Habt ihr davon gewusst?

Natalia rieb sich die Augen. „Manchmal ist Regieren schon anstrengend", stellte sie fest. Raifa lachte. „Da sagst du was!"

„Du hast wesentlich weniger Leute, die du lenken musst!"

„Ja, aber die sind sehr viel störrischer als deine."

„Trotzdem bekommst du jetzt meine noch dazu. So schnell bekomme ich keinen Ersatz in die Burg gesetzt."

„Schon gut, ich hab ja zugestimmt, die Aufgaben deines Grafen für eine Weile zu übernehmen. Aber lass das nicht zu einer Dauereinrichtung werden."

„Es ist ja nicht immer so arbeitsreich wie heute."

„Darum geht es nicht. Wir wissen zu wenig über euch. Und es wird den Menschen nicht gefallen, wenn sie einer Wilko gehorchen müssen."

„Nach allem, was sie mit deinem Vorgänger erlebt haben, werden sie jeden willkommen heißen."

„Sicher. Aber nicht für lange."

„Ich werde dich auch nicht allzu lange warten lassen. Aber so ein, zwei Jahre können es schon werden." Natalia wandte sich dem nächsten Bauern zu, der an den Tisch trat. „Und was hast du zu gestehen?"

Als sich nach dem Kampf Jäger gegen Werwolf, den entgegengesetzt zum Märchen der Wolf gewonnen hatte, die aufgescheuchten Gemüter sich wieder einigermaßen beruhigt hatten und Göran verbunden war, hatte Natalia in aller Ausführlichkeit geschildert, was mit den Mädchen geschehen war, die man mit roter Kapuze versehen zur Frau Großmutter gesandt hatte. 

Das hatte die Dörfler sehr aufgeregt und es hatte sich herausgestellt, das tatsächlich nur wenige Bescheid gewusst hatten. Die meisten Bewohner von Altkirch hatten die Mär vom bösen Wolf geglaubt und auch einige derjenigen, die ihre Töchter fortgesandt hatten, kannten nur die Version der Frau Großmutter und nicht die bittere Wahrheit. Zwei Elternpaare hatten nicht einmal das geahnt; Katinka hatte ihren Töchtern die rote Kapuze gegeben, ohne den Eltern deren Bedeutung zu erklären.

 Nun baten die verstörten Eltern darum, ihnen bei der Suche nach den Verschwundenen behilflich zu sein. Da konnte Kriszta helfen, die einige von ihnen bei Eliska getroffen hatte. Andere Dörfler kamen, um ihre Teilnahme an Überfällen oder dem Verstecken der Beute zu gestehen. 

Bevor die Lage unübersichtlich wurde, zeigte Ulryk, dass man ihn nicht umsonst zum Bürgermeister gemacht hatte: Er ordnete an, die Bänke und Tische, die sonst bei Feiern gebraucht wurden, auf dem Anger aufzustellen und brachte selbst seinen Amtsstuhl für die Fürstin. Und alles Papier, welches er aufzutreiben vermochte. Nun waren Natalia, Danijel, Maciej, Vukan, Raifa und Varg damit beschäftigt, all die Geständnisse zur Kenntnis zu nehmen und zu Papier zu bringen, Tatsachen zu sortieren und die Namen und Beschreibungen der vermissten Mädchen zu notieren. Die Dörfler hatten sich schnell in die Lage gefügt, sich brav auf die Bänke gesetzt und warteten nun geduldig, bis sie an der Reihe waren.

Ein Teil der Soldaten suchte zusammen mit einigen Wilkos die Häuser nach weiteren Beweisen ab. Andere sorgten dafür, dass die Ordnung auf den überfüllten Anger erhalten blieb. Ein kleiner Trupp war zur Burg des Grafen geritten. Und natürlich bewachten zwei von ihnen die Scheune, in die man den inzwischen wieder wachen Göran und seine Frau eingesperrt hatte.

Piroska saß bei Kriszta, Stepan und Maciej an dem Tisch, zu dem die Familien der Vermissten kamen. Zwar konnte sie nicht viele Auskünfte geben, aber sie brauchte jetzt die Gegenwart von Bruder und Freundin. Und sie wollte Kriszta Halt geben. Es war bewundernswert, wie tapfer das schöne Mädchen ihrer Aufgabe nachging und Maciej angab, wen sie wo angetroffen hatte.

Denn während Dawid und Malia offensichtlich erfreut gewesen waren, ihre Kinder wiederzusehen, hatten Krisztas Eltern sehr kühl reagiert. „Ich hoffe, du erwartest jetzt nicht von uns, das Geld zurückzuzahlen, welches die Frau Großmutter uns gegeben hat", hatte ihre Mutter gesagt. Und ihr Vater hatte, von der Fürstin zur Rede gestellt, nur erklärt: „Sie ist doch selbst schuld. Sie ist so schön, dass es ihr ein Leichtes gewesen wäre, einen reichen Mann zu finden, der sie nicht nur ohne Mitgift nimmt, sondern auch uns unterstützt. Aber nicht einmal das war sie bereit, für ihre Familie zu tun. Und dafür ernährt und kleidet man sowas achtzehn Jahre lang." Nach einem Moment hatte er hinzugefügt: „Nach Hause braucht sie gar nicht zu kommen. Wir haben keinen Platz!"

Daraufhin hatte Marian nur gesagt: „Aber jetzt habt ihr mehr Platz. Ich gehe nämlich auch!" Nun war er mit Packen beschäftigt, denn Kriszta hatte ihm gleich erzählt, dass sie schon einen neuen Ort zum Leben gefunden hatte. Am nächsten Morgen wollten die beiden nach Wilkin aufbrechen.

 Raifa hatte ihnen Unterschlupf angeboten, bis ihr Haus fertig sein würde. „Ich habe ja viel Platz, da alle Welpen bereits aus dem Bau gezogen sind", hatte sie lachend gemeint. Und dann Kriszta in den Arm genommen. „Und wenn du neue Eltern haben willst, ich nehme sowas Liebes wie dich gerne zur Tochter." Daraufhin waren Kriszta die Tränen gekommen. Aber sie hatte sie energisch fortgewischt und konzentrierte sich jetzt auf jene Eltern, die ihre Töchter – und Söhne – wiederhaben wollten.

Denn es hatte sich herausgestellt, dass auch junge Männer an Eliska und ihre Kollegen gereicht worden waren. Etliche, bei denen vorsichtig angefragt worden war, ob sie zu Überfällen bereit wären, hatten vehement abgelehnt und waren somit zur Gefahr für Görans Leute geworden. Noch war der Jäger davor zurückgeschreckt, die eigenen Leute zu töten, aber er hatte die jungen Männer entführt und zur Frau Großmutter gebracht, ähnlich wie er es mit Jolanta getan hatte. Der Transport einer ‚eingesackten' Person war keine einmalige Aktion gewesen.

„Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ausgerechnet Göran zu solchen Greueltaten fähig war", sagte Piroska aus ihren Gedanken heraus.

„Ich hätte es ihm auch niemals zugetraut", gab Stepan zu. „Aber seit Ylvigur diese seltsame Geschichte von diesem Wolf Ruud erzählt hat, bin ich nachdenklich geworden. Ich glaube, so etwas wie mit Ruud ist auch mit Göran geschehen. Und das ging ja über Jahre hinweg; erst in den letzten drei, vier Jahren sind die Überfälle brutaler geworden. Am Anfang hatten die Händler nur den Verlust ihrer Waren und ihres Geldes zu beklagen und auch nur, die es verkraften konnten. Göran wurde nicht von einem Moment auf den anderen so grausam und erbarmungslos, das war ein langsamer Prozess. Hätte es nur jemandrechtzeitig bemerkt, wäre es nie soweit gekommen."

Piroska nickte. „Patryk erzählte doch von dem Jungen, der rücksichtslos überfahren wurde. Ich glaube, das war Görans jüngerer Sohn. Sein Tod muss Göran endgültig gebrochen haben. Ab da war ihm wohl alles egal."

„Meinst du, Ylvigur hat die Geschichte absichtlich erzählt?", überlegte Kriszta. In diesem Moment trat Jolanta zu ihnen. „Ganz sicher", gab sie ihren Senf dazu. „Wir beide hatten schon in Eliskas Kerker den Verdacht, dass jemand aus deinem Dorf dahintersteckt. Jemand, den du gut kennst, vielleicht sogar aus deiner Familie. Er wollte euch zum Nachdenken bringen."

„Er hat nie etwas gesagt?", wunderte sich Piroska.

„Nein, aber ich habe seine Blicke gesehen. Und mehrmals hat er mir bedeutet, meinen Verdacht nicht laut auszusprechen. Er wollte, dass du allmählich und von selbst dahinterkommst, damit es nicht ein so großer Schock für dich wird. Du hättest uns beiden ja auch kaum geglaubt, wenn wir dir so kurz nach unserem Kennenlernen erklärt hätten, dass die Menschen, die du als Kind shcon gekannt hast, zu solchen Taten fähig sind. 

Dadurch, dass du durch eigenes Nachdenken allmählich auf die Wahrheit gekommen bist, war es für dich hoffentlich leichter zu verarbeiten. Jedenfalls hat mirYlvigur damit begründet, warum er dich nicht mit seinem Verdacht konfrontierenwollte, sondern dich über geschickt gestellte Fragen selbst erkennen ließ, wasda vorgeht.""

„Ach, Piri, er ist wirklich lieb. Du hast großes Glück, dass du ihm begegnet bist", stellte Kriszta fest.

„Ja, finde ich auch", Piroska lächelte. „Aber denk dran, dass er mir ist!", mahnte sie dann die Freundin scherzend.

Kriszta musste lachen. „Keine Sorge, den kannst du alleine haben. Ich mag ihn, aber mir ist er zu frech und zu sorglos und leichtfertig. Ich kann mir schon vorstellen, dass du hinter ihm herräumen musst und ihn ständig zügeln, das wäre mir zu anstrengend."

„Ich weiß", Piroskas Augen leuchteten. „Aber das gefällt mir sogar. Er bringt mich immer zum Lachen und er sorgt dafür, dass ich die Welt nicht zu ernst nehme. Ich stelle mir eher vor, dass er mir den Putzlappen aus der Hand nimmt und beschließt, dass ich für heute genug getan habe."

„Sowas brauchst du auch", sagte Stepan liebevoll. „Ich denke auch, du hast da genau den Richtigen gefunden."

„Schau, sie kommen!", rief Jolanta in diesem Moment. Jetzt sahen auch die Gefährten die ausgesandten Soldaten zurückkommen. Sie hatten Zuwachs bekommen: Zwei Männer waren auf ihre Pferde gefesselt und ein halbes Dutzend andere waren zu ihnen gestoßen, denen man ansah, dass sie alles andere als Krieger waren.

„Meine Revisoren!", erklärte Natalia am nächsten Tisch den beiden Wilkos, die bei ihr saßen. „Ich habe sie vorausgesandt, damit sie die Bücher des Grafen überprüfen. Sieht so aus, als hätten sie einiges zu beanstanden."

„Wer ist der andere?", fragte Raifa. Stepan rief herüber: „Der Vogt! Er trieb immer die Steuern ein, den Grafen bekamen wir nie zu Gesicht."

„Verstehe ich das recht, es gibt noch viel mehr Arbeit?", stöhnte Vukan einen Tisch weiter. Axeu neben ihm lachte. „Deine Schuld, Bruder! Du wirfst dich ja immer auf jede Schreibarbeit!"

„Das wird dauern, bis ich wieder nach Hause komme", seufzte Vukan, aber Axeu lachte nur. „Da weiß ich eine Lösung. Rando, was hältst du davon, wenn du in zwei Tagen mit mir zu den Hennenhügeln aufbrichst? Ich kann dann Vukans armes Weib ablösen und du nimmst sie und ihre Welpen hierher mit?"

„Das ist eine sehr gute Idee!" Raifa und Vukan hatte das gleichzeitig gesagt und lachten sich nun an.

„Sieht so aus, als wäre hier so einiges geklärt", Ylvigur stand plötzlich hinter Piroska. „Komm mal mit. Und dein Bruder auch, ja?"

Verwundert standen sie auf. Bisher hatte Ylvigur an Natalias Tisch die Geständnisse mit angehört und die Fürstin damit überrascht, wie viele der Männer und Frauen er identifizieren konnte, die in der Sonnwendnacht des vorigen Jahres dabei gewesen waren. Auch Dawid und Malia waren unter jenen gewesen, die sich gestellt hatten und die Geschwister hatten sich bewusst abgewandt; sie hatten nicht mithören wollen.

„Was hast du vor?", fragte Stepan beklommen und Ylvigur seufzte. „Es wird euch nicht leichtfallen. Aber ihr müsst euch euren Eltern stellen. Besser jetzt als später."

„Sie schienen sich zu freuen, uns zu sehen", murmelte Piroska, als sie sich auf den Weg zum Hof machten. „Aber sie haben mich doch selbst fortgeschickt!"

„Über mich haben sie sich natürlich gefreut", meinte Stepan nur. „Immerhin hielten sie mich für tot. Aber ich glaube, als Piri fort war, haben sie sie doch sehr vermisst. Sie sind keine so zärtlichen Wesen wie ihr", damit bezog er sich auf den Umstand, dass der Werwolf auch im Gehen wieder den Arm um Piroska gelegt hatte. „Aber sie sind nicht ohne Liebe für uns. Sie zeigen es nur nicht so offen wir ihr."

Ylvigur nickte. „Ihr Menschen seid mir immer furchtbar kalt und gefühllos vorgekommen. Piroska habe ich vom ersten Moment an als sehr warmherzig wahrgenommen, das hat mich fasziniert. Und in den letzten Wochen, vor allem aber heute, habe ich gesehen, dass diese Kälte wohl für die meisten Menschen nur eine Maske ist." Er dachte einen Augenblick lang nach. „Wir haben solche Masken nicht nötig. Warum braucht ihr sie?"

„Weil wir Angst haben", sagte Piroska leise. „Angst davor, falsch verstanden zu werden, uns zu blamieren oder dass jemand unsere Gefühle ausnutzt."

Ylvigur drückte sie fester an sich. „Davor brauchst du bei uns keine Angst zu haben. Niemand wird dich auslachen oder ausnutzen und wenn wir dich nicht verstehen, kannst du es noch einmal erklären."

Piroska lächelte versonnen. „Ich weiß. Ich habe euch ja erlebt und ich bin mir sicher, dass ich mich bei euch wohlfühlen werde. Und mein Bruder und meine besten Freunde werden ja bei mir sein." Sie blickte zu Stepan. „Ich habe schon das Land gesehen, das sie dir geben wollen. Es ist recht nahe an unserem Haus."

„Aber hoffentlich nicht an Ylvigurs Werkstatt!"

„Nein, die ist weiter flussabwärts", beruhigte ihn der Werwolf. „Du wirst nichts riechen."

Kurz vor dem Hof blieb Ylvigur stehen. „Natalia hat den gesamten Gasthof belegt und auch an Zimmer für euch gedacht", erklärte er. „Ihr müsst also nicht bei euren Eltern unterkommen. Was dich anbetrifft, habe ich ohnehin eine andere Idee", er lächelte Piroska an.

„Hinter einem Gebüsch verschwinden?" riet sie und er lachte. „Nein. Aber wenn ich dich auf dem Rücken nehme und quer durch den Wald renne, sind wir in einer halben Stunde bei mir. Magst du? Wenn dich zu sehr erschreckt, was du gleich hören wirst?"

„Nicht nur dann!" Piroska trauerte noch dem nicht erhaltenen Kuss nach, den Rando so rüde schon im Ansatz unterbrochen hatte. Zudem hatte sie noch kaum Gelegenheit gehabt, mit ihrem Liebsten alleine zu sein.

„Du hast manchmal wirklich gute Ideen", meinte Stepan, der die leuchtenden Augen seiner Schwester sah. „Auch wenn ich mir denken kann, was du dir davon erhoffst."

„Ja, das vielleicht auch", gab Ylvigur lachend zu. „Aber vor allem braucht Piroska Ruhe und Abstand. Und Ablenkung."

„Na, für die wirst du schon sorgen", sagte Piroska trocken.

Malia und Dawid saßen am Küchentisch und sahen verwundert auf, als ihre Kinder eintraten. Ylvigur blieb in der Tür stehen, die Geschwister traten einige Schritte auf ihre Eltern zu. Stille trat ein; keiner wusste so recht, was er sagen sollte.

Irgendwann wurde es Ylvigur zuviel. „Wie wärs mal mit Entschuldigung", fragte er, an Dawid und Malia gewandt.

Malia traten die Tränen in die Augen. „Ja, du hast recht. Es tut mir sehr leid. Ich – ich habe dich so sehr vermisst, Piri."

„Es war falsch", gab Dawid zu. „Zumal wir nach Stepans Tod – das heißt nach seinem Verschwinden so froh waren, wenigstens dich noch zu haben." Er zögerte einen Moment.

„Raus damit", befahl Ylvigur von der Tür her. „Sag einmal, was du fühlst. Das sind deine Kinder, die tun dir nichts, wenn du nicht gleich die richtigen Worte findest."

Dawid gab sich einen Ruck. „Du warst uns im letzten Jahr ein großer Trost, Piri. Die rote Kapuze – ich glaube, das war die dümmste Idee, die wir jemals hatten." Malia nickte dazu, ihr liefen die Tränen die Wangen hinunter.

„War es wegen Martin?", Piroska versuchte nun doch, ihren Eltern bei der Aussprache zu helfen.

„Ja – und wegen Katinka. Sie redete ständig auf uns ein, wieviel leichter wir es hätten und wieviel besser es dir in der Stadt gehen würde."

„Ich glaube, die hat mich nie gemocht." Piroska schnitt eine Grimasse.

„Sie hätte aber nichts erreicht, wenn Martin nicht gewesen wäre", warf Malia ein. „Glaub mir, es fiel mir so schwer, dich herzugeben. Aber Martin weigerte sich zu kommen, solange du auf dem Hof warst. Du bist so hübsch und tüchtig und lebhaft und seine Braut will dich nicht einmal woanders im Dorf wissen, wenn sie kommt. Und es ging einfach nicht mehr weiter. Dawid arbeitet sich zu Tode und du hast ja auch immer so fleißig beigestanden und trotzdem reichte es nicht."

„Aber das wird ja jetzt besser werden", erklärte Dawid. „Ich habe das Gefühl, dieser Fürstin kann man vertrauen. Jetzt kann sich Martin zum Teufel scheren und jemand anders suchen, der ihm einen Hof vererbt."

„Du kannst dein Versprechen ihm gegenüber ruhig halten", erwiderte Stepan. „Ich baue mir nämlich einen eigenen auf."

Überrascht sahen sie ihn an. „Gibt dir die Fürstin einen Hof?", fragte Malia. „Hoffentlich nicht zu weit weg von uns." Sie bat ihn nicht zu bleiben. Beide wussten, dass sie zu weit gegangen waren, als sie Piroska die rote Kapuze gegeben hatten. Mit diesem Akt hatten sie beide Kinder verloren.

„Nicht die Fürstin, seine Leute", Stepan nickte zu dem Werwolf, der lässig am Türrahmen lehnte.

„Im Wald?", fragte Dawid verdutzt und als Stepan nur den Kopf neigte, sagte er sichtlich erfreut: „Das ist ja dann nicht weit weg!"

„Nein, etwas über zwei Stunden Weg, schätze ich", Stepans Antwort war zu entnehmen, dass er nichts gegen Besuch hatte. Später – sehr viel später.

„Ich vermute, du nimmst Piri mit", erkundigte sich Malia traurig.

„Nein. Die nehme ich mit", stellte Ylvigur klar.

„Wohin?", fragte Malia erschrocken. „Und wozu?"

„Zu mir. Ist in der Nähe seines künftigen Hofes. Und wozu? Um sie bei mir zu haben. Und ihr all das zu geben, was sie bei euch nicht bekam."

Malia blickte von Ylvigur zu Piroska. „Du – und dieser Werwolf? Du willst bei ihm leben?"

„Ganz ordentlich", beruhigte sie Ylvigur. „Bei uns wird auch brav geheiratet. Eine Mätresse brauche ich nicht, das ist eine Erfindung von euch Menschen." So schlecht kannte er die Menschen wohl doch nicht; er hatte durchaus verstanden, was Malia meinte.

„Aber – du weißt doch gar nicht, was dich da erwartet. Ich meine – er ist ein halber Wolf. Er ist nicht wie ein Mensch. Wenn du mit ihm ..." Verwirrt brach Malia ab.

Noch vor einigen Wochen wäre Piroska rot geworden. Aber sie war nicht mehr das naive, schüchterne Mädchen, welches ihre Eltern in den Wald geschickt hatten. „Keine Sorge, Mama, das habe ich schon ausprobiert. Es ist wunderbar und es gibt keinerlei Probleme."

Ihre Eltern wirkten geschockt, enthielten sich aber klugerweise jeder Bemerkung. Angesichts ihrer eigenen Taten war es nicht ratsam, die Tochter zu tadeln.

„Was ich wissen möchte", sagte nun Stepan. „Wieweit wart ihr eingeweiht? Wo habt ihr mitgemacht?"

Sie sahen sich an. „Am Anfang war ich einige Male bei Überfällen dabei", gab Dawid zu. „Später habe ich mich darauf beschränkt, die Knüppel und die Sackleinenumhänge zu fertigen und nach dem Überfällen zu verstecken. In der alten Scheune, die ihr nie betreten durftet, weil sie angeblich baufällig ist. Da unser Hof etwas abgelegen ist, war diese das ideale Versteck."

„Und ich habe oft Beutestücke in Brote und Kuchen eingebacken", gestand Malia. „Und das Sackleinen gewebt. Dafür bekamen wir dann immer einen kleinen Teil der Beute, also des Erlöses."

Piroska und Stepan wechselten einen Blick. Die Eltern waren also beteiligt gewesen, aber nicht so tief verstrickt, wie sie befürchtet hatten. Ylvigur hinter ihnen lächelte in sich hinein. Er hätte die beiden nicht zu diesem Gespräch gezwungen, hätte er nicht bereits Bescheid gewusst. So aber war ihm klar gewesen, dass eine rasche Aussprache das Beste war, bevor sich irgendein böser Verdacht festigen konnte. Wäre Dawid an den Morden beteiligt gewesen, hätte Ylvigur seine Braut und ihren Bruder nicht mehr nach Hause gehen lassen.

Inwieweit sie allerdings über Eliska im Bilde gewesen waren, hatte auch der Werwolf noch nicht herausbringen können und er fürchtete eine neuerliche Erschütterung für Piroska. Und Stepan erging es wohl nicht anders. Sehr leise fragte er: „Ihr habt gehört, was die Fürstin über die Arbeitsvermittler sagte. Habt ihr bewusst Piroska dem ausgesetzt?"

Beide wurden bleich. Dann sah Dawid Piroska direkt in die Augen. „Niemals", sagte er fest. „Wir dachten wirklich, es würde dir in der Stadt besser gehen. Wir hätten dich nicht gehen lassen, hätten wir geahnt, was da auf dich wartet." Sein Blick war absolut offen und ehrlich.

Piroska blickte zu ihm zu Malia, die nur zustimmend den Kopf bewegte. Aber dabei sah sie zur Seite. Irgendetwas in den Flammen des Küchenherdes musste sehr interessant sein.

Dawid schaute seine Kinder weiterhin offen an. Und diese tauschten einen hilflosen Blick. Genauso aufrichtig und glaubwürdig hatte Dawid damals dem Vogt in die Augen gesehen, als er ihm versichert hatte, der Wein müsse im Keller des Grafen umgeschlagen sein. Und der Vogt hatte ihm geglaubt.

Die Eltern hatten es gewusst. Vielleicht nicht alles, vielleicht nicht das Schlimmste, aber sie hatten es gewusst.

Ylvigur fand es nun genug. Noch mehr Leid sollten die Geschwister nicht tragen müssen. „Kommt", sagte er sanft. „Wir gehen."

Wortlos folgten sie ihm. Piroskas Hand stahl sich in Ylvigurs, drückte sie in stummen Dank. Ihre Augen trafen sich. Er lächelte sie an und sie erwiderte es. „Bald", flüsterte sie. „Eine halbe Stunde noch. Dann haben wir es hinter uns."

Stumm nahm er sie in die Arme, drückte sie fest an sich. Er würde dafür sorgen, dass sie all das Glück bekam, das sie verdiente, schwor er sich. Sie hatte genug gelitten.

Als sie die Haustür passierten, fiel Piroska jedoch noch etwas ein. Sie eilte zurück und rief ihren Eltern zu: „Wisst ihr noch, dass ihr mich gewarnt habt? Ich sollte mich im Wald vor Wölfen in Acht nehmen?"

„Ja?", brachte Malia mühsam heraus.

Piroska pustete sich die Strähne aus dem Gesicht und stellte triumphierend klar: „Eure Warnung war nichts als Unfug! Dem Wolf zu begegnen war das Beste, das mir je im Leben passiert ist!"

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