán nur und steckte sich seine Beute in den Mund, während Tala Varg wachrüttelte.

„Ich denke auch, wir sehen jetzt nach dem Rechten", meinte Varg, als sie ihn informiert hatten. „Ihr seid sicher, dass niemand gekommen und niemand gegangen ist?"

Alle nickten. Sie hatten die ganze Nacht und den ganzen Tag abwechselnd Wache gehalten.

„Verstehe auch nicht, was sie so lange im Haus machen können.", gab Rando zum Besten. „Selbst wenn die hohe Dame nun auch noch Ylvigur zum Putzen eingespannt hätte, müsste ja wenigstens einer der beiden ab und zu rauskommen und das Schmutzwasser auskippen."

Tala schnaubte verächtlich. „Kannst du dir vorstellen, dass Ylvigur putzt?"

Rando lachte. „Kaum, das versucht er immer mir aufzuladen." Er überlegte plötzlich. „Vielleicht beeindruckt ihn ja das an der Kleinen. Wenn er mich ihretwegen rauswirft, hat er trotzdem jemanden, der das für ihn macht."

„Ich hoffe nur, dass er überhaupt noch die Gelegenheit hat, dich rauszuwerfen", Tala blickte plötzlich sehr verängstigt drein. Faolán legte den Arm um seine Frau. „Nimm nicht gleich das Schlimmste an. Dein Bruder ist zäh und ist schon aus ganz anderen Klemmen herausgekommen. Noch wissen wir ja nichts Genaues."

„Ja, eben. Denk nur an die letzte Sommersonnenwende. Da wäre es ihm schon beinahe an den Hals gegangen. Irgendwann ist sein Glück vielleicht aufgebraucht. Du weißt, was diese Menschen mit Wilkos machen, die sie in die Hände bekommen."

Randos Lächeln war wie fortgeblasen. „Da hast du recht. Andererseits haben wir niemanden kommen oder gehen sehen. Er kann also nicht in allzu großer Gefahr sein."

„Trotzdem fragt sich, was die hohe Dame mit ihm anfangen kann", Tala schniefte noch einmal, während sie sich an den Abstieg machten. „Dieser Frau traue ich alles zu."

Das tat Varg auch. Allerdings wusste er auch, wozu Tala fähig war, wenn sie jemanden aus ihrer Familie bedroht sah und darum übernahm er das Reden, als die Frau Großmutter auf sein energisches Klopfen ein wenig verwundert öffnete. „Wir wollten Piroska abholen. Ist sie denn immer noch nicht fertig?"

„Piroska?" fragte die Frau dermaßen ehrlich überrascht zurück, dass es Varg einen Moment aus dem Konzept brachte. Doch er fing sich rasch. „Das rothaarige Mädchen, welches gestern zu Euch gekommen ist."

„Ach, heißt sie Piroska? Die ist längst fort."

Tala wechselte einen verwunderten Blick mit Faolán. Die Frau Großmutter hatte das Mädchen nicht einmal nach seinem Namen gefragt? Eine solche Gleichgültigkeit war der warmherzigen Waldbewohnerin unverständlich.

„Wir haben sie nicht gehen sehen", Varg blieb stur.

„Dann wird sie euch entwischt sein", die Frau Großmutter erlaubte sich ein kleines, hämisches Lächeln. „Vielleicht wollte sie nicht mit euch gehen."

„Wir haben die ganze Zeit aufgepasst. Auf diesem Weg ist die kleine Rote nicht gegangen."

„Ach, sie wird euch umgangen haben. Vermutlich wird sie keine Lust gehabt haben, gefressen zu werden", die hohe Dame musterte verächtlich die Gruppe vor sich, die sie gleich als Wilkos erkannt hatte.

Es gab kaum etwas, womit sie die Waldbewohner mehr hätte reizen können. Der sonst eher ruhige Varg packte die verblüffte Frau mit einer Schnelligkeit am Hals, die selbst seine Gefährten überraschte. „Wir essen keine Menschen!" knurrte er.

Trotz der Gefahr, in der sie schwebte, reagierte die hohe Dame recht gelassen. „Und wer soll dir das glauben, wenn du mich so behandelst?"

Widerwillig ließ Varg sie los, knirschte aber: „Am liebsten würde ich dich in der Luft zerreißen!"

„Und du weißt genau, was dann geschieht", erinnerte sie ihn. „Die Wachen kontrollieren regelmäßig mein Haus und sie können feststellen, ob mich ein Räuber oder ein Wilko getötet hat. Und wenn das Letztere der Fall ist, werden sie gegen euch alle vorgehen."

Varg musste zugeben, dass sie recht hatte. Aber er gedachte nicht, sich völlig geschlagen geben. „Trotzdem werden wir jetzt dein Haus durchsuchen. Wir vermissen nämlich noch jemanden, einen jungen Mann aus unserer Sippe."

„Ich empfange keine Wilkos!" schnappte die hohe Dame. „Noch nie hat einer von euch diese Schwelle übertreten und das wird auch so bleiben!"

„Das stimmt sogar", Rando hatte sich gebückt und die Türschwelle abgeschnuppert. „Er hat sie nicht übertreten."

„Was bedeutet, dass er noch drin sein muss. Wir haben ja gesehen, wie er reinkam."

„Hier kam niemand rein, dem ich nicht selbst die Tür geöffnet habe!"

"Und auch niemand raus", bemerkte Varg. "Denn das rothaarige Mädchen hat dein Haus auf jeden Fall nicht durch diese Tür verlassen. Trotzdem sagst du, sie wäre nicht im Haus und auch unser Gefährte nicht!"

"Die kleine Rothaarige ist längst auf dem Heimweg und einen rothaarigen Wilko habe ich gar nicht erst zu Gesicht bekommen!", fauchte die Frau Großmutter. „Verzieht euch jetzt endlich!"

„Erst, wenn wir wissen, wo mein Bruder steckt!" Tala trat nun vor. „Ich gehe nicht ohne ihn!"

„Woher weiß die, dass Ylvigur rotes Haar hat?" fragte Uke von hinten.

Erst jetzt wirkte die Frau Großmutter erschrocken. Vor sich sah sie nur graues, schwarzes, blondes und braunes Haar; sie konnte sich also nicht herausreden, eine bloße Vermutung ausgesprochen zu haben aufgrund der vor ihr aufgebauten Sippschaft. Und unter Wilkos war rotes Haar nicht üblich. Durch die ständige Erwähnung des rothaarigen Mädchens war sie durcheinandergekommen, aber nun hatte sie praktisch zugegeben, den Vermissten gesehen zu haben.

„Und?" erkundigte sich Tala, als Rando aus der Küche kam. Sie stand im Flur hinter der Frau Großmutter und hielt ihr ein Messer an den Hals.

Der junge Mann grinste kurz, wurde aber schnell wieder ernst. „Selten eine so saubere Küche gesehen. Das einzige nicht geschrubbte ist eine Pfanne. An der klebt Ylvigurs Blut."

„Du meinst, er ist ..."

„Nein. Nur Blut, keine Knochenstücke oder sowas. Totgeschlagen hat sie ihn damit nicht."

Faolán kam aus der Stube. „Da drin sieht's aus wie in einer Schatzhöhle. Aber keine Spur von deinem Bruder."

„Die hab ich dafür", Uke kletterte die Stiege herunter und zeigte Tala ein Büschel rotgrauer, kurzer Haare. „Das blieb am Fensterrahmen hängen."

Tala nahm die Haare und barg sie in ihrer Hosentasche. „Varg? Hast du etwas gefunden?"

„Und was!" Varg trat aus der kleinen Kammer und nieste. „Vor allem Aschenlauge. Trotzdem konnte ich sein Blut riechen. Am Türrahmen und überall auf dem Boden verteilt. Außerdem ist die Aschenlauge nur dort, wo ich darunter Blut riechen konnte. Der hintere Teil des Bodens ist total verstaubt."

„Diese faule Schlampe!" schimpfte die hohe Dame los, bekam aber daraufhin einen Tritt von Tala ab. „Halt bloß dein dreckiges Maul! Hast du meinen Bruder umgebracht?"

Daraufhin presste die Frau Großmutter demonstrativ die dünnen Lippen zusammen. Rando bemerkte trocken: „Wenn sie antworten soll, muss sie schon reden dürfen."

„Nicken oder Kopfschütteln genügt!" fauchte Tala. Sie drückte das Messer direkt an die Haut. „Los, antworte!"

Äußerst vorsichtig schüttelte die Frau Großmutter den Kopf.

„Und wo ist er jetzt?"

Die Frau wies auf die Tür hinter der Stiege.

„Mich laust das Eichhörnchen!" Rando schlug sich vor die Stirn. „Eine Hintertür!"

„Aber das Haus steht direkt an der Felswand?" wunderte sich Uke.

„Felswände müssen nicht stabil sein", Faolán öffnete bereits die Tür und sah hindurch. „Eine Höhle! So sind sie fortgebracht worden!"

„Pfeil und Feuer! Was machen wir jetzt?" Rando schüttelte hilflos den Kopf. „Wenn wir die hohe Dame unbewacht lassen, fällt sie uns in den Rücken. Aber wir müssen ihnen doch folgen."

Varg dachte nach. Dann lächelte er. „Ich weiß eine Lösung. Ich werde sie bewachen. Du folgst mit Tala und Faolán den Spuren. Faolán hat die Verantwortung."

„Und ich?" fragte Uke enttäuscht.

„Du, mein Sohn, rennst ohne Pause nach Wilkin, informierst Raifa und Amarok, was mit ihrem Sohn geschehen ist und kommst mit Verstärkung zurück."

Der Junge strahlte. „Mach ich!" Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und rannte schon, bevor er die Tür passiert hatte.

Faolán nahm eine Fackel von der Wand und schlug Feuer. „Da drin ist es stockfinster. Ein wenig Licht brauchen selbst wir."

„Dann kommt!" Tala lief los und die beiden Männer folgten ihr.

In der von der Fackel nur spärlich erleuchteten Höhle begannen die Augen der drei Gefährten grün zu leuchten. Ihre Nachtsicht erlaubte ihnen ein wesentlich besseres Sehen als den Menschen, welche diesen Weg zuvor gegangen waren. So war es ihnen möglich,  den Höhlengang bedeutend schneller als diese zu passieren und sie erreichten den Ausgang noch vor dem Sonnenuntergang. Doch hier blieben sie ratlos stehen.

Zwar suchten sie die ganze Lichtung nach Spuren ab, konnten aber nur feststellen, dass man die Gefangenen auf Wagen verfrachtet haben musste. Der Weg führte jedoch nach kaum hundert Metern zu einer Kreuzung und ab hier waren alle Wege so stark befahren, dass eine weitere Verfolgung unmöglich war.

„Was machen wir jetzt", fragte Tala unglücklich. Faolán seufzte. „Wir sollen uns eigentlich nicht trennen. Aber es bleibt uns nichts anderes übrig. Jeder nimmt sich einen Weg vor. Wir treffen uns hier bei Sonnenaufgang wieder, egal, ob wir etwas gefunden haben oder nicht."

Die anderen beiden stimmten zu. Die einzige andere Möglichkeit war, jeden einzelnen Weg bis zum Ende abzusuchen und sie wussten nicht, ob Ylvigur noch genügend Zeit blieb.

So machten sie sich getrennt auf den Weg, hin- und hergerissen von Hoffnung und Verzweiflung.

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