Schwindende Vorräte
Verblüfft betrachtete Piroska ihren Fund. Die Nadel war geformt wie eine Näh- oder Sticknadel – wohl eher letzteres, dachte Piroska, denn die Spitze war stumpf. Sogar das Öhr war gut ausgearbeitet worden. Doch die Nadel war viel zu klein, um damit arbeiten zu können. Zudem war seitlich ein kleiner Halbkreis angebracht worden.
Das hier war kein Arbeitsgerät. Es schien eher ein Anhänger zu sein, für eine Kette oder ein Armband. Aber wie konnte er in den Apfel gelangen?
Piroska vermutete zwar, dass jemand den Anhänger beim Ernten verloren hatte. Aber dann hätte sich das Schmuckstück zwischen den Äpfeln befinden müssen und nicht tief ins Fruchtfleisch eingedrückt.
Misstrauisch geworden schnitt das Mädchen nun alle Äpfel in sehr feine Scheibchen. Tatsächlich fand sich im ersten Apfel noch ein gebrochenes Kettenglied. Vermutlich hatte dieses den Anhänger mit der Kette verbunden, denn weitere Glieder entdeckte Piroska nicht. Und auch sonst nichts, was nicht in die Äpfel gehört hätte. Nur fiel ihr auf, dass alle Äpfel seltsame Löcher aufwiesen, die weder nach Wurmbefall noch nach Vogelfraß aussahen. Das Kerngehäuse fehlte bei allen Früchten. Aber Piroska wusste natürlich nicht, ob das schon so gewesen war, als sie das Obst in der Kiepe verstaut hatte oder ob die Frau Großmutter das verursacht hatte, als sie nach Schädlingen gesucht hatte. Vielleicht hatte sie brutal alles herausgeschnitten, was ihr zum Essen ungeeignet erschienen war. Piroska rümpfte die Nase. Als ob sie der Frau Großmutter angefaulte oder schimmlige Stellen in den Brei getan hätte!
Nachdem sie die Äpfel zu der Hirse gegeben hatte, nahm Piroska nochmals die Nadel zur Hand, holte dann ihr Schnupftuch aus der Schürzentasche und wusch es rasch aus. Sie breitete es auf dem Tisch aus, legte Nadel und Kettenglied darauf, wickelte beides sorgfältig ein und verstaute das feuchte Bündel wieder in ihrer Tasche. Wer immer den Anhänger verloren hatte, würde ihn vermissen und sich freuen, wenn Piroska ihn zurückerstattete.
Während sie die zweite Ladung Geschirr wusch, kam die Frau Großmutter zurück. Sie sah kurz in den Topf und nickte zufrieden. „Können wir in zehn Minuten essen?"
„Ja, ich denke schon", Hirse brauchte nicht lange zum Kochen und die Äpfel waren nun so fein geschnitten, dass sie schon fast von selbst zerfielen. „Habt Ihr noch Honig, Frau Großmutter? Ich würde gerne zwei Löffel davon hineingeben."
„Nein, der ist mir ausgegangen. Aber du hast recht, mit Honig würde es noch besser schmecken."
Piroska sprang auf. „Dann hole ich von dem Honig, den ich mitgebracht habe!"
„Du bleibst hier und machst weiter", die Frau Großmutter fischte den Kessel mit dem Besenstiel vom Dreifuß und balancierte damit Richtung Tür. „Zwei Löffel, meintest du?" Sie nahm einen sauberen Löffel vom Tisch und Piroska nickte. „Nun gut."
Die Frau Großmutter verschwand, kam aber kurz darauf mit dem Kessel wieder. „Ich habe den Honig dazugegeben. Vergiss das Umrühren nicht." Sie nahm sich zwei Tücher vom Herd, zwei Krüge vom Tisch und verschwand wieder in der Stube.
Piroska wunderte sich, dass die Frau Großmutter sie offenbar nicht in die Stube lassen wollte. Aber sie hatte zuviel zu tun, um sich viele Gedanken zu machen. Wenn die Frau Großmutter in zehn Minuten essen wollte, musste sie bis dahin nicht nur das Geschirr sauber haben, sondern auch so viele Regalbretter, dass sie das nicht Benötigte einräumen konnte. So rackerte sie sich weiter ab und stellte gerade die letzte Schüssel ins Regal, als die Frau Großmutter wieder erschien. Sie platzierte den neu gefüllten Hirsetopf und die beiden Krüge inmitten der Teller und Tassen und legte das Sieb unter der Pumpe ab. Piroska pustete sich die widerspenstige Strähne aus dem Gesicht, um nichts zu sagen. Sie würde später die Esswaren auf einem eigenen Regal sortieren.
Schüsseln und Löffel standen bereits auf dem Tisch und Piroska angelte nun den Kessel vom Feuer und tat der Frau Großmutter eine Portion auf. Dann griff sie die Becher und wollte sie unter der Pumpe füllen.
„Ich trinke Wein!" erklärte die Frau Großmutter. Piroska zuckte die Achseln und griff nach dem Krug, den die Frau Großmutter mitgebracht hatte. Beinahe hätte sie ihn gegen das obere Regalbrett geknallt; sie hatte mit mehr Gewicht gerechnet und ihre Hand mit dem Krug bekam zuviel Schwung nach oben. Verwundert sah sie hinein, der Krug enthielt kaum ein Drittel der Weinmenge, die sie gebracht hatte.
Sie füllte den Becher der Frau Großmutter mit Wein, ihren eigenen mit Wasser und setzte sich an den Tisch. Verstohlen blinzelte sie zur Frau Großmutter, aber die machte ihr nicht den Eindruck, als hätte sie die fehlende Menge bereits konsumiert.
Während der Mahlzeit sprach die Frau Großmutter von sich aus kein Wort. Sie aß schnell und sah kaum einmal zu dem Mädchen hinüber. Piroska irritierte das Schweigen, sie sprach gerne und viel. Darum hatte sie sich wohl auch mit Ylvigur so gut verstanden, er schien auch zu der Sorte Mensch zu gehören, bei denen man, wie ihr Vater oft sagte „das Mundwerk noch mal extra totschlagen muss, wenn sie sterben".
„Geht es Euch schon besser, Frau Großmutter?" erkundigte sie sich darum. Eigentlich hätte sie das gleich fragen müssen; vielleicht war die Frau deshalb auch so schlecht gelaunt und kurz angebunden.
„Wieso?" kam es barsch zurück.
„Äh – Mutter sagte, Ihr fühlt euch nicht wohl. Darum auch die Decken.", stotterte Piroska etwas hilflos. Diese Frau konnte selbst ihr die Sprache rauben.
„Ach so. Ja. Und die Decken sind hübsch, kannst du ihnen sagen.", ihre Mundwinkel zuckten etwas, aber es sah nicht nach einem Lächeln aus. Eher glaubte Piroska Häme in der Miene der Großmutter zu erkennen. Aber dafür gab es doch gar keinen Grund.
Nach dem Essen ging die Frau Großmutter in die Stube zurück, nahm aber wieder zwei Tontöpfe und ein Sieb mit. Piroska schüttete das Wasser draußen aus und sah sich auf dem Rückweg die Tür zur Stube genauer an. Leider hatte diese aber Riegel und kein Schlüsselloch; Piroska war eigentlich keine Schnüfflerin, aber jetzt hätte sie doch zu gerne gewusst, was die Frau Großmutter da eigentlich trieb.
An dem Sieb, welches ihr die Frau Großmutter mitgebracht hatte, klebte Hirse. Dieses Sieb war allerdings grobmaschiger als jenes, in dem Piroska die Hirse gewaschen hatte; hier war es die Hirse, die durchfiel und Fremdkörper wurden zurückgehalten. Die Frau Großmutter schien sehr genau zu sein, sie wollte wohl sichergehen, dass sie keine Halme oder gar Spelzen mitlieferten. Aber Piroska war sicher, dass die Frauen die Hirse sogar mehrmals durchgesiebt hatten, bevor sie den Sack gefüllt hatten.
Aus dieser Überlegung heraus schaute sie kurz in den Hirsetopf. Viel zum Raussieben konnte die Frau Großmutter nicht gefunden haben.
Der Topf war jedoch kaum zur Hälfte gefüllt. Piroska runzelte die Stirn; sie war sicher, die mitgebrachte Hirse hätte den Topf bis über den Rand ausfüllen müssen. Sie selbst an Stelle der Frau Großmutter hätte ganz sicher ebenfalls etwas Hirse beiseite gelegt, für die Vögel. Aber doch nicht so viel? Als Tierfreundin schätzte sie die Frau Großmutter nicht gerade ein. Andererseits, sie kannte sie ja kaum. Vielleicht zog die Frau die Gesellschaft von Tieren jener der Menschen vor; das mochte auch erklären, warum sie so alleine im Wald hauste.
Allzu viele Gedanken machte sich Piroska aber nicht mehr; sie konzentrierte sich auf ihre Putzarbeit. Aber sie vermerkte sich das alles. Auf jeden Fall wollte sie alles, was ihr aufgefallen war, mit Ylvigur besprechen. Vielleicht wusste er mehr über die Frau Großmutter oder er fand Erklärungen, die ihr nicht einfielen. Seltsam, sie kannte ihn erst einigen Stunden, aber sie schätzte ihn bereits sehr. Allerdings war ihre Bekanntschaft ja auch sehr intensiv gewesen, dachte sie schmunzelnd; sie hatten den ganzen Weg über miteinander über alles gesprochen, was ihnen gerade eingefallen war und sich damit auch schon gut kennengelernt.
Als Piroska zum vierten Male das Wasser ausgeschüttet hatte, kam die Frau Großmutter in die Küche und sah sich beifällig um. „Nicht schlecht. Du kannst nun in der Stube staubwischen."
Seufzend nahm sich Piroska zwei Tücher, feuchtete eines unter der Pumpe an und ging in den gegenüberliegenden Raum. Sie bekam gerade noch mit, dass die Frau Großmutter die Wanne erneut füllte. Wollte sie etwa den letzten Rest übernehmen? Mit dem Geschirr und den Regalen war Piroska bereits fertig, auch die Vorratsgefäße hatte sie allesamt von außen sauber geschrubbt. Eigentlich fehlten nur noch zwei Stühle und der Boden. Letzterer allerdings würde noch einiges an Aschenlauge und Muskelkraft erfordern.
In der Stube wischte Piroska alle Flächen erst feucht, dann trocken ab und sah sich dabei um, was vielleicht noch zu tun wäre. Wenn sie länger hier bliebe, würde sie die Dielen schrubben und diese sowie die Möbel einölen und polieren. Piroska liebte Holz; sie schnitzte heimlich und wenn sie ein Junge geworden wäre, hätte sie sicher eine Tischlerlehre begonnen. So tat es ihr in der Seele weh, das verkratzte, ungepflegte Holz der einstmals schönen Schränke und der dicken Dielen zu sehen.
Jetzt war sie jedoch zu müde, um noch viel zu tun. Sie wischte noch einige Vasen und Figuren ab, die in einem Regal standen und wunderte sich dabei, dass die Frau Großmutter so schöne Dinge hatte. Ob sie wohl töpferte?
Als sie in die Küche zurückkam, sah sie gerade noch, wie die Frau Großmutter die Tücher zusammenraffte, die sie vor der Wanne liegen hatte. Sie nahm sie mit einiger Mühe hoch, sie schienen schwer gefüllt zu sein. Offenbar hatte sie in der Wanne einige Gegenstände gewaschen. Mit den Tüchern eilte die Frau in die Stube und hinterließ Piroska die restliche Arbeit. Der Ausguss unter der Pumpe war mit dem Sieb und zwei Töpfen gefüllt. Die würde Piroska nicht stehen lassen!
Das Wasser in der Wanne war unglaublich fettig und klebrig. Es half nichts, sie musste es erneut wechseln. In einem Winkel ihres Hirns überlegte sie träge, was der Frau Großmutter wohl soviel wert sein konnte, dass es selbst wusch, obwohl sie ja offenbar zuließ, dass es dermaßen verdreckte. Aber in der Hauptsache dachte sie an ihre Arbeit. Inzwischen war sie so müde, dass jede Handlung bewusstes Denken erforderte. Andererseits war sie zur Erntezeit noch Schlimmeres gewohnt. Sie würde erst schlafen, wenn der Boden sauber genug war, um davon essen zu können.
Die Frau Großmutter trat ein, als Piroska als letzte Handlung die Steine vor der Feuerstelle scheuerte. „Du kannst jetzt schlafen gehen", erklärte sie ihr. „Komm mit."
Piroska erhob sich dankbar und wusch sich die Hände unter der Pumpe. Es schmerzte etwas; die Haut war trocken und rissig geworden von der scharfen Aschenlauge.
„Kann ich etwas Schmalz oder Öl haben?" fragte das Mädchen schüchtern.
„Wozu?"
„Für meine Hände. Sie sind aufgesprungen."
„Jugendliche Eitelkeit. Aber meinetwegen, nimm." Die Frau Großmutter wies auf den Schmalztopf und Piroska nahm sich einen Löffelvoll und rieb sich das Fett in die Haut. Es wunderte sie nun auch nicht mehr, dass auch dieser Topf wesentlich weniger enthielt als sie mitgebracht hatte. Vielleicht teilte die Frau Großmutter ja auch ihre Vorräte, damit sie nicht jedes Mal in die Küche gehen musste, wenn sie etwas brauchte? Piroska gähnte und verschob weitere Überlegungen ebenso wie weitere Arbeiten auf morgen.
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