Endlich auf dem Weg


Erleichtert, dass sie endlich die große Straße erreicht hatte, ohne nochmals aufgehalten worden zu sein, schritt Piroska jetzt energisch aus. Sie war jung und gesund, ihre Last war noch nicht allzu drückend, die Luft war warm, aber noch nicht heiß und es sah ganz nach einen schönen Sommertag aus. Piroska hatte sich immer schon gerne bewegt und freute sich eher auf die weite Wanderung als dass sie sie als beschwerlich empfunden hätte.

Bis zum Fünfweg konnte Piroska auf der großen Straße bleiben. Diese führte bis dahin durch die Felder, welche die Dörfler bewirtschafteten und am Bach entlang, der ihnen stetig frisches Trinkwasser lieferte. Das junge Mädchen genoss den Gang; sie atmete den Duft von Raps und Weizen, beobachtete die Fische im klaren Wasser und hörte die Vögel im Feld singen. Ein großer Stein lag mitten im Bach; Piroska blieb einen Moment stehen und sah zu, wie das Wasser teils um ihn herum, teils über ihn floss. Direkt über ihr rüttelte ein Falke und schoss plötzlich neben ihr nieder. Gleich darauf ertönte das erschreckte Quieken einer Maus und brach unvermittelt ab. Piroska lächelte; eine Maus weniger, die ihnen die Ernte wegfuttern würde.

Weiter vorn sah sie zwei Drosseln sich um eine Schnecke zanken. Die eine wandte sich plötzlich ab und packte eine andere, wesentlich größere Schnecke, die unvorsichtigerweise auf sie zugekrochen war. Die andere Drossel flog eilends zum nächsten Stein und schlug das Gehäuse der ihr überlassenen Beute an einem Stein auf, um an das Fleisch heranzukommen. Während sie das Weichtier aus dem zerstörten Haus zerrte, flatterten mehrere Rotkehlchen aufgeregt um die Hecke herum, vor der die Drossel zu Werke ging.

Als Piroska bei der Drossel ankam, war diese mit ihrem Mahl fertig und sah zur Hecke herüber. Die Rotkehlchen piepsten schrill und Piroska trat auf die Drossel zu. „Ksch!" Der erschreckte Vogel flog schimpfend fort und die Rotkehlchen verschwanden eilends in der Hecke. Aber für den Moment war das Gelege der kleinen Vögel sicher vor dem schwarzen Räuber. Piroska erinnerte sich, dass sie früher einmal mit Kriszta, Stepan und Marian ein Nest geplündert hatte; jetzt war ein Teil ihrer Schuld abgetragen, dachte sie lächelnd. Die Rotkehlchen fraßen Unmengen von schädlichen Insekten von Feldfrüchten ab, die wenigen Körner, die sie sich dafür abzwackten, quasi als wohlverdienten Lohn, fielen dagegen nicht ins Gewicht; die Schadinsekten hätten wesentlich mehr vernichtet. Darum liebten die Bauern die kleinen, agilen Tierchen und umgaben ihre Felder bewusst mit dichten Hecken, um für die zutraulichen Vögel Nistraum und Verstecke zu schaffen.

Weit hinter den Feldern erhoben sich sanfte Hügel. Dort wurde der Wein angebaut, von dem sie auch einen Krug für die Frau Großmutter bei sich trug. Auch Piroskas Vater hatte dort einige Rebzeilen stehen, die für den Bedarf des Haushalts ausreichen mussten. Im späten Herbst würden er und Piroska wieder die reifen Trauben ernten. Und wie jedes Jahr würde er mit ihr schimpfen, denn seine Tochter beobachtete lieber die Eidechsen, Nattern und Distelfinken, die sich zwischen den Weinstöcken tummelten als die Trauben zu lesen. Aber bisher hatte Piroska die ihr zugeteilten Spaliere noch immer bis zum Abend abgeerntet, also ließ er sie – stirnrunzelnd, aber auch schmunzelnd – schließlich gewähren. Piroska lächelte bei der Erinnerung. Sie freute sich auf die Lese, wenn es wieder süße Weinbeeren zu naschen gab, sie mit dem Vater die Trauben einstampfte und die Mutter den gewonnenen Süßmost einkochte, um haltbaren Saft und Traubendicksaft zum Süßen zu bekommen. Jedes Jahr gab es Streit um die Menge, welche die Mutter nehmen durfte und die Eltern rechneten dann genau auf, wieviel Süßmost sie dieses Jahr aus den Trauben gepresst hatten und welchen Anteil dann die Mutter bekam. Denn der Vater hätte an liebsten den gesamten Ertrag zur Weingärung verwendet. Malia aber bestand darauf, dass sie immer auch Saft für Piroska und kindliche Gäste zur Verfügung hatte sowie Dicksaft zum Süßen für Speisen, bei denen sich Honig weniger eignete.

Auf einem der Hügel erhob sich die Burg des Grafen, der diesen Landstrich beherrschte. Die Burg selbst war schön; aus rotem Stein erbaut und teilweise weiß gekalkt, mit zwei hohen Wachtürmen und verschachtelten Nebengebäuden. Piroska wusste jedoch, dass diese Pracht teuer bezahlt worden war von vielen Menschen und nur wenigen zugutekam. Denn seit der Graf vor etwas über zwanzig Jahren an die Macht gekommen war, hatte er kontinuierlich die Steuern und Pachtabgaben erhöht. Einer der Gründe, warum Piroskas Eltern regelmäßig um die Trauben für Wein und Saft kämpften, lag darin, dass der Graf zuerst die Hälfte der Ernte bekam und danach noch die Hälfte des Weins. Die Bauern waren also genötigt, mindestens das Doppelte bis Dreifache ihres eigenen Bedarfs zu produzieren, um nicht zu verhungern. Dabei kam es dann auf jede Hand an. Insoweit verstand Piroska schon, dass Göran nicht auf Marians Hilfe hatte verzichten wollen. Eigentlich war es unter diesen Umständen sogar eine überaus edle Tat, dass die vier Dörfer nach wie vor die Frau Großmutter im tiefen Wald unterstützten.

„Gott grüße dich, Mädchen! Willst du zum Markt?" Piroska schreckte auf. Aus einem Nebenweg war ein Ochsenkarren auf die Straße gebogen, der von einem vierschrötigen Mann mit freundlichen Augen gelenkt wurde. Ein halbwüchsiger Junge kauerte hinter ihm auf der Ladefläche und versuchte, nicht von den aufgeschichteten Heuballen auf die Landstraße zu kullern. Zu diesem Zweck hatte er eine Heugabel tief in einen der Ballen gestoßen und hielt sich mit beiden Händen krampfhaft daran fest. Piroska musste grinsen. Auf diese Weise war sie selbst auch schon oft mit ihrem Vater gefahren. Seit ihr Bruder verschwunden war, musste sie nicht nur der Mutter im Haushalt helfen, sondern auch Stepans Arbeitskraft ersetzen. Seitdem hatte sie kaum noch Muße gehabt, tagsüber hatte sie dem Vater auf dem Feld geholfen, abends bis spät in die Nacht im Haus gearbeitet. Auch deshalb erschien ihr der Gang zur Frau Großmutter eher wie ein Ausflug, mochte die aufgebürdete Last auch noch so schwer sein.

Der Bauer hatte angehalten und wartete sichtlich auf eine Antwort. Piroska lächelte zu ihm auf: „Gott zum Gruße, Nachbar! Nein, ich gehe zur Frau Großmutter!"

„Oh", der Mann betrachtete sie genauer. „Du bist aus Altkirch, nicht wahr? Dir haben sie ganz schön etwas aufgeladen. Komm, ich nehme dich bis zum Fünfweg mit, da hast du's ein wenig leichter!"

Dankbar reichte Piroska dem Jungen das Joch hinauf und ließ sich vom Bauern die schwere Kiepe abnehmen. Er keuchte, als er sie auf die Ladefläche wuchtete. „Ganz schön schwer für so ein junges Ding! Da waren sie diese Wochen wohl erfolgreich, was?"

„Wie meinst du das, erfolgreich?" erkundigte sich Piroska verdutzt, während sie zu dem Jungen auf den Wagen kletterte. Der Bauer zögerte einen Moment. „Ich meinte, mit ihren Vorbereitungen für die Frau Großmutter", sagte er dann. „Und die Frühernte wird auch gut ausgefallen sein, wenn sie dir so vieles mitgeben können."

„Eigentlich nicht", gab Piroska zu. „Aber die Frau Großmutter lässt man eben nicht darben. Das ist Ehrensache! Lieber verzichten wir dafür mal auf etwas."

„Hm, hm", brummte der Bauer. „Das ist bei uns auch so. Aber solche Lasten haben wir einem Mädchen noch nicht mitgegeben. Nun ja, jedem, wie's ihm recht ist", er schnalzte mit der Zunge und die beiden jungen Ochsen zogen gehorsam an. Die vermehrte Last schien ihnen nicht viel auszumachen, sie griffen mit langen Schritten aus und Piroska stellte erfreut fest, dass sie so die Verspätung durch die vielen Aufenthalte im Dorf gut aufholen würde.

Der Junge lächelte ihr schüchtern zu. „Ich finde es toll, dass du dich alleine in den Wald wagst."

Piroska wollte nicht zugeben, dass sie sich insgeheim doch ein wenig fürchtete. „Ich bin ja nicht die erste, die zur Frau Großmutter geht. Und sie gehen alle alleine."

„Ja, aber manche kommen nicht zurück", sagte der Junge leise. „Meine Kusine ist letztes Jahr nicht zurückgekehrt."

„Meine beste Freundin auch nicht", gestand Piroska. „Aber meine Kusinen waren bereits beide im Wald und kamen unversehrt wieder. Es wird mir auch gelingen."

„Ich hoffe es für dich", meinte der Junge betrübt und schluckte etwas. „Ich vermisse meine Kusine noch immer. Sie war sehr lieb und lustig. Und fast so hübsch wie du."

„Oh, danke", Piroska errötete. Komplimente war sie nicht gewöhnt, schon gar nicht über ihr Aussehen. Im Dorf hatten alle Jungen immer die sanfte Kriszta bewundert, mit ihren großen, braunen Augen, der zarten Haut und dem glänzendem schwarzen Haar. Piroska fand sich selbst wenig hübsch. Ihre rotbraunen Locken blieben niemals ordentlich in ihrem Zopf, ihre Augen waren nichtssagend hell, weder blau noch grün und ihr Stupsnäschen mit Sommersprossen übersät, die sich deutlich von der viel zu braunen Haut abhoben.

„Ein reizendes Ding bist du schon", gab der Bauer nun dazu und seiner Stimme hörte man das Schmunzeln an. „Verdreh meinem Jungen nur nicht den Kopf, für solche Dinge ist er noch zu jung. Und außerdem." Was immer er hatte sagen wollen, es blieb unausgesprochen.

Die beiden hinter ihm erröteten und schwiegen nun, bis sie zum Fünfweg kamen. Von den vier Wegen, die von hier aus abzweigten, wählte der Bauer den ganz linken, also kam er wohl aus Grünanger. Piroska hingegen würde den zweiten Weg zur Rechten benutzen.

Der Bauer und sein Sohn hoben ihre Last vom Wagen und halfen ihr, Kiepe und Joch wieder zu schultern. „Mach's gut und pass auf dich auf", meinte der Junge zum Abschied und schenkte ihr ein letztes Lächeln. Piroska bemerkte, dass er ein Grübchen in der linken Wange hatte. „Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder."

„Vielleicht, vielleicht auch nicht", brummte sein Vater. „Eil dich, Mädchen, es geht schon auf Mittag zu. Und leb wohl!"

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