„Hervorragend", stellte Vukan fest, während er sich das Hemd über den Kopf zog. Danijel nickte. „Ihr habt offenbar gute Arbeit geleistet."
„Ich verstehe kein Wort", gestand Natalia, während sie bereits nach einem langen Dolch griff. Ihr Adjutant lächelte. „Vukan und einige andere Wilkos halten die Frau Großmutter seit Wochen gefangen, lassen sie aber ihre Geschäfte fortführen wie bisher. Offenbar haben die Wegelagerer keinen Verdacht geschöpft."
„Wie habt ihr es geschafft, dass sie mitarbeitet?" Tala öffnete das Fenster und überprüfte die Lage draußen. „Gut, noch achtet keiner auf die Kutsche. Von deren Insassen erwarten sie sicher keinen Widerstand."
Vukan zog die Stiefel aus. „Sie wurde sehr kleinlaut, als ihr bewusst wurde, dass ich nicht in Wilkin lebe und mich jederzeit aus dem Wirkungsbereich von Natalias Gesetzen zurückziehen kann." Er ließ die Hose herunter und wollte sich verwandeln.
„Hilf mir erst hoch", forderte Tala und wand sich bereits durch das Fenster. Gehorsam fasste er ihre Beine und fädelte sie durch die Öffnung, bis Tala die Dachkante greifen konnte und sich hochzog. Dann reichte er ihr den Bogen und zwei gutgefüllte Köcher hinauf, wobei er der Fürstin eine gutgeformte Kehrseite aus unmittelbarer Nähe präsentierte, verwandelte sich nun doch und sprang aus dem Fenster.
Piroska zückte eines ihrer neuen Kochmesser, das größte unter ihnen, welches sie vorsorglich eingepackt hatte, und trat ans Fenster. Ausgerechnet Ylvigur sah sie und rief ihr zu: „Wehe, du gehst raus!"
Danijel, mit langem Dolch und Schwert bewaffnet, öffnete die Tür und drängte sich an ihr vorbei. „Er hat recht. Bleib drinnen, du könntest den Räubern höchstens in die Beine pieken."
Natalia griff an Piroska vorbei und löste eine Sperre, woraufhin das Fenster plötzlich doppelt so groß war. „So könnt ihr von hier beobachten und zustechen, wenn euch einer zu nahe kommt", erklärte sie. „Ich gehe ans andere Fenster." Mit ihrem langen Dolch hatte sie eine größere Reichweite als Piroska und Jolanta mit ihren Messern.
Die Mädchen stellten sich also ans Fenster und suchten sich erstmal einen Überblick zu verschaffen. Und schnappten nach Luft, als sie die Überzahl der Angreifer registrierten. Schon auf dieser Seite der Kutsche kämpften gut dreißig oder vierzig Räuber gegen zehn Soldaten. Wenn es auf der anderen Seite ebenso aussah, war es kein Wunder, wenn die Überfälle so erfolgreich abliefen, trotz der mangelnden kämpferischen Ausbildung. Denn selbst für sie war erkennbar, dass die mit Sackleinen verhüllten Gestalten nicht alle geübte Kämpfer waren. Manche schlugen einfach auf gut Glück mit ihren Knüppeln um sich oder stachen mit Messern auf alles ein, was ihnen zu nahe kam. Aber etliche zeigten erhebliches Geschick im Umgang mit ihren Waffen, die in der Regel Schlagstöcke, einfache Messer und Äxte waren. Die Soldaten hingegen waren mit Schwertern bewaffnet und kämpften zu Pferde. Die Wilkos ihrerseits waren offenbar als erstes von den Pferden gesprungen und stritten zu Fuß, einige als Menschen, andere als Wölfe.
Piroska wechselte kurz zum Fenster der Fürstin, um sich vergewissern, dass alle Wilkos noch unversehrt waren. Zwei Soldaten lagen bereits am Boden, zu schwer verletzt, um noch kämpfen zu können, doch den Werwölfen ging es noch allen gut, stellte sie aufatmend fest und kehrte an ‚ihr' Fenster zurück.
Dort wütete Ylvigur mit seinen Messern unter den Räubern, die vergeblich versuchten, ihn mit der größeren Reichweite ihrer Knüttel von sich abzuhalten. Der Maske wegen, die er laut Amarok erst in einigen Wochen ablegen sollte, konnte er sich während des Kampfes nicht verwandeln, zeigte aber den Räubern, dass seine Klingen und vor allem seine Füße nicht weniger gefährlich waren als Krallen und Gebiss gewesen wären. Gerade als Piroska ihn im Schlachtengetümmel wiedergefunden hatte, riss er das rechte Bein hoch und trat dem überraschten Gegner die Keule aus der Hand, bevor er ihm das Messer in den Oberarm bohrte. Fast gleichzeitig stach er mit der anderen Hand nach hinten und traf einen weiteren Angreifer an der Hüfte, der daraufhin erst einmal zurückwich. Offenbar musste sich Piroska keine allzu großen Sorgen um ihn machen.
Sie suchte nun nach den anderen. Stepan und Maciej standen beieinander, der eine mit dem Schwert, der anderen mit den Dolchen, die ihm der Prinz geschenkt hatte und wehrten zuverlässig einen Räuber nach dem anderen ab. Axeu schwang ebenfalls Schwert und Dolch, hinter ihm stand ein blonder Wolf und deckte seinem Zwillingsbruder den Rücken.
Raifa huschte als schwarzer Schatten zwischen die Kämpfenden, biss kräftig in Waden und durchtrennte Muskeln und Sehnen. Auf diese Weise waren die Gegner kampfunfähig, aber noch am Leben. Überhaupt schienen es die Werwölfe nach Möglichkeit zu vermeiden, den Menschen tödliche oder schwere Verletzungen zuzufügen. Talas Pfeile, die sie vom Kutschendach aus abschoss, fanden meistens Arme oder Beine und waren nie auf das Herz gezielt.
Amarok benutzte ebenfalls ein Paar Messer, ging aber sehr zielgerichtet vor. Als Arzt wusste er genau, welche Verwundungen besonders schmerzhaft, aber ungefährlich waren und nutzte das aus. Seine Gegner lagen wimmernd auf dem Boden und hielten sich die aufgeschlitzten Körperteile, bluteten aber nicht allzu stark. An seiner Seite focht Asena mit dem Schwert, welches sie als verkleidete Wache getragen hatte. Sie war eindeutig die Geschicktere der beiden und achtete sorgsam darauf, dass niemand ihrem Vater zu nahe kam.
Ein seltsames Paar bildeten Rando und Varg. Rando ging die Räuber als Wolf an und biss vor allem in die Hände, welche die Knüttel hielten. Sobald ein solcher gefallen war, nahm ihn Varg an sich und schleuderte ihn unter die Angreifer. Ohne Spitze vermochten die als Speer zweckentfremdeten Schlagstöcke nicht zu töten, aber wer vom stumpfen Ende an Kopf oder Brust getroffen wurde, ging lautlos nieder.
Faolán als einziger hatte beschlossen, die Vorteile beider Gestalten auszunützen. Er trug noch den Brustpanzer, hatte aber den Helm abgenommen und den Wolfskopf ausgebildet. Mit Schwert und einem kurzen Beil griff er die Wegelagerer an und biss zu, sobald er ihnen nahe genug gekommen war. Was nicht allzu oft geschah, denn die meisten ergriffen schon die Flucht, wenn sie des Wolf-Menschen-Wesens ansichtig wurden.
Die Wilkos erwiesen sich tatsächlich als gute Unterstützung, stellte auch Natalia auf der anderen Seite fest. Trotz ihrer guten Ausbildung hätten die Soldaten einen wesentlich schwereren Stand gegen die Übermacht gehabt, wären da nicht die Werwölfe mit ihren unkonventionellen Kampfmethoden eingesprungen.
Was die Fürstin am meisten erschreckte, war ein großer, stämmiger Mann mit wirrer, blonder Mähne, unter der man nichts von seinem Gesicht sehen konnte. Er schwang eine gewaltige Axt wie eine Sense und hackte beinahe mühelos in Beine und Körper. Jetzt verstand Natalia, warum Stepan von ‚Ummähen' gesprochen hatte. Für den Anführer der Wegelagerer schienen die Soldaten nur wie Strohhalme zu sein, die er auf seinem Weg zu ihrer Kutsche einfach aus dem Weg sichelte. Vier Soldaten und drei Pferde gingen bereits auf sein Konto, als ein Schreckensruf ertönte. Der Entsatz war angekommen.
Allen voran sprang ein halbwüchsiger, braun befellter Wolf, der sich als erstes auf einen Räuber stürzte, der sich von hinten an Varg angeschlichen hatte. Ebenso wie der große Bruder war Uke offensichtlich nicht gewillt, sich den Vater allzu früh nehmen zu lassen.
Der blonde Wegelagerer hatte die Kutsche der Fürstin schon fast erreicht, als die neu eingetroffenen Wachen dazwischengingen. Zwei von ihnen fielen fast augenblicklich unter den mächtigen Streichen der Axt; mit dieser Gewalt hatte keiner gerechnet. Sogleich umringten fünf Soldaten den Anführer, es war ihnen klar, dass ein einzelner nicht mit ihm fertigwerden würde.
Natalia winkte Jolanta zu sich. „Ist er das?"
Das blonde Mädchen sah hinaus und nickte. „Eindeutig." Sie schauderte. „Ich hatte solch eine Angst vor ihm. Aber ich habe mich gehütet, ihm das zu zeigen!"
"Gut so!", lobte die Fürstin und stach einem der Angreifer in den Arm, als dieser am Türgriff der Kutsche riss.
Piroska am anderen Fenster beobachtete die Kutsche der Bediensteten. Gerade hatte sich einer der Räuber zur Tür hinaufgeschwungen und durchs Fenster gegriffen. Jetzt fiel er mit einem Schmerzensschrei zurück, begleitet von einem „Huch!". Piroska grinste trotz der ernsten Lage. Kriszta hatte zielsicher zugestochen, sich dann aber wohl vor ihrem eigenen Mut erschreckt.
Jolanta kam zurück und wisperte: „Sieh dir den Anführer mal an." Ihre Augen waren feucht und sie drückte die Freundin kurz an sich. „Es wird besser sein", gab sie ihr voll Mitleid zu bedenken.
Piroska biss sich auf die Lippen und ging hinüber. Voll böser Vorahnungen blickte sie zu dem Axtkämpfer, der sich immer noch nicht geschlagen gab. Und sah ihn so lange mit geweiteten Augen an, dass Natalia Angst bekam. Vorsichtig legte sie dem rothaarigen Mädchen den Arm um die Schulter. „Kennst du ihn?"
Piroska nickte langsam. „Ja. Da bin ich mir sicher. Aber ich weiß nicht, wer es ist. Irgendetwas ist nicht richtig. Aber ich kenne ihn."
„Hau ab", schrie Jolanta in diesem Moment und stach mit ihrem Messerchen in eine Hand, die sich ans Fenster klammerte. Sofort huschte Piroska hinüber und half mit ihrem Kochmesser nach, den Banditen vom Kutschentritt zu entfernen.
Dann sah sie hinaus, wie es den anderen beiden Kutschen erging. „Diese Mistkerle!" rief sie empört. „Sie haben meine Formen und Messer ausgepackt und auf dem schlammigen Boden verteilt!"
„Wir können sie nachher zum Abwasch verurteilen", erwiderte Jolanta trocken und packte die Freundin am Arm. „Du wirst doch jetzt nicht rauswollen!"
Piroska nahm die Hand vom Türgriff. „Doch, wollte ich", gestand sie ein.
„Kannst du gleich tun. Sieh mal, unsere Leute gewinnen die Überhand."
Dem war wirklich so. Immer mehr Räuber lagen verletzt auf dem Boden, ergaben sich oder ergriffen das Hasenpanier. Rando und Raifa hetzten den Flüchtenden nach und brachten einige von ihnen mit gezielten Bissen zu Fall.
Ein Schrei auf der anderen Seite ließ die Mädchen sich zur Fürstin wenden. Aber nicht sie hatte geschrien. Fassungslos, aber stumm sah Natalia hinaus, während ihr die Tränen die Wangen herunterliefen.
Der Anführer der Wegelagerer hatte sich aus der Umklammerung der Soldaten befreit. Mit einem wuchtigen Streich hatte er einem der Männer den Kopf abgeschlagen und einem anderen so tief in die Schulter gehackt, dass der Arm halb abgetrennt war. Und bevor ihn jemand aufhalten konnte, war er unter die Bäume zurückgewichen.
Alle Werwölfe waren auf der anderen Seite des Weges beschäftigt. Bis man ihnen unter dem Schlachtenlärm verständlich hatte machen können, was geschehen war, war bereits zuviel Zeit vergangen. Aufgrund des vielen vergossenen Blutes waren die Wölfe für eine Weile nicht in der Lage, einzelnen Gerüchen nachzuspüren und der Flüchtige war schon längst nicht mehr zu sehen.
Trotz ihres Sieges herrschte eine sehr gedrückte Stimmung unter ihnen. Sie räumten auf – Piroska kümmerte sich als erstes um ihre verstreuten Kochutensilien -, versorgten die Wunden von Menschen, Werwölfen und Pferden und fingen fortgelaufene Pferde wieder ein. Die gefangenen Wegelagerer wurden gefesselt und auf die beiden Wagen verbracht, welche der Nachfolgetrupp für eben diesen Zweck mit sich geführt hatte. Amarok packte seinen Rucksack aus und kümmerte sich zusammen mit dem Feldscher der Truppe um jeden einzelnen Verletzten. Wobei er Werwölfe, Wachen und Pferde vorzog und erst zuletzt nach den Räubern sah, aber keinen ohne Versorgung ließ.
Piroska klammerte sich lachend und weinend abwechselnd an Stepan und Ylvigur, über alles erleichtert darüber, dass keinem der beiden etwas Ernstliches geschehen war. Stepan hatte eine Prellung an der linken Schulter, wo ihn ein Knüppel getroffen hatte und Ylvigur einen Schnitt am rechten Oberschenkel, aber beide Wunden waren nur geringfügig und würden bald heilen. Trotzdem war Piroska besorgt und als sie sich nach Minuten immer noch nicht beruhigt hatte, schickte Ylvigur Stepan alleine mit Danijel zu den Gefangenen, um zu überprüfen, ob er einige von ihnen identifizieren konnte. Piroska war eindeutig nicht dazu imstande. Der Werwolf setzte sich auf den Kutschentritt, nahm seine Liebste auf den Schoß und tröstete sie auf seine Weise.
Natalia bedankte sich jedem ihrer Soldaten einzeln für seinen Einsatz, half Amarok beim Verbinden und sah mit starrem Gesicht zu, als sie die vier toten Wachen aufbahrten. Die Leichen wurden auf den Dächern der Gefangenentransporte befestigt. Von den Wegelagerern waren drei ums Leben gekommen, welche in die Wagen gelegt wurden. Sollten doch die Räuber ihren toten Kumpanen in die erstarrten Augen sehen.
Sie hatten eine erstaunliche Anzahl an Gefangenen gemacht. Stepan und dann auch Kriszta gingen alle durch und kamen bekümmert zurück; es war keiner aus ihren Familien oder sehr gute Freunde dabei, aber doch etliche, die sie flüchtig oder näher kannten. Was bisher nur fast sicher gewesen war, wurde nun zur Gewissheit – die Wegelagerer setzten sich aus Bewohnern der vier Dörfer zusammen.
Und ihr Anführer war unerkannt entkommen.
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