Gespräch mit einem Wolf
Piroska war wütend auf sich selbst. Es hatte so viele Hinweise gegeben, sogar Ylvigur hatte etliche Andeutungen gemacht, aber sie hatte geflissentlich alle missachtet. Selbst der Traum hatte ihr Ylvigur als Wolf gezeigt. Allerdings auch alle anderen. So ganz verstand sie das Traumbild immer noch nicht.
Ylvigur war ein Werwolf. Jetzt war ihr auch klar, warum er gesagt hatte, im Hünenwald gäbe es keine Wölfe. Sie konnte sich denken, dass natürliche Wölfe es vorzogen, nicht gerade in der Nachbarschaft von Werwölfen zu wohnen.
Aber hatten ihre Eltern davon gewusst? Dass sie nicht Tiere fürchten musste, sondern Wesen, die halb Tier, halb Mensch waren? Die über menschliche Intelligenz verfügten, aber auch über tierische Kräfte? Und tierische Sinne. Jetzt verstand sie, wieso Ylvigur so gut hören und sehen konnte. Und wie er in das schmale Fenster der Frau Großmutter gekommen war. Offenbar konnte er sich auch außerhalb des Vollmonds verwandeln. Aber in einer Vollmondnacht schien ihm keine Wahl zu bleiben.
Über Werwölfe wusste Piroska nur, was in ihrem Märchenbuch stand, aus dem ihr Stepan früher immer vorgelesen hatte. Und darin hieß es, Werwölfe seien normale Menschen, die unerkannt unter den Menschen lebten und sich nur in der Vollmondnacht verwandelten. Und dann von furchtbarer Blutgier ergriffen wurden und wahllos so viele Opfer wie nur möglich rissen. Am nächsten Morgen wussten sie angeblich nichts mehr von ihren Taten.
Der Wolf vor ihr sah allerdings nicht gerade aus, als wollte er sie packen und zerreißen. Er wirkte eher abwartend, wie ihr Hofhund, wenn er darauf hoffte, dass sie mit ihm spielte.
Vielleicht konnte sie den Wolf ja ablenken, dachte Piroska. Die meisten Hunde, die sie kannte, rannten hinter allem her, was sich bewegte und vergaßen im Spiel alles andere. Und Wölfe waren doch so ähnlich wie Hunde, oder?
Sie sah sich um und nahm schließlich einen dünnen Stecken auf, argwöhnisch vom Wolf beobachtet. Ganz langsam hob sie den Stock, um das Tier nicht aufzuschrecken und warf ihn dann von ihnen beiden fort.
Der Wolf sah dem Stock träge hinterher, dann blickte er sie mit offensichtlicher Verachtung an.
„Gut", flüsterte sie. „Spielen magst du offenbar nicht?"
Der Wolf öffnete das Maul weit und ließ die Zunge heraushängen. Piroska schrak zurück. Aber das schien keine Drohung gewesen zu sein; der Wolf rührte sich nicht und blickte sie weiterhin starr an.
„Du bist doch Ylvigur, oder?" Piroska wusste selbst, wie sinnlos es war, mit einem Tier zu sprechen; ihr Vater hatte es ihr oft genug gesagt. Aber sie hatte immer das Gefühl gehabt, dass die Tiere zwar nicht auf die Worte, aber auf ihre Stimme reagierten. Und ihr half es, mit Tieren umzugehen. Also sprach sie auch mit dem Wolf anstatt zu fliehen. Letzteres wäre ohnehin sinnlos gewesen, sie wusste, dass Wölfe wie Hunde vielleicht nicht jedem Stock, aber jedem fortlaufenden Lebewesen hinterherrannten.
Der Wolf nickte gemessen. Piroska traute ihren Augen nicht. Konnte es sein, dass Ylvigur auch noch in Wolfsgestalt wusste, wer er war und die Kontrolle über sein Handeln besaß?
„Kannst du sprechen?" fragte sie
Der Wolf schüttelte den Kopf. Sie wurde mutiger.
„Aber du kannst mich verstehen?"
Der Wolf verdrehte die Augen und nickte heftig.
„Und du willst mich nicht fressen?"
Der Wolf wiegte den Kopf, riss das Maul auf und ließ die Zunge heraushängen.
Leider konnte Piroska kein Wölfisch. Sie resignierte. „Du meinst, du wirst mich töten?"
Der Wolf schüttelte energisch den Kopf.
„Muss ich Angst vor dir haben?"
Kopfschütteln.
„Du weißt noch, wer du bist?"
Augenrollen und Nicken.
„Aber du hast gesagt, du würdest mich fressen."
Kopfwiegen.
„Nicht ganz?"
Aufgerissenes Maul und heraushängende Zunge.
„Was bedeutet das, wenn du das machst?"
Der Wolf wiegte wieder den Kopf und hob eine Pfote.
„War das ein Schulterzucken?"
Nicken.
„Und heißt das Kopfwiegen dann ‚Vielleicht' oder ‚ich weiß nicht'?"
Nicken.
„Bringst du mir gerade Wölfisch bei?"
Nicken, aufgerissenes Maul und heraushängende Zunge.
Piroska überkam eine Ahnung. Ylvigurs bevorzugte Mimik war doch ...
„Sag mal, bedeutet das", sie öffnete den Mund und streckte ihm die Zunge heraus, „etwa Lachen?"
Der Wolf nickte heftig mit weit offener Schnauze.
„Und worüber lachst du dauernd?"
Der Wolf sah sie unverwandt an und trat vorsichtig einen Schritt auf sie zu.
„Du lachst über mich? Du lachst mich aus?"
Nicken mit offenem Maul und hängender Zunge.
„Na warte!" Jetzt war es Piroska, die auf den Wolf zutrat. Dieser drehte sich sofort so herum, dass seine Hinterbeine außer Reichweite blieben. Piroska musste plötzlich lachen.
„Hast du Angst, ich trete dir wieder ans Schienbein?"
Nicken.
Jetzt konnte Piroska nicht mehr. Sie ließ sich auf die Erde sinken und prustete lauthals los. Das große Tier vor ihr mochte furchterregend aussehen, aber es war so eindeutig Ylvigur, dass sie jede Angst verlor. Schelmisch, spöttisch und dabei doch lieb und immer voll Angst um seine Schienbeine.
Der Wolf kam nun bedächtig näher. Piroska lächelte. „Komm nur. Ich habe keine Angst mehr vor dir."
Der Wolf warf einen Blick auf seine Hinterpfoten und wiegte den Kopf. Piroska kicherte. „Aber du vielleicht vor mir? Keine Sorge, ich trete dich nicht."
Daraufhin kam er direkt zu ihr und setzte sich.
„Wie lange bleibst du denn so?"
Der Wolf sah zum Mond, der zwischen den Bäumen durchschimmerte.
„Solange der Vollmond am Himmel steht?"
Nicken.
„Aber du kannst auch zu anderen Zeiten ein Wolf werden?"
Nicken.
„Aber beim Vollmond kannst du kein Mensch werden?"
Nicken.
„Jetzt verstehe ich das besser. Und du bist kein blutrünstiger Mörder?"
Kopfschütteln. Kopfwiegen.
„Mit Mörder meine ich, einfach töten ohne Grund. Ich kann mir vorstellen, dass du hinter Rehen und Kaninchen herjagst, aber die frisst du dann ja auch."
Der Wolf leckte sich die Schnauze.
„Ja, ich mag Rehfleisch auch."
Der Wolf legte ihr kurz die Schnauze auf den Schoß.
„Du würdest mir von deiner Beute abgeben?"
Nicken.
„Wie lieb von dir!"
Daraufhin schleckte der Wolf ihr die Wange ab.
„Huch! Was bedeutet das?"
Der Wolf legte den Kopf schief und blinzelte sie an.
„Das verstehe ich nicht."
Augenrollen.
„Das heißt wohl soviel wie Dummkopf?"
Wolfslachen.
„Ich grüble immer noch darüber, dass du mich fressen und nicht fressen willst."
Augenrollen.
„Willst du etwas Ähnliches mit mir machen wie fressen?"
Nicken. Lachen. Abschlecken.
Daraufhin verfolgte Piroska das Thema lieber nicht weiter. Eine Weile schwiegen sie miteinander. Irgendwann legte der Wolf seinen Kopf in Piroskas Schoss. Sie lehnte den Kopf an den Stamm des Baumes, an dem sie saß und beobachtete, wie der Mond immer höher stieg. Ihre Hand verlor sich in dem erstaunlich weichem Fell des Wolfes.
„Du hast schönes Fell."
Er leckte ihr kurz das Kinn.
„Heißt das danke?"
Nicken.
„Und schönes Haar", setzte sie hinzu. „So dicht und glatt. Meines verwirrt sich dauernd." Wie um das zu unterstreichen pustete sie die lästige Strähne fort.
Der Wolf setzte sich auf und betrachtete sie ernst. Dann schob er seine Schnauze in ihre Locken, die schon seit Tagen von keinem Band mehr gehalten wurden und rieb sich daran.
Piroska war erfreut. „Willst du sagen, du magst meine Locken?"
Er nickte. Und dann stupste er sie vorsichtig an der Hand.
„Willst du was von mir?"
Nicken.
Piroska überlegte, dann grinste sie plötzlich. „Ich habe doch gemeint, ich würde einen Wolf sogar hinter den Ohren kraulen. Magst du das?"
Nicken. Kopf in den Schoss legen.
Lächelnd legte Piroska ihre Hand auf den Kopf des Wolfes und kraulte ihn, wie sie es auch mit den Hofhunden immer getan hatte. Der Wolf seufzte wohlig.
Plötzlich fiel ihr etwas ein. „Du hast damals auch gesagt, vielleicht auch an anderen Körperteilen. Wo soll ich dich noch kraulen?"
Der Wolf saß mit einem Mal sehr aufrecht vor ihr und sah sie aufmerksam an.
„Zeigst du mir, wo du noch gekrault werden willst?"
Kopfwiegen. Blick zum Mond.
Piroska war erst verwirrt, dann verstand sie. „Du meinst, woanders würdest du lieber als Mensch gekrault werden?"
Nicken. Lachen.
„Du bist sehr frech!" sagte sie streng.
Nicken. Verhaltenes Lachen.
„Glaub ja nicht, dass ich deine Andeutungen nicht verstanden habe! Ich weiß genau, was du von mir willst. Und mich zu küssen, wenn ich mich nicht wehren kann, war unverschämt."
Der Wolf nickte, senkte den Kopf und sah von unten zu ihr hoch. Piroska musste lachen. „Soll das eine Entschuldigung sein?"
Nicken. Handlecken.
„Die ist aber nicht nötig", sagte sie leise. Der Wolf legte den Kopf schief. Das verstand sie mittlerweile als Frage. Ihre Hofhunde taten das auch immer, wenn sie etwas nicht begriffen.
„Als wir da im Keller hockten", erklärte Piroska nun, „wenn Jolanta schlief und du mich getröstet hast – da habe ich auch darauf gehofft. Einmal war ich nahe dran, dich zu küssen, aber ich bin ja ein Mädchen. Der Junge muss anfangen."
Augenrollen.
„Ja, ich weiß, du siehst das anders." Piroska holte tief Luft und beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen – beziehungsweise den Wolf bei seinen Gefühlen. „Als du geschlafen hast, meinte Jolanta einmal, du wärst total verliebt in mich."
Energisches Nicken. Piroskas Anspannung löste sich in einem wohligen Glücksgefühl auf.
„Du meinst, nicht nur ... sondern auch ..."
Sehr deutlich war die Frage nicht. Aber Ylvigur hatte sie verstanden und nickte heftig. Dann leckte er ihr die Wange und nahm behutsam ihr Kinn ins Maul.
Allmählich begriff Piroska, was Ylvigur gemeint hatte, als er mit seiner Familie geheult hatte. Mittlerweile übersetzte sie die Gesten des Wolfs ebenfalls so flüssig in gesprochene Worte um, dass sie sogar glaubte, Ylvigurs dunkle Stimme zu hören
Sie lehnte ihre Stirn gegen die des Wolfes. „Das geht mir auch so", gestand sie. „Ich habe mich schon gewundert, weil du mir nach so kurzer Zeit so vertraut warst als würden wir uns schon Jahre kennen. Aber genau so beschrieb es mir Ilona, als sie Ivor traf. Ich hätte nie gedacht, dass mir das auch mal passiert. Noch dazu mit einem Werwolf." Sie zögerte. „Geht das überhaupt? Ich meine, ein Mensch und ein Werwolf?"
JA.
„Woher weißt du das? Hast du schon mal ..."
NEIN.
„Aber du kennst so einen Fall?"
JA.
„Naja, du bist ja nicht nur ein Wolf, sondern auch ein Mensch. Mir kamst du auch sehr menschlich vor. Lebst du den größten Teil deiner Zeit als Mensch?"
JA.
„Darum auch die Steinhäuser. Warum baut ihr mit Stein und nicht mit Holz?"
Die Frage war etwas komplex, aber Ylvigur beantwortete sie trotzdem, indem er mit der Schnauze auf einen Käfer wies, der dicht an ihm über den Boden krabbelte.
„Käfer?" Piroska ging ein Licht auf. „Holzkäfer. Und Termiten!"
JA.
„Und ansonsten sehen eure Häuser aus wie unsere?"
JA. VIELLEICHT.
„Na, einige Unterschiede wird's geben, die sind sicher nicht wesentlich."
VIELLEICHT. JA.
„Heißt das, du hoffst darauf?"
JA.
„Meinst du, ich würde mich in eurem Dorf wohlfühlen?"
VIELLEICHT. JA! Wieder leckte ihr Ylvigur die Wange und umfasste ihr Kinn mit den Zähnen.
„Heißt das soviel wie ich hab dich lieb?" Piroska hätte sich gleich darauf die Zunge abbeißen mögen. Aber Ylvigur nickte heftig und leckte sie erneut. Piroska umarmte ihn und vergrub das Gesicht in seinem dichten Fell. „Ich dich doch auch", flüsterte sie ihm direkt ins Ohr.
Unvermittelt riss er sich los, sprang dann mit tanzenden Pfoten und wedelnden Schwanz fast auf ihren Schoss und schleckte ihr mehrmals übers Gesicht. Sie lachte über seine Freude, aber dann fiel ihr etwas ein.
„Oh je – habe ich dir jetzt sowas wie einen Heiratsantrag gemacht? Ich meine, weil ich gefragt habe, ob ich in deinem Dorf leben könnte?"
Lachen. JA!
„Hältst du mich jetzt für sehr frech?"
NEIN! Der Wolf blinzelte sie an und leckte sich das Maul.
„Du findest mich lecker?"
NEIN!
Piroska überlegte. Was konnte das noch bedeuten? „Süß?"
JA!
Sie atmete auf. Wenn ihm ihre manchmal etwas zu forsche Art gefiel, würden sie bestimmt gut miteinander auskommen.
„Ich dachte schon, ich bin dir zu energisch. Die meisten Menschen sind genervt von mir."
NEIN! DU BIST SÜSS!
„Und es stört dich nicht, dass ich keine Mitgift habe?"
Lachen. NEIN! Ylvigur stupste sie vorsichtig an. Sie erinnerte sich, dass er einmal gemeint hatte, sie selbst sei Mitgift genug.
„Naja, so ist auch das Problem gelöst, wohin mit mir, wenn mein Vetter mit seiner Braut auf den Hof kommt", überlegte sie und gähnte.
Ylvigur lachte nicht über ihren Pragmatismus, sondern sah sie nur traurig an.
„Nein, ich glaube nicht, dass sie das Problem so lösen wollten."
VIELLEICHT. Er stupste sie wieder, sorgfältig darauf bedacht, seine verletzte Nase zu schonen, und wies mit dem Kopf auf den Boden. Sie verstand.
„Ich soll schlafen?"
JA.
„Du hast recht", sie streckte sich aus. „Morgen wird es wieder anstrengend. Hoffentlich ist das Leben in deinem Dorf etwas ruhiger."
Lachen. JA! Er legte sich neben sie und sie kuschelte sich an ihn und vergrub die Hände in seinem dichten Fell. „Ich bin so froh, dass du bei mir bist", flüsterte sie.
Dafür wurde sie mit einem weiteren Schlecken belohnt.
„Ich glaube, wenn ich dich heirate, muss ich mich nie mehr waschen", murmelte sie noch.
Er schüttelte sich vor Lachen. Sie spürte das Vibrieren seines Körper noch, während sie einschlief.
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