Ruhepause

Die nächsten Tage waren erfüllt mit Aktivitäten, aber dennoch erholsam für die Gefährten. Sie waren nun nicht mehr ständig auf der Flucht und mussten nicht mehr aufpassen, was sie sagten oder taten. Die Verlautbarung der Fürstin war in Kronburg überall verkündet worden und breitete sich nun allmählich auch im Land aus. Manche hielten es für eine Lüge, andere vermuteten einen politischen Schachzug dahinter, um die Wilkos zu schützen, aber die meisten Menschen vertrauten ihrer Herrscherin. Als Folge dessen wurden die Wilkos von vielen Kronburgern nicht gerade herzlich, aber doch freundlich empfangen, wenn sie sich auf dem Markt oder in den Werkstätten umsahen.

Zur Hälfte waren die Tage mit Besprechungen angefüllt. Der Pakt zwischen Menschen und Wilkos wurde neu verhandelt, die Ermittlungen bezüglich der Hehler, der Vermittler und der Wegelagerer hatten begonnen und die Falle für die letzteren wurde vorbereitet.

Bei den Verhandlungen erwies sich als größtes Problem, wie man die Steuern für die Wilkos berechnen sollte, die im Gegensatz zu den Bauern und Handwerkern nicht regelmäßig verdienten, da sie ihre Waren nur verkauften, wenn sie zufällig Geld brauchten. Ylvigurs Vorschlag wurde schließlich angenommen; er gab zu bedenken, dass die Wilkos ja keine Pacht für ihre Werkstätten zahlen sollten, sondern lediglich ihren Handel versteuern. Und da würde es genügen, Buch zu führen und einen gewissen Prozentsatz vom tatsächlich erzielten Gewinn abzuführen. Worauf Raifa Piroska beauftragte, den Wilkos beizubringen, wie so eine Buchführung ablief. Und Uke zu aller Überraschung sich bereit erklärte, das zu lernen und für das ganze Dort zu erledigen. Denn Piroska konnte das nicht auch noch übernehmen.

Schon am ersten Tag war sie nämlich in die Küche in Jolantas Heim eingedrungen, um ihrem Zukünftigen und seinem Rudel zu zeigen, dass sie tatsächlich backen konnte. Als erstes bereitete sie den versprochenen Apfelkuchen mit Honigglasur. Nach den ersten Probebissen saß sie dann am Küchentisch und schrieb der Köchin das Rezept auf, während Ylvigur fast den ganzen Kuchen allein vertilgte und sie dann noch weitere backen musste, damit auch die anderen ihn versuchen konnten. Und die Wilkos waren sich einig, dass nach der Rückkehr ein Backofen für Piroska absoluten Vorrang vor allem anderen hatte. Wobei sich auch die Frage stellte, wo man Mehl und Eier sowie Milch und Butter herbekommen wollte.

Das wurde jedoch gelöst durch Kriszta und Stepan. Beide hatten beschlossen, sich nach der Rückkehr selbstständig zu machen; die lockere Lebensweise der Wilkos sagte ihnen mehr zu als das allzu geregelte Dasein in den Dörfern. Raifa hatte den beiden von einer größeren Brandlichtung unweit des Auenwaldes berichtet, die sich nicht wieder geschlossen hatte, da die Rehe jeden hoffnungsfrohen Schössling gleich wieder auffraßen. Die Wilkos hatten bereits in Betracht gezogen, den Rehbestand in diesem Bereich stärker zu dezimieren.

Andererseits war das Gebiet nun frei und dank der Frühlingsüberschwemmung sowie der Düngung durch die verbrannten Bäume auch für Landwirtschaft geeignet und Stepan hatte beschlossen, wenn ihm der Boden zusagte, dort einen eigenen Hof zu errichten. Somit mussten seine Eltern auch ihr Versprechen gegenüber seinem Vetter nicht rückgängig machen. Da er dann auch einige wenige Kühe halten wollte, hatte Kriszta die Absicht verkündet, sich neben Stepans Hof anzusiedeln und dort Butter und Käse herzustellen. Da es viele Wilkos gab, die wie Ylvigur Käse liebten,  würde es ihr nicht an helfenden Händen und Pfoten beim Hausbau fehlen. Kriszta schmiedete schon eifrig Pläne für ihr Haus und sah sich nach Einrichtungsgegenständen um. Das wichtigste, ein großes Butterfass, hatte sie bereits erstanden.

Laneta und Malvina führten die Dörfler zu ihren Schneidern und so waren diese endlich in der Lage, ihre allzu lange getragene Kleidung zu wechseln. Lachend lehnten die beiden Städterinnen Stepans und Krisztas Schuldscheine sowie Ylvigurs Angebot, für seine Verlobte zu zahlen, ab und meinten, mit Jolantas Rettung sei ja schon alles abgegolten. So konnte Piroska ihrem Werwolf strahlend ein Musselinkleid in verschiedenen Grüntönen vorführen, das in ähnlichem Stil gehalten war wie jenes, welches Jolanta in Eliskas Keller abgelegt hatte.

„Grün steht dir großartig", stellte Ylvigur daraufhin fest. „Adrjian wird noch etwas warten müssen, zuerst werde ich dich mit grünem Leder ausstatten."

„Und ich werde es dir nähen", versprach Tala. „Jolanta wollte auch so eines, aber ihr würde ich eher ein lichtblaues empfehlen."

„Bekommst du das denn hin?" erkundigte Jolanta sogleich bei dem jungen Gerber und der lächelte. „Sicher. Färberwaid und Kreide, das ist kein Problem."

„Plauderst du hier gerade deine Geheimnisse aus?" Stepan lachte. „Du redest einfach zuviel."

„Es sind keine wirklichen Geheimnisse", meinte Adrijan dazu. „Die Farbstoffe sind allgemein bekannt. Aber wie Ylvigur es schafft, beide Farbstoffe zu mischen und sie ins Leder einzuarbeiten, ist sein persönliches Geheimnis. Kreide löst sich nämlich in Wasser, Färberwaid hingegen nicht. Ich habe ein wenig Ahnung von der Gerberei, aber es ist mir schleierhaft, wie man diese beiden Farbstoffe untereinander mischen kann und noch dazu einer Gerblohe zufügen." Auf Nachfragen hatte Ylvigur bereits verraten, dass er das Leder bereits während des Gerbvorgangs und nicht danach färbte.

„Machst du die Farben denn alle selbst?" fragte Kriszta bewundernd. Ylvigur lachte. „Nein, das nicht unbedingt. Einige ja, aber Färberwaid zum Beispiel darf Rando mahlen. Er stellt Farben her."

Das war das erste Mal, dass sie von Randos Gewerbe hörten. Jedoch nicht das letzte Mal, denn Rando suchte etliche Färbereien auf, um Wissen und Farbstoffe auszutauschen. Verblüfft stellten die Menschen fest, dass sie von den Wilkos mindestens soviel lernten wie diese von ihnen.

Ylvigur zum Beispiel verschaffte sich bei einem Gerber Vorräte an bereits gebranntem Alaun und verriet diesem dafür die Mixtur, mit welcher er entrindete Bäume behandelte, damit sie nicht abstarben. Asena sah sich bei den Messerschmieden um und verglich mit ihnen die Vorteile von Griffen aus Horn und Holz, während Maciej darüber staunte, dass die zarte Frau das Schmiedehandwerk beherrschte. Faolán und Uke deckten sich bei den Papiermachern mit Material ein und waren anschließend kaum aus der Bibliothek der Fürstin herauszubekommen. Ylvigur konnte daraufhin Adrijan doch eine schnellere Lieferung versprechen, da er für eine Weile kein Pergament mehr herstellen musste und sich ganz auf Leder konzentrieren konnte.

Gleichzeitig eröffnete sich ihm ein neuer Absatzmarkt. Denn Rando erfuhr bei seinen Erkundungen bei den Farbmühlen von der Existenz von Pinseln und dass die Pinselmacher ständig auf der Suche nach Marderhaar und Wildschweinborsten waren. Beides hatte der junge Gerber bisher bei der Lederherstellung entsorgt, wenn im Dorf der Bedarf an Pelzdecken und Fellbürsten gedeckt war.

Amarok sprach viel mit den örtlichen Ärzten und verriet zu Adrijans Entsetzen alle Mixturen, welche diesen noch nicht bekannt waren. Aber selbst der alte Kaufmann sah ein, dass hier die Behandlung von Krankheiten Vorrang hatte vor einem etwaigen Gewinn. Zudem revanchierten sich die Ärzte mit eigenen Rezepten und jenen Heilkräutern, welche im Wald nicht Fuß fassen konnten. Tala deckte sich mit Nadeln ein und tauschte Sticharten und Schnitte mit den Schneidern aus. Varg besuchte viele Händler und Handwerker, erkundete die Preise und Anzahl der benötigten Waren und schloss einige Handelsverträge ab. Und Raifa unterhielt sich gerne mit den Richtern und Rechtgelehrten über Gesetzgebung und Rechtsprechung.

Natalia beobachtete diesen Austausch der Kulturen und wurde immer sicherer, dass der neue Pakt mit den Werwölfen nicht nur seit langem notwendig gewesen war, sondern auch allen Beteiligten erhebliche Vorteile bringen würde. Danijel war der gleichen Meinung. „Und die Leute zumindest in Kronburg werden sich bald anschließen", fügte er hinzu. „Seit der Sonnenwende haben die Hassprediger eine Menge Gefolgsleute verloren. Und die hier ansässigen Wilkos sind weniger Anfeindungen ausgesetzt."

„Also beruhigt sich die Lage wieder?"

„Wieder?" Danijel lachte auf. „Ich würde eher sagen, sie erreicht ein Maß der Ruhe, welches sie nie zuvor hatte. Unsere Gäste tragen sehr viel dazu bei, indem sie neugierig überall reinschnuppern, aber auch Sachkenntnis und fachliche Fähigkeiten zeigen. Und ihre Bereitschaft, jeden verlangten Preis zu zahlen, ohne zu feilschen, nimmt die Händler natürlich auch für sie ein!"

Natalia kicherte leise. „Das kann ich mir denken! Das wird aber nicht lange dauern, denn Varg scheint der einzige von ihnen zu sein, der ein gewisses Gespür für den Wert des Geldes hat. Und er ist derjenige, der den Handel mit Wilkin kontrolliert." Sie wurde wieder ernst. „Ich fürchte nur, dass die Leute nun die Wilkos einfach als etwas naive Menschen kennenlernen und nicht mehr als Werwölfe. Sie müssen jedoch lernen, auch diese Seite mindestens nicht abzulehnen."

„Ich glaube, da ist keine Gefahr", meinte Danijel lächelnd und öffnete eines der Fenster, die zum Platz hinausgingen. „Schaut nur, Hoheit."

Neugierig sah Natalia hinaus und fing an zu lachen bei dem Anblick, der sich ihr bot. Tala, Uke und Varg hatten eine Reitveranstaltung mit den Kindern der Stadt organisiert. Die Reittiere waren – die Fürstin erkannte es anhand der Fellfarbe seitlich des grauen Rückenfells, die mit der Haarfarbe der Wilkos in menschlicher Form übereinstimmte – Amarok, Axeu, Ylvigur, Rando und Faolán. Kreischend vor Vergnügen klammerten sich die Kinder im weichen Wolfsfell fest, von zunehmend weniger besorgten Müttern beobachtet.

Die Werwölfe waren in ihrer tierischen Form um einiges größer als natürliche Wölfe und somit furchterregender. Aber dafür waren sie intelligenter und konnten unterscheiden, wer ihnen übelwollte und wer nicht. Als ein Knabe versehentlich gegen Ylvigurs Nase trat, heulte dieser zwar auf, dass rund um den Platz die Menschen aus ihren Häusern traten, um nach der Ursache zu sehen, aber er biss nicht zu, wie es ein natürlicher Wolf oder ein Hund getan hätte.

„Nun gut, aber sie scheinen noch nicht zu erkennen, wie gefährlich auch Werwölfe sein können", die Fürstin runzelte besorgt die Stirn. „Die Menschen dürfen die Wilkos nicht mit gezähmten Nutztieren verwechseln."

„Ich glaube nicht, dass sie das tun", versicherte Danijel. „Es ist ihnen ja auch bewusst, dass ihre Hunde und Katzen im Grunde Raubtiere sind. Und dass Pferde und Bullen zwar gehorsame Zugtiere sind, aber in Panik oder Rage eine große Gefahr darstellen."

Auf dem Platz war Tala wohl zu der gleichen Erkenntnis gekommen. Oder jemand hatte gefragt, wie es Ylvigur gelungen war, aus der Zelle zu entkommen – die Abenteuer der Gefährten waren mittlerweile den meisten bekannt. Jedenfalls nahm Ylvigur nun einen zweifingerdicken Stock ins Maul, schob ihn zwischen die hintersten Backenzähne und biss kräftig zu. Der Stock zersplitterte und der Wolf spuckte die Stücke aus.

„So also hat er es geschafft", auch Natalia hatte sich das schon gefragt.

Danijel nickte. „Mit den hinteren Backenzähnen können sie sogar Knochen zerbeißen. Das relativ weiche Holz der Pritschenbeine war demnach kein Hindernis für ihn."

Die Menschen auf dem Platz bejubelten das Kunststück, statt zu erschrecken. Nur ein Mann stand mit gerunzelten Brauen und verzogenem Mund dabei. Danijel wies auf ihn. „Noch vor wenigen Wochen konnte er die Menschen mühelos gegen die Wilkos aufwiegeln. Jetzt glaubt ihm keiner mehr. Den Leuten wird allmählich klar, dass die Wilkos in der Stadt sich jederzeit gegen die Attacken hätte wehren können und es bewusst nicht getan haben, weil sie ihre körperliche Überlegenheit nicht ausnutzen wollten."

Rando hatte nun die Fürstin am Fenster entdeckt und rief zu ihr hoch: „Dürfen wir mal randalieren?"

„Solange ihr nicht übertreibt", rief sie zurück.

„Nein, nur eine Bank kaputtmachen."

„Na gut, aber nur eine!" Natalia hatte inzwischen den großen Mann in Seemannskleidung ausgemacht, um den sich viele Leute gruppiert hatten. „Ich vermute, das ist der Kapitän, der mir geschrieben hat", sagte sie zu Danijel. „Er scheint ihnen von Ylvigurs und Piroskas Flucht erzählt zu haben."

Dem war offensichtlich so. Denn Rando biss nun unter dem Jubel der Kinder die Beine einer der im Boden eingemauerten Bänke durch, bis sie frei war. Dann wurde er zum Menschen, zog sich auf den Befehl einiger empörter Mütter schleunigst die Hose über und packte die Bank. Mühelos schwang er sie mehrmals um den Kopf und warf sie dann mehrere Meter weit zu Ylvigur, der inzwischen ebenfalls menschlich und bekleidet war. Und der fing die Bank mit einer Hand auf, warf sie hoch und fing sie mit der anderen Hand wieder auf.

Lachend schloss Natalia das Fenster wieder. „Sie führen wirklich vor, wer sie sind. Und die Leute zeigen keine Angst. Wahrscheinlich würden sie es tun, könnten sie die Wilkos bei der Jagd sehen."

Danijel zuckte die Schultern. „Wir Menschen schlachten unser Vieh. Das ist nicht weniger blutig."

Natürlich kam es auch zum Kräftemessen. Schon am nächsten Tag lud Maciej die Gefährten zu den Waffenübungen ein. Und musste sich beim Bogenschießen Ylvigur und Stepan geschlagen geben, die zwar zunächst mit den größeren Bögen der Soldaten Probleme hatten, dann aber eine Strohpuppe nach der anderen erschossen. Rando war zwar weniger geschickt, traf aber die aufgestellte Puppe mit solcher Kraft, dass sie in hohem Bogen hintenüber flog.

„Er hat mal ein Wildschwein mit zwei Pfeilen erlegt", verriet Varg lachend. „Und selbst wir jagen Wildschweine lieber mit Speeren."

„Zeigt mal", erwiderte Maciej nur und warf ihm einen Speer zu.

Die Puppe, die Varg damit abwarf, löste sich in ihre Bestandteile auf. Ylvigur hingegen traf statt ihrer das Gestell, an dem man sie aufgehängt hatte.

„Jagt ihr denn nicht als Wölfe", fragte Kriszta erstaunt.

„Doch", erwiderte Asena, die ihre Puppe mit zwei gutgezielten Speerwürfen 'erlegt' hatte. „Aber wir sind nicht lebensmüde. Wildschweine und Wisente gehen wir nur zu mehreren an oder eben mit Speeren."

„Ich jage auch gern nur mit den Messern", gab Ylvigur zu. „Dabei werden die Felle weniger beschädigt als wenn ich zubeiße."

„Ach, darum trägst du sie", Maciej lachte. „Ich dachte, du würdest dich auch im Messerkampf üben."

„Das tue ich auch."

„Oh?" Maciej riss plötzlich seine Dolche aus dem Gürtel. „Das möchte ich sehen!"

Ylvigur hob die Hände und seine Messer erschienen wie durch Zauberei darin. „Gerne!"

Axeu hob drei Finger hoch. „Drei Minuten!" Beide nickten, dann griff Maciej an. Ylvigur parierte sofort und gleichzeitig fuhr seine andere Hand vor. Maciej sprang zurück, sein linker Ärmel hing in Fetzen. „Verdammt, du bist gut!"

Den traditionellen Kampf mit zwei Messern beherrschten Menschen und Wilkos beide. Aus dem ersten Zusammentreffen entwickelte sich eine Art Turnier, jeder gegen jeden, welches Ylvigur klar für sich entschied. Axeu kam erst etliche Punkte nach ihm, Stepan und Faolán erwiesen sich als ebenbürtig, Varg und Tala waren hoffnungslos abgeschlagen,  Asena nur einen Punkt hinter Maciej.

„Ich hätte nie gedacht, dass eine Frau so gut kämpfen kann", zollte dieser ihr Respekt. Die Wilko zuckte die Schultern. „Mit dem Schwert bin ich besser."

Das wollte Maciej sofort bewiesen haben und bereute es schon in der ersten Minute. Asena schlug ihn beinahe mühelos. Und zu allem Überfluss kam Danijel in gerade dem Moment auf den Platz, als die Werwölfin ihrem Gegner das Schwert aus der Hand schlug.

„Willst du mitmachen?", fragte der Prinz ungnädig, doch der Adjutant schüttelte den Kopf. „Nein, nur mitteilen, dass alles vorbereitet ist."

Die Ruhepause war somit beendet.

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