Schwieriger Aufbruch

„Puh, endlich unterwegs!" Piroska pustete sich die wieder gelöste Strähne aus den Augen und rückte die Tragriemen auf ihren Schultern zurecht. Die Kiepe war schwer und die Riemen drückten sich tief in ihre Haut. Einen Moment lang dachte sie darüber nach, zurück zu gehen und sich Polster unter die Riemen legen zu lassen. Immerhin würde sie gut sechs oder sieben Stunden unterwegs sein und sie wollte sich noch nicht vorstellen, wie ihre Schultern am Abend aussehen würden.

Dennoch entschied sie sich dagegen. Wenn sie noch einmal im Haus auftauchte, würde den geschäftigen Damen zweifellos noch mehr einfallen, was sie unbedingt mitnehmen sollte. Und sie würden bemerken, dass Piroska sich den Knüttel ihres Vaters zum Joch über die Schultern gelegt hatte. Mädchen sollten eigentlich nach Meinung der Dorffrauen keine Waffen tragen. Aber Piroska bezweifelte, dass sich Wölfe oder Räuber von ihrem ohnehin nicht vorhandendem Charme beeinflussen ließen. Würde sie einem davon begegnen, würde sie sich ihrer Haut wehren!

Sie würde den wortwörtlich schweren Gang schon überstehen. Und auf dem Rückweg hatte sie ja nur eine leere Kiepe. Und das Joch, wie ihr jetzt einfiel. Ob sie das dann in die Kiepe stecken konnte? Und dann kam ihr der Gedanke, dass sie ja auch einiges an Gefäßen mitschleppte. Wenn die Frau Großmutter nicht gerade Töpfereien sammelte, würde sie ihr vermutlich das mittlerweile geleerte Geschirr von der letzten Gabe mitgeben.

Fast wäre Piroska doch umgekehrt. Aber inzwischen war sie bereits am Dorfrand angekommen, die halbe Bevölkerung hatte ihr bereits zum Abschied gewinkt und ein „Lebewohl" und „viel Glück!" hinterhergerufen. Etliche hatten sie angehalten, um noch ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Es kam ihr schon vor wie Spießrutenlaufen, auch wenn statt Schlägen nur Abschiedsworte und gute Ratschläge auf sie niederprasselten. Allmählich sehnte sich Piroska nach der Stille des Waldes. Und danach, endlich mehr als fünf Schritte hintereinander gehen zu können, ohne erneut anhalten zu müssen.

„Piri!" Seufzend blieb sie erneut stehen. Marian lief ihr entgegen, so schnell das einem stämmigen Jungen mit einem jungen Rothirsch auf den Schultern möglich war. „Piri, du gehst zur Frau Großmutter? Wann kommst du wieder?" Er legte den Hirsch auf dem Boden ab und umarmte sie heftig. „Pass bloß auf dich auf. Ist es nicht besser, wenn ich mitkomme? Ich muss immer daran denken, was mit Kriszta passiert ist!"

Das wunderte Piroska nicht. Kriszta war immerhin seine drei Jahre ältere Schwester gewesen und die beiden hatten sich sehr nahe gestanden. Krisztas Verschwinden – Tod wagten weder er noch Piroska zu denken – hatte ihn sehr mitgenommen. Und Piroska musste zugeben, dass ihr bei dem Gedanken, das gleiche Wagnis einzugehen, auch alles andere als wohl zumute war. Trotz des Knüttels und des Umstands, dass nach Kriszta schon drei weitere Mädchen aus dem Dorf unbehelligt zurückgekommen waren.

Marian hätte ihr als Begleitung durchaus gepasst. Dann könnten sie miteinander reden und so die Zeit verkürzen, im Falle eines Angriffs könnten sie sich gegenseitig Deckung geben und Marian würde ihr sicher auch das Joch abnehmen. Andererseits würden die Frauen ihm dann sicher auch eine Kiepe aufnötigen – es war so viel, was noch liegengeblieben war. Piroska hatte sich schon gefragt, wie die Frau Großmutter das alles in zwei Wochen aufbrauchen wollte; immerhin lebte sie alleine und hatte niemals Gäste, mit Ausnahme der Mädchen, die ihr Nachschub brachten.

„Klingt nach ner guten Idee", gab sie zu. „Ich frag mich eh schon, warum immer nur einer gehen soll, wenn es doch so viel zu schleppen ist."

Marian nickte. „Zu zweit können wir uns besser gegen die Wölfe verteidigen. Und die Last verteilen; sie haben dir ganz schön was aufgeladen. Warte kurz hier, ich bringe den Hirsch zu Göran und komme dann gleich zurück."

Wenn ihm das gelingen würde, ohne weitere Bürden aufgeladen zu bekommen, wäre das sehr gut. Piroska setzte sich auf die Mauer, die den höher gelegenen Anger umgab, so konnte sie die Kiepe auf dem Gras hinter ihr aufstützen sowie Schmalztopf und Hirsesack auf dem Wegpflaster abstellen.

Die Sonne stieg höher und wärmte mehr, während sie wartete; wesentlich länger als sie vermutet hätte. Offenbar hatten die Frauen Marian doch zu fassen bekommen. Aber als er endlich wieder auftauchte, kam er ohne Last, dafür in Begleitung Görans und Katinkas. Beide sahen ziemlich verärgert aus.

„Piri, so geht das nicht", schimpfte Katinka schon aus einigen Metern Entfernung. „Du kannst nicht einfach beschließen, Marian mitzunehmen. Die Frau Großmutter möchte nicht, dass mehr als einer zu ihr kommt. Und sie kann auch nur einen für die Nacht unterbringen!"

„Ich kann draußen schlafen", bot Marian an, aber Göran winkte ab. „Das kommt gar nicht in Frage! Außerdem brauche ich dich hier! Piroska, merk dir das, du gehst alleine! Du darfst niemanden zur Frau Großmutter mitnehmen, wer immer es auch ist, verstanden? Das fehlte noch, dass du die Leute hier von der Arbeit abhältst, wir brauchen jede Hand im Augenblick!" Unvermutet lächelte er Piroska an. „Ich kann verstehen, dass du dir Sorgen machst wegen der Wölfe. Als Kriszta ging, war ich dagegen, weil ich bereits Wolfsspuren im Wald gesehen hatte. Aber in den letzten drei Monaten habe ich im Wald keine Anzeichen gesehen, es scheint, als ob das Rudel zurzeit in einem anderen Teil des Waldes jagt."

Eingeschüchtert nickte Piroska. Göran hatte großen Einfluss im Dorf und auch das als störrisch und hartnäckig verschriene Mädchen überlegte es sich dreimal, dem hochgewachsenen Jäger zu widersprechen. Zumal bewegte sich Göran mit seinen Jagdgehilfen regelmäßig im Wald und hatte bisher nur sehr selten Blessuren davongetragen. Den Jägerlehrling Marian mitzunehmen schien ihr immer noch eine gute Idee zu sein, aber wenn die Erwachsenen es ihnen verboten, war da nichts zu machen. Auch Marian wirkte nicht sehr glücklich mit dieser Entscheidung.

„Ihr könnt euch noch verabschieden", gestattete Katinka den beiden. „Und dann siehst du endlich zu, dass du fortkommst, Piri! Und leb wohl!" Göran nickte bekräftigend. „Du hast noch einiges vor dir. Lebwohl, Piroska. Und sieh zu, dass du vor dem Abend bei der Frau Großmutter eintriffst." Sein Blick fiel auf den Knüttel und er grinste anerkennend, sagte aber nichts dazu, wohl um seine Frau nicht darauf aufmerksam zu machen.

Als die beiden gingen, fiel Marian ihr erneut um den Hals. „Ich habe echt Angst um dich", gab er zu. „Erst Stepan, dann Kriszta! Meine Schwester zu verlieren war so hart für mich. Und wenn jetzt auch noch meine beste Freundin geht, habe ich niemanden mehr."

„Ich komme ja wieder", versprach Piroska und erwiderte die Umarmung.

„Hoffentlich", Marian seufzte. „Ich weiß, du wirst den Weg nicht verlassen und dich eilen und nicht in der Nacht im Wald bleiben. Sie sagen immer, wenn du dich daran hältst, kann nichts passieren. Aber, Piri, Kris hatte Angst vor den Wölfen, weißt du? Viel mehr als du. Du weißt, sie ist nicht tapfer und wehrhaft wie du. Damals wollte ich auch mitkommen, aber Katinka meinte, Kris müsse endlich lernen, allein zurecht zu kommen. Piri, ich bin mir sicher, dass Kris keinen Meter vom Weg abgewichen ist und sich stets an alle Anweisungen gehalten hat. Auch auf dem Rückweg, wenn sie so weit gekommen ist. Und trotzdem ist es passiert!"

Piroska gab ihm im Stillen recht. Auch sie hatte es gewundert, dass ausgerechnet Kriszta ungehorsam gewesen sein sollte. Aber im Dorf herrschte die einhellige Meinung vor: Wenn die Mädchen auf dem rechten Weg blieben und vor allem nicht trödelten, konnten ihnen die nachtaktiven Wölfe nichts anhaben. Und die Wegelagerer, welche schon seit zwei Jahrzehnten die Gegend in der Grafschaft unsicher machten, würden ihnen auch nichts tun. Weder Piroska und ihr Bruder noch ihre beiden Freunde hatten jemals verstanden, wo die Alten diese Sicherheit hernahmen.

Marian betrachtete Piroskas Kapuze. „Die sieht aus wie die, die Kriszta aufsetzte, bevor sie ging", bemerkte er.

„Die kann es aber nicht sein", erwiderte Piroska traurig. Sie hätte gerne die Kapuze der Freundin getragen, als Erinnerung an Kriszta. Aber deren Kapuze lag vermutlich blutig und zerrissen irgendwo im Wald. Vielleicht hatten sich bereits Mäuse darin eingenistet oder Eichhörnchen hatten sie als Polsterung in ihren Kobel gebracht.

„Sie haben Kriszta nie gefunden", erinnerte sie Marian. „Also auch ihre Kapuze nicht. Ich wusste gar nicht, dass sie eine rote Kapuze hatte." Zu Krisztas schwarzem Haar musste das Scharlachrot dieses Kleidungsstücks wunderschön ausgesehen haben. Sonderbar, dass Kriszta sie dann nicht öfters getragen hatte; sie hatte es geliebt – liebte es, verbesserte sich Piri in Gedanken – sich ein wenig herauszuputzen.

„Hatte sie auch nicht", antwortete Marian. „Mutter gab ihr die Kapuze unmittelbar, bevor sie aufbrach. Vielleicht als Geschenk, weil Kriszta es das erste Mal wagte, alleine fortzugehen. Selbst zum Markt mussten ja ich oder du sie immer begleiten." Er zupfte an einem Bändchen. „Sonderbar. An Krisztas Kapuze war auch das rechte Bändchen am Ende ausgefranst." Er bemühte sich um ein Lächeln. „Wahrscheinlich habt ihr Mädchen alle die Angewohnheit, am Bändchen herumzupfriemeln."

Piroska war klar, dass Marian versuchte, sich auf andere Gedanken zu bringen. Er hatte recht, mit den anderen Jungen im Dorf hatte er sich nie so gut verstanden wie mit den Mädchen und so war er meist mit ihr, Stepan und Kriszta zusammen gewesen. Würde sie nicht wiederkommen, wäre Marian zwar nicht einsam, aber ohne wirklich gute Freunde. Das wollte sie ihm nicht antun.

„Ich werde wiederkommen", versprach sie darum und stand jetzt energisch auf. „Ganz sicher!"

„Warte", Marian zog seinen Hirschfänger aus dem Gürtel. „Du hast nur den Knüttel dabei. Ich geb' dir den mit."

„Aber – dein Hirschfänger! Den hast du von deinem Vater bekommen, als du bei Göran angefangen hast!" Piroska konnte es nicht fassen, dass ihr der Freund seinen wertvollsten Besitz anvertrauen wollte.

„Du kannst ihn jetzt besser brauchen. Und so hast du noch einen Grund, wiederzukommen. Du musst ihn mir wiedergeben, er ist nur geliehen, in Ordnung?" Marian versuchte zu lächeln, aber es wurde nur eine Grimasse daraus.

Piroska sah ratlos an sich herab. „Und wo soll ich ihn aufbewahren? Ich habe keine Scheide am Schürzenband hängen. Und du weißt, dass die Frau Großmutter keine Waffen sehen will."

„Die muss sie auch nicht sehen", Marian kniete vor ihr nieder. „Ich stecke ihn dir in den Stiefel."

„Autsch!" Er hatte sie leicht geritzt.

„Verflixt! Moment mal!" Er nestelte die Scheide von seinem Gürtel ab, verstaute das Messer darin und fummelte an ihrem Stiefel herum, bis beides unter dem braunen Leder nicht mehr zu sehen war. Es war etwas eng, aber auszuhalten, fand Piroska, außerdem würde der Stahl ihren Fuß stützen. Den linken Fuß würde sie sich schon mal nicht vertreten, sollte sie über eine Wurzel stolpern.

„Vielen Dank, Marian, das ist wirklich eine gute Idee. Und jetzt muss ich aber wirklich los, sonst darf ich doch mitten im Wald übernachten." Sie grinste wesentlich munterer als ihr zumute war. „Und ich weiß noch nicht, ob ich lieber Wölfe oder Wegelagerer als Bettgenossen haben will!"

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