Familienzusammenführung
„Wo ist die Herrschaft?", Georg überfiel den verdatterten Diener, der ihm die Tür öffnete, ohne Umschweife mit dieser Frage.
„Oben, bei Herrn Tiborek", gab dieser dann Auskunft. „Der Herr ist wieder wach, der neue Arzt hat seine Wunde behandelt und das Fieber gesenkt. Aber – du kannst da jetzt nicht rein!" rief er vergeblich hinterher, denn Georg stürmte bereits die Treppe hinauf. „Das ist wichtig", teilte er noch schnell mit. „Das Fräulein ist wieder da!"
„Ehrlich?" Freude breitete sich auf dem Gesicht des Dieners aus, die gleich von Enttäuschung abgelöst wurde, als er auf die Straße hinaussah und keine Jolanta erblickte. „Wo denn?"
„Sie kommt später!" Georg hatte die richtige Tür erreicht und klopfte leise. Auf das „Herein" trat er behutsam ein und fand seine Herrschaften alle um Herrn Tiboreks Bett versammelt. Dieser wurde gerade von einem ihm unbekannten blonden Mann verbunden und blickte Georg mit etwas müden, aber klaren Augen entgegen.
„Wie gut, dass Ihr wieder wach seid, Herr Tiborek!" rief Georg erleichtert. „Unten auf der Straße reden sie davon, Ihr würdet zum Werwolf werden, weil Euch ein Wolf gebissen habe, aber das ist doch nicht wahr?"
„Was für ein Unsinn!" schimpfte Tiborek mit noch schwacher Stimme. „Ich hab einen Schwerthieb abbekommen, keinen Biss! Außerdem – könnt ihr das überhaupt?" fragte er den blonden Mann.
Der schüttelte den Kopf. „Wieso sollten wir? Dann gäbe es irgendwann nur noch Werwölfe auf der Welt und nichts mehr zu jagen!"
Georg schrak zurück. „Das ist ein Wilko?"
„Ja", der Mann drehte sich nicht um; er war noch immer mit Tiboreks Wunden beschäftigt. „Stört dich das?"
„Nein – ich glaube nicht. Ich bin gekommen, um zu sagen – das Fräulein ist wieder da!"
Daraufhin sprangen alle Anwesenden auf, mit Ausnahme des Patienten und seines Arztes.
„Wo ist sie?" „Ist sie unten?" „Warum kommt sie nicht rauf?" „Geht es ihr gut?" „Was ist passiert?"
Georg schwindelte es unter den Fragen, aber er hatte noch genug Geistesgegenwart, die Frau zurückzuhalten, die bereits aus dem Zimmer eilen wollte. „Nein, Herrin Malvina, sie ist nicht im Haus. Aber ich habe sie gesehen und es geht ihr gut. Und sie war nicht alleine."
Ein älterer Mann trat nun auf ihn zu. „Wenn dem so ist, dann setz dich, Georg und erzähl in Ruhe, was Sache ist!" Er schob dem verdatterten Mann einen Stuhl hin und auch die anderen setzten sich wieder, nachdem nun klar war, dass Jolanta nicht in den nächsten Sekunden hier auftauchen würde.
Georg begann also zu erzählen, was geschehen war. Als er das rote Haar des Wilkos erwähnte, fuhr der Arzt herum. „Hat sie seinen Namen erwähnt?"
„Ja", sagte Georg verwundert. „Üffligu oder so ähnlich."
„Ylvigur", verbesserte der Arzt und atmete sichtlich auf. „Also ist auch er in Sicherheit."
„Das ist doch dieser Gerber, der so wunderbares Leder macht?", erkundigte sich der alte Herr neugierig und der Arzt nickte. „Ja. Und er ist mein Sohn. Auf der Suche nach ihm sind wir überhaupt hierher gekommen."
„Wie sah Jolanta aus?" drängte Malvina. „War sie verletzt? Hattest du den Eindruck, dass man ihr etwas angetan hat?"
„Nein, Herrin Malvina, sie wirkte wie immer, nur sehr beschäftigt. Sie wollte unbedingt zur Fürstin, weil sie etwas klären muss, sagte sie." Georg überlegte. „Allerdings hatte sie offenes Haar und sie trug ein Kleid, das ich noch nie gesehen habe, aus grünem Leder."
Der Arzt lachte auf. „Also da ist Talas Kleid abgeblieben. Sie beschuldigte ihren Ehemann schon, er habe es nicht eingepackt. Er muss es in Ylvigurs Rucksack gelegt haben statt in ihren."
„Grünes Leder?", erkundigte sich der alte Herr aufgeregt. „Wie hat er das hinbekommen? Und warum habe ich noch keines von dieser Farbe? Amarok, wenn Ihr ihn seht, sagt ihm gleich, ich will auch dieses Leder haben."
Der Angesprochene lächelte. „Das werdet Ihr sicher bekommen, Adrijan, wenn er erst wieder in Wilkin ist. Er hat es vor einigen Wochen herausgefunden und das erste derartige Leder seiner Schwester geschenkt; sie trägt gerne grün." Er wandte sich an Georg. „Und wie geht es ihm? Ich weiß, was die Menschen uns Wilkos gerne antun, aber hätten sie das getan, wäre er noch nicht in der Lage, herumzulaufen oder zu segeln. Ist mir übrigens neu, dass er das kann."
„Das Fräulein gab ihm Anweisungen", erklärte Georg. „Und er sah ganz wohl aus. Er sprach nur etwas seltsam und hatte wohl irgendetwas in der Nase."
„Er hat sich doch nicht schon wieder die Nase gebrochen!", rief Amarok entsetzt. Adrjian begann zu lachen. „Mit Söhnen hat man eben nur Sorgen!" Er warf einen liebevollen Blick auf den Patienten.
„Glaub nicht, dass das mit Töchtern einfacher ist", entgegnete Amarok, gleichzeitig bemerkte der Mann, der neben ihm stand: „Mit Töchtern auch!"
Amarok grinste ihn an. „Ihr auch, Janusz? Auch wenn Ihr nur eine habt? Ich habe zwei und das ist mehr als doppelt so nervig. Ich bin froh, dass sie nun beide ihr eigenes Rudel haben und ich den Zickenkrieg nicht mehr miterleben muss. Im Gegensatz zu meinen Söhnen konnte ich ja nicht fliehen." Sein versonnenes Lächeln verriet, dass die Klage nicht ganz ernst gemeint war.
„Ihr solltet gleich nach ihm sehen", schlug Tiborek vor. „Mit mir seid Ihr ja wohl fertig?"
Amarok bestätigte das. „Ich lasse Euch noch die Kräuter da, Ihr solltet etwa alle drei Stunden einen Aufguss davon trinken. Und morgen komme ich, um Euch neu zu verbinden."
„Ich bin Euch so dankbar, dass Ihr gekommen seid, trotz der Gefahr", versicherte ihm eine der Frauen. Amarok lächelte. „Keine Ursache, Laneta. Ich wäre nicht Arzt geworden, wenn ich nicht bereit wäre, jedem zu helfen, der Hilfe benötigt."
„Dann ist nur die Frage, wie wir Euch heil ins Schloss zurückbekommen", meinte Adrijan. „Ich werde auf jeden Fall mitgehen, um mich zu überzeugen, dass es Jolanta, aber auch Eurem Sohn gut geht – und das nicht nur wegen seines Leders", versetzte er lachend. Amarok bemerkte, dass der alte Täschner es genoss, wieder lachen zu können, nach langen Tagen der Trauer um die vermisste Enkelin.
„Ich gehe auch", verkündete Malvina und Janusz nickte. „Wir nehmen Georg mit, zum Schutz." Er grinste den riesenhaften Arbeiter an. „Wer dich sieht, wird es zweimal überlegen, ob er uns angreift."
Georg stimmte zu. „Es wird schwer; die Leute auf den Straßen schreien, dass man alle Wilkos töten sollte. Die Soldaten versuchen, die Ruhe zu bewahren, aber ich weiß nicht, wie lange das anhalten wird."
„Ihr könnt mich an der Leine mitnehmen", schlug Amarok vor. „Die Menschen neigen dazu, mich für einen Hund zu halten. Die wenigsten wissen, dass es auch ockerfarbene Wölfe gibt."
„Ihr seid als Wolf auch blond?", fragte Adrijan verblüfft und Amarok nickte. „Und mein Sohn rot. Wenn wir mit Tala durch die Dörfer streifen, halten uns die Menschen für Hütehunde und lassen uns in Ruhe."
„Ist Eure Tochter auch rot?"
„Nein, blond. Ylvigur ist zurzeit der einzige Rotschopf unter uns. Daher wissen wir so sicher, dass er gemeint ist, wenn von einem blutbuchenfarbenen Wilko die Rede ist."
„Blutbuchen haben eine schöne Farbe", bemerkte Adrijan nachdenklich. „Meint Ihr, dass er diese Farbe auch hinbekommt?"
Lachend zog sich Amarok das Hemd über den Kopf. „Wie ich ihn kenne, wird er es gerne versuchen. Aber das könnt Ihr ihn ja gleich selbst fragen!"
Die schwarzhaarige Frau ließ Ylvigurs Nacken nicht los, als sie sich stirnrunzelnd zu Piroska umdrehte. „Wer ich bin, dürfte dich wohl kaum etwas angehen!" fauchte sie das verdutzte Mädchen an.
Piroska hatte den ersten Schreck darüber, ihren Liebsten in den Armen einer anderen Frau zu finden, schon überwunden und damit auch die Sprache wiedergefunden. „Mich geht das eine ganze Menge an. Was fällt dir ein, ihn so einfach zu umarmen und zu küssen?"
„Moment mal ...", begann Ylvigur, wurde aber sofort von der Schwarzhaarigen unterbrochen. „Halt du dich da raus, Kleiner! Was ist mit dir, Menschenfrau, habe ich dein Schamgefühl verletzt oder sowas? Ich tue, was ich will und lasse mir von Menschen nichts vorschreiben!" Weitere Auslassungen verhinderte Ylvigurs Hand auf ihrem Mund. „Halt bloß die Klappe", zischte er ihr zu. „Du führst reichlich gefährliche Reden. Wieso bist du überhaupt hier, ich dachte, sie hätten dich daheim gelassen. Dich kann man nicht alleine außerhalb herumlaufen lassen!" Zu Piroska gewandt erläuterte er: „Das ist bloß meine Schwester. Und sie hat noch mehr Temperament als du, leider ist sie weniger klug." Die Frau blickte bei dieser Charakterisierung äußerst wütend drein und versuchte vergeblich, sich dem Griff ihres Bruders zu entziehen.
„Ich denke, deine Schwester ist blond?" Piroskas Misstrauen hatte sich noch nicht ganz gelegt.
„Das hier ist die andere."
„Wie viele Schwestern hast du denn noch?"
„Nur zwei. Weitere Frauen, die mir um den Hals fallen, darfst du gerne treten. Außer meiner Mutter, die wird mich wohl ähnlich begrüßen."
Inzwischen hatte sich auch der Begleiter der Frau durch die Menge geschoben. Ungläubig sah er zu Ylvigur auf, der ihn um einen halben Kopf überragte. „Das ist der Kleine? Tala hatte recht, du bist ganz schön gewachsen!"
„Axeu! Wie kommst denn du auf einmal her?", staunte Ylvigur und wandte sich dann gleich wieder zu seinen Gefährten. „Mein Bruder. Er lebt weit weg von hier und hat es gut zehn Jahre lang nicht für nötig befunden, uns mal zu besuchen."
„Wir hatten viel zu tun", knurrte Axeu. „Und kaum komme ich mal nach Hause, höre ich, dass du dich schon wieder in Schwierigkeiten gebracht hast. Du lernst es auch nie, was?"
„Wahrscheinlich nicht. Obwohl ich vermute, dass ich in Zukunft von allzu tollkühnen Streichen abgehalten werde." Er lächelte zu Piroska, die zurückgrinste. „Ich werde mich jedenfalls bemühen", versprach sie. „Kannst du deine Schwester eigentlich mal loslassen?"
„Nur, wenn sie sich benimmt", Ylvigur blickte die zappelnde Frau streng an. „Nun, Asena?"
Sie nickte, soweit ihr das in dem festen Griff möglich war.
„Also gut", er ließ sie frei und Asena richtete sich zuerst an Piroska. „Entschuldige. Ich dachte, du würdest dich beschweren, weil ich mich für deine Begriffe zu freizügig benommen habe. Ich wusste ja nicht, dass du seine Auserwählte bist." Sie sah zu Ylvigur auf. „Das wurde auch mal Zeit!"
„Finde ich nicht", seufzte Axeu. „Jetzt bekomme ich nämlich alles ab. Ich habe noch keine Gefährtin gefunden und Mama und Tala haben mich schon gründlich runtergeputzt deswegen."
„Und Vukan?"
„Der hat. Er bekam Ärger mit Mama, weil seine Frau mit den beiden W-Kindern zurückgeblieben ist."
Axeu wenigstens hatte begriffen, dass es für die Wilkos nicht ratsam war, in dieser Menge ihre Andersartigkeit zu betonen, dachte Jolanta erleichtert. Sie hatte unauffällig die beiden Beobachter im Auge behalten. Diese schienen jedoch nicht mehr interessiert zu sein; dass Ylvigur von anderen „Menschen" begrüßt wurde, hatte sie wohl überzeugt, dass er zur Stadt gehörte.
„Lass uns jetzt zusehen, dass wir zum Schloss kommen", sagte sie daher. Ylvigur sah unglücklich aus. „Müssen wir wieder tanzen?"
Kriszta lachte auf. „Ich glaube, wir können es jetzt wagen, ganz normal zu gehen." Sie wies auf die Menge, die auf dem Platz durcheinander wogte. „Dort hinten haben sie Stände mit Gebäck und Getränken aufgestellt. Wir holen uns einfach auch etwas."
„Heb mich mal hoch", forderte Jolanta von Ylvigur und der packte sie kurzerhand an den Hüften und hob sie über die Köpfe der Leute. Sie sah sich um und strahlte. „Lass mich wieder runter, dann holen wir uns Apfelmost. Der Stand ist ganz in der Nähe der kleinen Tür für die Dienerschaft, so kommen wir ins Schloss."
Am Stand angekommen, kaufte Jolanta erstmal einige Krüge Most und drückte sie den Gefährten in die Hand. „So sind wir unauffälliger!" Sie grinste, als die Werwölfe zuerst sehr vorsichtig probierten. Asena und Ylvigur verzogen das Gesicht, Axeu nahm einen weiteren, tiefen Schluck. „Nicht übel, das Zeug", lobte er.
„Das ist verdorben!", klagte Ylvigur. Sein Bruder lachte ihn aus. „Nicht verdorben, vergoren. Die Menschen in unserem Dorf bereiten etwas Ähnliches, nur ist ihr Most etwas stärker."
„Aber von verdorbenen Früchten wird einem ganz schwindelig!"
„Das ist auch der Sinn der Sache", Stepan grinste. „Piroska, du hast wirklich Glück! Dein Ehemann wird niemals betrunken nach Hause kommen; er weiß ja nicht mal, was das ist."
Seine Schwester lachte. „Ich bin schon lange davon überzeugt, dass ich ganz großes Glück habe", sie sah ihren Liebsten zärtlich an. Der blickte etwas kläglich zurück. „Ich muss das doch nicht trinken, wenn wir zusammenleben?"
„Ich kenne keine Frau, die ihren Mann zwingen würde, Alkohol zu trinken", sagte Kriszta lachend. „Da kannst du wohl unbesorgt sein. Jolanta, wo müssen wir jetzt hin?"
„Kommt", Jolanta führte die Gefährten zur Seite, scheinbar in der Absicht, den Platz vor dem Stand zu räumen und eine ruhige Ecke zum Trinken zu finden. Sie steuerte auf eine Bank zu, auf der schon einige junge Leute saßen. „Leider besetzt!", riefen sie ihr zu. „Unsere Getränkeholer kommen noch nach!"
Jolanta lachte. „Dann eben hier lang", sie trat in den freien Raum zwischen der Bank und der Schlossmauer. Dort befand sich eine Nische, in der sie sich sammelten. Erst wenn man direkt dort stand, konnte man die kleine Tür sehen.
Gerade als Jolanta auf die Klinke drückte, kam eine andere Gruppe auf sie zu, die offenbar auch die Absicht hatte, diese Tür zu nutzen. Die drei Dörfler erschraken, ihre Gefährten hingegen strahlten. „Mama, Papa", Jolanta behielt trotz ihrer offensichtlichen Freude einen klaren Kopf. „Lasst uns erst schnell eintreten, dann können wir uns begrüßen und einander vorstellen!"
Das geschah, wobei Piroska bemerkte, dass der große Hund, den der alte Herr mit sich führte, sie sehr aufmerksam ansah und sie dann abschnupperte. „Gehört der zu euch", flüsterte sie Ylvigur zu und der nickte. „Mein Vater."
„Oh." So hatte sich Piroska die erste Begegnung mit ihrem zukünftigen Schwiegervater nicht vorgestellt.
Hinter der Tür wurden sie von einigen Wachen empfangen, die sich gleich entspannten, als sie die Menschen erkannten. „Willkommen Meister Adrijan", grüßte einer sogleich. „Gibt es Neuigkeiten von Eurer Enkelin und Eurem Sohn? Ihre Durchlaucht macht sich große Sorgen."
„Die besten!" Adrijan strahlte. "Jolanta ist wieder da und meinem Sohn geht es sehr viel besser, dank ihm." Er wies auf Amarok, der sich gerade wieder zurückverwandelte und den Maulkorb abnahm. Die Soldaten waren wohl schon vorbereitet, denn sie erschraken nicht. „Ihre Durchlaucht ist im kleinen Sitzungszimmer, mit den Wilkos und ihrem Adjutanten.", sagte einer.
„Ich weiß, wo das ist. Kommt mit", forderte Jolanta alle auf und rannte gleich los. „Freuen können wir uns auch da oben noch."
Seufzend liefen sie alle hinter ihr her, um nicht den Weg zu verlieren. Amarok halbnackt, mit dem Hemd in der Hand, flüsterte seinem Sohn noch schnell zu: „Ich bin sehr glücklich, dich wiederzusehen. Und ich kümmere mich dann auch gleich um deine Nase!" Dann nahm auch er die Beine in die Hand, denn im Schloss versagte sein Orientierungssinn, der im Wald so hilfreich war.
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