Ein altes Märchen
Eine kurze Zwischenbemerkung: Das Märchen, welches wir als Rotkäppchen kennen, heißt in Ungarn und Polen Piroska. Der Name kommt von ungarisch Piros = Rot und ka = chen, also Rötchen oder kleine Rote.
Zwar war Piroska so müde, dass sie sogleich einschlief, kaum dass sie sich die Decke über die Schultern gezogen hatte. Aber ihr Schlaf war unruhig und nicht wirklich tief. Es war einfach zuviel geschehen an diesem Tag und vor allem hatte sie viel zu vieles, über das sie nachdenken musste. Es war kein Wunder, dass die Erlebnisse in ihrem Kopf und ihren Träumen durcheinanderwirbelten.
Seltsamerweise schien sie am meisten Ylvigurs Frage zu beschäftigen: „Woher wissen die Wölfe, dass sie auf dem Weg nicht jagen dürfen?" Er hatte recht, Wölfe waren nicht so intelligent, wenn sie auch recht kluge Tiere sein sollten. Und der Weg war nicht so befahren und begangen, dass intensiver Menschengeruch die Wölfe abhalten konnte. Zudem ergab auch das keinen Sinn, denn entweder jagten Wölfe Menschen oder sie gingen ihnen aus dem Weg, beides zugleich konnte schlecht möglich sein.
Und auch Ylvigur selbst geisterte durch ihre Gedanken. Irgendetwas an ihm war seltsam fremd und doch war er ihr so schnell derart vertraut geworden, dass sie ihr anfängliches Misstrauen fast vergessen hatte. Es konnte daran liegen, dass sie im Gespräch vieles entdeckt hatten, das die beide interessierte, aber das glaubte Piroska nicht wirklich. Schließlich verstand sie sich mit Marian, Kriszta und vor allem mit Stepan genau so gut, aber dieses starke Gefühl von Sicherheit und einer gewissen Verbundenheit hatte sie nicht einmal bei ihrem Bruder gehabt. Es machte ihr Angst; sie hatte einmal gehört, dass es Wesen gab, welche die Gefühle der Menschen manipulieren konnten. Andererseits war Ylvigur ja eindeutig ein Mensch – oder doch nicht?
Das alles floss in ihre Träume ein. Zuerst sah sie sich selbst am Küchentisch daheim sitzen und darüber nachdenken, während sie Erbsen palte. Piroska war ständige Arbeit gewöhnt; selbst im Traum war sie nicht in der Lage, sich ruhig hinzusetzen, ohne irgendetwas Nützliches zu tun.
Plötzlich stand sie auf, nahm einen Henkelkorb und ging in den Wald. Im Hinterkopf dachte sie noch selbst, wie unsinnig das war; ein Henkelkorb, den man am Arm oder in einer Hand trug, war für längeres Tragen ungeeignet. Aber sie erkannte, dass sie nun im Traum wohl in das Märchen geschlüpft war, dessen Namen sie trug und das frappierende Ähnlichkeiten mit ihrer momentanen Situation aufwies. Im Märchenbuch trug das Kind mit ihrem Namen nun einmal einen solchen Korb.
Im Traum flog sie geradezu durch den Wald und der Korb erwies sich als überaus leicht. Doch der Wald, durch den sie ging, war nicht der helle, freundliche Märchenwald, dessen Weg immer wieder durch offene Wiesen führte, sondern der dunkle, geheimnisvolle Hünenwald, dessen Schönheit ihr erst Ylvigur offenbart hatte. Und eben dieser trat ihr auch in den Weg anstelle des bösen Wolfes.
„Soll ich jetzt Blumen pflücken gehen?", erkundigte sie sich. Die Antwort war typisch Ylvigur. „Warum? Weißt du denn überhaupt, welche giftig sind und welche nicht?"
„Ich will sie der Oma mitbringen. Und du solltest mir dazu raten, so geht das Märchen."
„Wenn du meinst. Da drüben sind hübsche."
Sie sah kurz in die Richtung, die er ihr wies, dann wieder zu ihm. Und schrie entsetzt auf.
Ylvigurs Gesicht war durch einen Wolfsschädel ersetzt worden. Seine plötzlich gelben Augen funkelten bösartig und er fletschte die Zähne. „Mir schmeckst du ohne Blumen aber besser", meinte er und trat drohend auf sie zu.
Piroska rannte los. In der Wirklichkeit hätte sie kaum eine Chance gehabt. Im Traum jedoch spürte sie nur kurz Ylvigurs keuchenden Atem im Nacken, dann blieb er zurück. Vielleicht, weil sie die Brücke erreicht hatte. Die Wachen liefen zu ihr. „Brauchst du Hilfe?"
Sie nickte atemlos. „Ein Wolf – ein Mensch mit einem Wolfskopf verfolgt mich."
Die Soldaten blickten sich wissend an. „Keine Sorge, Mädchen, der bekommt dich nicht", sagte einer dann. Einen Moment atmete Piroska auf, dann fuhr der Mann fort: „Wir bekommen dich!"
Entsetzt sah sie sich um. Alle Wachen hatten Wolfsköpfe und wie sie entdeckte, auch große, langbekrallte Pfoten. Sie schrie erneut auf und rannte. Rannte, bis sie das Tal der Blutbuchen erreicht hatte. Verzweifelt schlug sie gegen die Tür. „Macht auf, Frau Großmutter, bitte!"
„Schon gut", die Tür öffnete sich und die Frau Großmutter zog sie ins Innere. „Warum hast du es so eilig?"
„Die Wachen – sie sind Wölfe! Sie wollen mich fressen! Und Ylvigur auch – ich dachte, er sei ein Freund!"
„Hier ist niemand ein Freund", erklärte die Frau Großmutter. „Du darfst niemandem trauen. Hörst du? Niemandem!"
Piroska nickte eingeschüchtert.
„Mach das Feuer an. Ich mag mein Essen nicht kalt und roh.", forderte die Frau Großmutter nun und Piroska gehorchte. Vor dem Herd knieend fragte sie: „Was wollt Ihr essen, Frau Großmutter?"
„Dich!"
Erschrocken drehte sie sich um und sah, dass auch die Frau Großmutter einen Wolfskopf hatte. Mit einem Beil in den Pfoten schlich sie auf das Mädchen zu.
Irgendwie gelang es Piroska, an der Frau Großmutter vorbei und durch die Tür zu kommen. Draußen prallte sie als erstes gegen einen Körper und klammerte sich hastig fest, um nicht zu fallen. Dann sah sie hoch, um zu sehen, wen sie beinahe umgerannt hätte und wäre vor Erleichterung fast umgefallen. Es war Stepan!
„Beruhige dich, kleine Schwester. Was ist denn los?"
Beinahe hätte sie geheult, als sie seine tiefe Stimme vernahm, die sie seit fast einem Jahr nicht mehr gehört hatte. „Die Frau Großmutter – sie ist ein Wolf!"
„Ja, ich weiß", erwiderte er und griff zu seinem kurzen Jagdbogen. Als die Frau Großmutter geifernd und zähnefletschend auf sie zulief, hob er den Bogen und schoss der Wolfsfrau einen Pfeil in die Kehle.
Piroska schauderte vor Schreck, aber auch vor Erleichterung. „Danke, dass du mich gerettet hast."
„Keine Ursache, kleine Schwester", Stepan grinste mit seinem eindrucksvollem Wolfsgebiss. „Ich teile ungern, weißt du."
Auch Stepan! Piroska kamen nun wirklich die Tränen, als sie auch vor ihrem Bruder davonrannte. War denn jeder in diesem verhexten Wald ein Wolf? Sie musste schleunigst nach Hause.
Sie flog geradezu nach Altkirch zurück. Kurz vor dem Dorf begegnete sie Göran und Katinka. „Was rennst du denn so?" wollte Göran wissen.
„Im Wald – Wölfe", keuchte sie.
„Natürlich. Bist du denn nicht auf dem Weg geblieben?"
„Doch."
„Unsinn", keifte Katinka. „Das liederliche Ding hat sich mit Wölfen eingelassen, anstatt den Auftrag zu erfüllen! Bestraf sie, Göran!"
„Nur zu gern!" Göran sprang plötzlich mit geöffneten Maul und ausgestreckten Pfoten auf sie zu. Piroska wich aus und rief Katinka zu: „Dein Mann – er ist auch ein Wolf!"
„Ich weiß!" Katinka geiferte. „War dir das nicht klar?"
Piroska sprang unter den gierigen Pfoten der beiden weg und lief ohne nochmals anzuhalten zu ihrem Haus. Malia und Dawid, ihre Eltern, saßen am Küchentisch und sahen ihr verwundert entgegen. „Was ist dir geschehen?" Dawid stand auf und legte ihr den Arm um die Schulter. Beruhigt schmiegte sich Piroska in die väterliche Umarmung, die ihr auch in der Realität kaum jemals zuteil geworden war und schluchzte: „Im Wald sind lauter Wölfe! Und ich habe Stepan gesehen, auch er wurde zum Wolf. Was machen wir jetzt?"
„Nichts", erwiderte Malia und trat zu ihr. „Was sollen wir da schon tun?" Sie strich ihrer Tochter sanft mit einer Pfote übers Haar.
Pfote? Entsetzt riss sich Piroska los. Auch ihre Eltern waren Wölfe!
„Wollt auch ihr mich jetzt fressen?" fragte sie zitternd.
Dawid sah zu Malia. „Ich denke, das wird nicht nötig sein", antwortete er dann.
„Setz dich, iss etwas", schlug Malia vor. Piroska sah in den Topf, in dem eine blutige Masse schwamm, würgte und trat zurück. „Nein – ich habe keinen Hunger." Sie lief überstürzt hinaus.
Draußen traf sie Marian, der sie sofort in die Arme nahm. „Piri, du weinst ja! Was ist geschehen?"
Sie klammerte sich an ihn. „Bitte, werde nicht auch du noch zum Wolf!"
„Warum sollte ich?" fragte er verdutzt. Doch dann löste er sich von ihr. „Piri, ich – ich kann nicht bleiben!"
„Aber -", sie streckte eine Hand nach ihm aus. „Bitte, bleib!" Dann erst sah sie ihre Hand.
Aus ihrem Handrücken wuchsen immer mehr Haare und die Fingernägel wandelten sich gerade in Krallen.
Keuchend fuhr sie aus dem Schlaf auf, noch immer zitternd unter den schaurigen Eindrücken des Traums. Fast wagte sie es nicht, ihre Hände anzusehen. Doch die sahen aus wie immer; klein, kräftig, schwielig und wund von der Arbeit, aber eindeutig menschlich.
„Puh!" Sie pustete sich die Strähnen aus dem Gesicht. Es war nur ein Traum gewesen, aber einer, den sie nicht so schnell vergessen würde. Vermutlich war es ein Warntraum, dachte sie. Aber wovor? Die Worte der Frau Großmutter kamen ihr erneut in den Sinn: „Traue niemandem!" Offenbar hatte ihr der Traum das sagen wollen. Aber konnte das bedeuten, dass sie keinem vertrauen konnte, der in ihrem Traum zum Wolf geworden war? Oder im Umkehrschluss Marian nicht vertrauenswürdig war, der sich als einziger nicht verwandelt hatte? Und wenn sie all den Wolfsfratzen nicht trauen durfte, hieß das dann, dass sie nicht einmal sich selbst glauben durfte?
Piroska setzte sich im Bett auf. Nach diesem Traum konnte sie ohnehin nicht weiterschlafen und sie hatte Durst bekommen. Und das Gegenteil, wie sie es immer nannte. Sie griff nach dem Band, das sie neben das schmale Bett hatte fallen lassen und schlang es um das wirre Haar. Leise stand sie auf und huschte in die Küche, pumpte sich etwas Wasser in einen Becher und trank einige Schlucke. Danach hielt sie ihre Hand unter den feinen Strahl und wischte sich damit über Stirn und Wangen. Ihr Atem beruhigte sich wieder und ihr Gesicht fühlte sich nicht mehr so heiß an.
Sie verließ die Küche und zog die Riegel der Haustür zurück. Auf der Schwelle blieb sie einen Moment stehen und genoss die kühle Nachtluft. Ihr war jedoch klar, dass sie, barfuß und nur mit dem dünnen Unterkleid bedeckt, nicht allzu lange draußen bleiben durfte und so machte sie sich auf die Suche nach einem geeigneten Gebüsch. Erst als sie eine Deckung gefunden hatte und sich hinhockte, fiel ihr ein, dass sie mitten in der Nacht wohl kaum gesehen werden konnte. Selbst Ylvigur würde jetzt wohl schlafen und selbst wenn, er konnte ja nicht soweit sehen. Und die Frau Großmutter schlief; sie hatte sie schnarchen hören.
Doch die Deckung erwies sich als nützlich. Noch bevor sie fertig war, hörte sie Schritte auf dem Weg. Und nach einem kurzen Blick über den Busch entschloß sie sich, lieber versteckt zu bleiben.
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