Sonnwendfeier

Schon als sie über die Brücke kamen, konnten die Gefährten erkennen, dass in der Stadt einiges los war. Die gesamte Bevölkerung schien auf den Beinen zu sein. Beim Näherkommen wurde deutlich, dass es sich um viele verschiedene Gruppen handelte, die auch nicht alle den gleichen Zielen zustrebten.

Der überwiegende Teil der Menge bestand aus blumengeschmückten, meist jungen Menschen, die singend und tanzend dem Mittelpunkt der Stadt zustrebten. Sie bewegten sich lässig durch die engen, überfüllten Gassen, lachten und scherzten miteinander und schlossen sich frohgemut jeder anderen Schar an, die in die gleiche Richtung zog.

Viele Leute strömten jedoch genau umgekehrt von der Mitte aus zu den einzelnen Stadtgebieten. Statt Blumen, Laternen und Instrumenten trugen sie Ratschen, Fackeln und Stöcke. Und ihr Ziel fand sich überall. Sie klopften an Häusertüren, drehten die Ratschen und riefen den Hausbewohnern Beleidigungen zu. Andere packten diejenigen Feiernden, die ihnen verdächtig vorkamen und leuchteten ihnen in die Augen. Und wieder andere hielten auch die unbeteiligten Passanten auf und forderten diese auf, mit ihnen zu ziehen. Manche ließen sich überreden, andere lehnten ab.

Den Gefährten fiel auf, dass vor allem junge Männer mit rotblondem oder rotbraunem Haar angehalten wurden sowie Menschen, welche zwar mit den Feiernden zogen, aber sich nicht an den Gesängen und Tänzen beteiligten. Die Jubelnden ließen sich das aber nicht gefallen, sie zerrten den Kontrolleuren die Mützen herunter, bewarfen sie mit Blumen und schütteten Wasser über ihre Fackeln aus.

„Noch ist es fast friedlich", stellte Jolanta fest und die anderen verstanden, was sie sagen wollte. Jedes falsches Wort, jeder noch so geringfügige Anlass und die Stadt würde sich in einen Hexenkessel verwandeln.

„Der sieht mir doch gar nicht ähnlich", murmelte Ylvigur, als eine stämmige Bürgersfrau einen mageren Jugendlichen mit rötlichblondem Haar und einer Menge Sommersprossen aus der Menge zerrte. Der spuckte ihr ins Gesicht, worauf sie ihn losließ, um sich den Speichel abzuwischen und er zwischen den anderen Feiernden verschwand.

„Geh doch hin und stell ihr dich vor", schnauzte Stepan. „Bist du bekloppt, sowas laut zu sagen! Schrei's doch am besten gleich raus!"

„Komm", Jolanta packte Stepan und Kriszta, die ihr am nächsten standen, an den Händen und zog sie zu einer Schar junger Leute, die gerade um die Ecke kam. „Wir schließen uns ihnen an." Die drei mischten sich unter die Tänzer und ahmten deren Schritte nach. Jolanta sang laut – und ziemlich falsch – die fröhliche Weise mit, die ein Mädchen auf der Laute angestimmt hatte. Zwei junge Männer, einer mit Flöte, der andere mit einer Handtrommel, begleiteten sie.

„Los, wir auch", Piroska wollte ihren Zukünftigen ebenfalls zum Tanz hinführen, doch der Werwolf blieb wie angewurzelt stehen. „Nein!"

„Häh? Was ist denn?"

„Ich kann das nicht! Ich habe noch nie getanzt!" Ylvigurs Gesicht drückte helle Panik aus.

Piroska verbiss sich ein Lachen. „Das ist nicht schwer. Ich bring's dir bei. Mach einfach nach, was ich dir zeige."

Zögernd folgte er ihr und versuchte recht ungeschickt, Piroskas Bewegungen nachzuahmen und dabei vorwärts zu gehen, ohne über die eigenen oder fremde Füße zu fallen. Es war nicht nur der Tanz, der ihm Angst einjagte, sondern auch die ungewohnte Situation, auf allen Seiten von Menschen umgeben zu sein, gestand er Piroska schließlich ein. „Es sind so viele! Hier sind auf einer Straße mehr Menschen als wir alle in unserem Dorf zählen!"

„Die beißen aber nicht."

Er musste lachen. „Da hast du recht. Aber ich bin einfach solche Ansammlungen nicht gewöhnt. Wir neigen zwar auch dazu, uns bei Gefahr oder Kälte zusammen zu rotten, aber wir sind nicht so entsetzlich viele."

Piroska fand auch, dass sie noch nie so viele Menschen auf einmal gesehen hatte, schon gar nicht auf so engem Raum, wie ihn die schmalen Gassen boten. Aber für Ylvigur schien das noch schlimmer zu sein. „Wie viele seid ihr denn?", fragte sie und schubste ihn in die andere Richtung, damit er nicht das Mädchen hinter sich anrempelte.

„Um die 250, glaube ich."

„Dann versteh ich dich. Selbst in Altkirch leben etwa 600 Menschen und wir sind das kleinste der vier Dörfer." Piroska drehte sich vor Ylvigur, der verwirrt stehen blieb und offenbar nicht wusste, was er nun tun sollte.

Jetzt verlor sie endgültig die Geduld mit ihm. Mit der Linken fasste sie seinen Gürtel seitlich, mit der Rechten krallte sie sich in seiner linken Schulter fest. So konnte sie seine Bewegungen einigermaßen dirigieren. Zusätzlich trat sie ihn immer leicht auf jeweils den Fuß, den er nun setzen sollte. Jetzt ging es besser, allmählich fand sich der Werwolf in den Rhythmus ein. Und er sah nicht mehr drein wie ein Lamm auf dem Weg zur Schlachtbank.

Auf dem Weg zur Stadtmitte schlossen sich ihnen immer wieder blumengeschmückte Menschen an; nicht nur Jugendliche und junge Erwachsene. Auch immer mehr Ältere kamen dazu, angesteckt von der Ausgelassenheit der Feiernden. Die Sonnenwende war nun einmal ein besonderes Ereignis und das wollten sich viele auch nicht von den selbsternannten Wolfsjägern vermiesen lassen.

Piroska lächelte, als sie eine kleine, verhutzelte Frau mittanzen sah, mit nicht weniger Energie als die Jungen. Und als wieder eine Gruppe ‚Jäger' vorbeikam, schnappte sich die Alte kurzerhand den Größten unter ihnen und tanzte mit ihm. Nach einem Moment des Zögerns lachte der Mann auf, nahm die Frau bei den Händen und tat willig mit.

Beim Beobachten entging ihr völlig das Aufsehen, welches sie selbst erregten. Die Städter amüsierten sich herzlich über das zierliche Mädchen, welches den großen, jungen Mann wie eine Puppe hin- und herzerrte, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Ylvigur war nun ganz durcheinander, er konzentrierte sich nur noch darauf, zu tun, was Piroska ihm unaufhörlich befahl, in der Angst, irgendeinen Fehler zu machen.

„Tanzen kannst du absolut nicht", plötzlich trat der Trommler zu ihnen. „Wo hast du denn bisher gelebt, im tiefsten Wald? Ich habe noch nie jemanden so ungeschickt herumstolpern sehen!"

Beide erschraken, aber der Trommler schien es nicht böse gemeint zu haben. Er warf seine Handtrommel dem Mädchen mit der Laute zu und packte Ylvigur von hinten an den Schultern. „So – und so – und jetzt so", gemeinsam mit Piroska, die nun beide Hände an Ylvigurs Hüften hatte, gelang es ihm tatsächlich, den Werwolf zu einigen korrekten Tanzschritten zu bewegen.

„Du solltest dir einen besseren Tänzer suchen", sagte er dann lachend zu Piroska. Die gab keck zurück: „Das bringe ich ihm schon noch bei. Und alles andere kann er gut genug!"

„Das sollten wir ausprobieren!", beschloss der Trommler. „Und zwar gleich, wir sind fast am Schlossplatz!"

Das stimmte, die Gasse weitete sich nun und sie erblickten einen riesigen, offenen Platz, an drei Seiten von Bäumen und Bänken umgeben. Die vierte Seite öffnete sich zu einem imposanten Bau, wohl das erwähnte Schloss. Weder das Dorfmädchen noch der Waldbewohner hatten je etwas Vergleichbares gesehen.

Der Trommler schwang sich auf die Lehne der nächsten Bank und nahm seine Trommel wieder entgegen. „Wenn du schon nicht tanzen kannst, hoffe ich doch, du kannst singen", sagte er zu Ylvigur. „Wir haben unser Repertoire schon zweimal abgespielt. Bring uns etwas Neues bei!"

Piroska hatte erwartet, dass ihr Liebster erneut zurückschrecken würde, aber zu ihrer Überraschung nickte dieser nur. „Singen kann ich. Was wollt ihr hören?"

„Etwas Lustiges", rief das Mädchen mit der Laute. „Und ja nichts mehr von Liebesleid und -lust!"

„Summ uns die Melodie vor, dann passen wir uns an, während du singst", meinte der Flötist.

Ylvigur nickte. „Es sind zwei verschiedene, aber recht einfache." Er neigte sich zu Flötist und Lautenspielerin und summte ihnen vor, was er meinte. Die beiden lächelten. „Das bekommen wir hin."

Jolanta stand plötzlich neben Piroska. „Ich hoffe, er kann wirklich singen", flüsterte sie. „Seine ungeschickte Tanzerei hat hier schon einige Leute aufmerksam gemacht." Sie wies auf einige Männer und Frauen, welche die fröhlichen Menschen auf dem Platz finster und misstrauisch musterten. Zwei von ihnen hatten tatsächlich Ylvigur ins Visier genommen.

„Glaubt man hier denn, dass Wilkos auch nicht singen können?" fragte Piroska. Jolanta zuckte die Achseln. „Allenfalls jaulen."

Piroska erinnerte sich. „Er kann singen. Mich hat er mit ‚ein Mädchen steht im Walde' begrüßt."

„Es heißt doch ein Männlein?" wunderte sich Jolanta. Piroska lachte. „Er hatte es für mich umgedichtet."

„Ich hoffe, er singt nicht Tenor", murmelte Jolanta. „Das werden sie dann für Jaulen halten."

Piroska, die keine solche Ausbildung genossen hatte wie die Kaufmannstochter, verstand kein Wort. Aber in diesem Augenblick begann Ylvigur zu singen und die Musiker begleiteten ihn, noch etwas wacklig.

„Bariton, ein Glück", wisperte Jolanta. „Und ein sehr schöner. Er hat recht. Singen kann er."

„Lauter!" rief jemand und die Musiker lachten. „Das war nur die Probe. Jetzt haben wirs. Also, noch mal von vorne."

Ganz plötzlich wurde es in diesem Teil des Platzes still. Die Menschen hatten die altbekannten Lieder schon etliche Male gehört und freuten sich nun auf etwas Neues. Und sie lauschten dem Gesang des Werwolfs:

Der Tag war jung / die Luft noch kühl / da ging er auf die Pirsch.
Und an dem Quell / unten im Wald / traf er den alten Hirsch.

Zehn Enden trug / er auf dem Haupt. / Der Jäger lachte froh.
Er spannte schon / den Bogen, da / schrie der Hirsch und entfloh.

Er hetzte durch / den dunklen Wald / der Jäger hinterher.
Doch nicht nur er / jagte das Tier. / Ein Wolf war schneller als er.

„Das war mein Hirsch!" rief er voll Zorn.
Und gierig nach des Hirsches Horn.
hob er den Bogen auf und schoss,
bis dass dem Wolf das Blut entfloss.

Er nahm's Geweih / ging fröhlich heim / doch fror es ihn sehr bald.
Die Sonne scheint / kaum in den Hain. / Drum ist es kalt im Wald.

Er dachte an / des Wolfes Pelz; /der würde ihm gut steh'n.
Und hielte ihn / auch immer warm. / Er beschloss zurückzugeh'n.

Der Wolf lag da / den Pfeil im Leib / doch war am Leben noch.
Er sah den Mensch / und fragte nur / Und was willst du jetzt noch?

„Den Pelz brauch ich, hier ist es kalt.
Und ich komm oftmals in den Wald."
Da sprach der Wolf: „Willst du ein Fell,
schenk ich dir eins. Geh jetzt zum Quell
Und trink von dort. Doch gehe schnell.
Mein Rudel kommt. Hör das Gebell!"

Der Jäger lief / zum tiefen Quell / kniete nieder und trank.
Schon hüllte ihn / ein Pelz gut ein / und er sprach seinen Dank.

Er kam nach Haus / und zog sich aus / der Pelz stak an ihm fest.
Und das Geweih / zehn Enden stark / ziert' seine Stirn ab jetzt.

Und er lief fort / zu jenem Ort / wo Hirsch und Wolf er traf.
Und an dem Quell / sprach ihm der Wolf: / Das ist nun deine Straf.

Des Hirschs Geweih /des Wolfes Pelz / du wolltest beides haben.
Nun sind sie dein / zu deiner Pein / als lebenslange Gaben.

Einige lachten, als das Lied beendet war, andere blickten traurig. „Der arme Mann", meinte auch Kriszta.

„Unsinn, er hat bekommen, was er verdient hat", widersprach Jolanta.

„Am Jagen ist doch nichts Schlimmes. Das sollte Ylvigur auch wissen, er jagt doch auch."

Der Genannte trat nun zu ihnen. „Aber nicht, um Trophäen zu bekommen. Dieser Jäger nahm nur das Geweih, er tötete nicht aus Hunger."

Hinter ihnen in der Menge entstand Unruhe. Zwei Menschen drängelten sich zwischen den dicht an dicht stehenden Menschen, die Ylvigur nun applaudierten. „Ylv!" rief eine Frauenstimme.

„Das ist nicht sicher", widersprach ein Mann.

„Unfug! Ich kenne seine Stimme ganz genau!" Die Frau, eine schmale, schlanke Gestalt mit rabenschwarzem Haar, hatte nun die Gefährten erreicht und strahlte auf. „Ich wusste es!" Sie warf sich Ylvigur an den Hals und küsste ihn herzlich auf den Mund. „Ich bin so froh, dass wir dich gefunden haben und es dir gut geht!"

„Und ich bin froh, dass du hier bist!", Ylvigur nahm die Frau in die Arme und erwiderte ihren Kuss. „Wie habt ihr hergefunden?"

„Wir fanden deine Nachricht", die Frau wollte weitersprechen, aber beide wurden sich nun bewusst, dass sie ganz im Zentrum der Aufmerksamkeit einer bestimmten Person standen.

Piroska stand neben ihnen, mit finsterer Miene und verschränkten Armen. Und mit einer Stimme, die nichts Gutes verhieß, fragte sie Ylvigur: „WER – IST – DAS?"

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