Das Tal der Blutbuchen
„Warum ist es eigentlich so wichtig, dass du der Frau Großmutter zusagst", erkundigte sich Ylvigur, als sie weitergingen. Piroska hatte ihm zu ihrer eigenen Überraschung ihr Leid geklagt.
Jetzt sah sie ihn verdutzt an. „Das ist doch wichtig", wandte sie ein. „Alle Mädchen, die zu ihr gesandt werden, wollen alles zu ihrer Zufriedenheit ausführen. Es ist eine Schande, wenn die Frau Großmutter mit einem unzufrieden ist." Sie kannte es nicht anders.
„Eure Frau Großmutter scheint in sehr hohem Ansehen bei euch zu stehen", stellte Ylvigur fest. „Aber sie tut nichts für die Dörfer, oder? Hat sie früher so viel für euch getan oder warum kümmert ihr euch so sehr um ihre Meinung?"
Das konnte Piroska gar nicht sagen. „Die Frau Großmutter war irgendwie immer da und niemand hat das Vorgehen jemals in Zweifel gezogen", gab sie zu. „Selbst mir kommt das auch erst komisch vor, seit du solche Fragen stellst."
„Ich finde es eben seltsam. Ich könnte mich nicht erinnern, dass ich mich jemals meiner Mutter gegenüber dermaßen respektvoll und unterwürfig verhalten hätte." Auf Piroskas erstaunten Blick erklärte er: „Meine Mutter ist unsere Anführerin – ihr würdet wohl Bürgermeisterin sagen, glaube ich."
„Oh. Lebt dein Vater nicht mehr?"
„Doch. Was hat das damit zu tun?"
„Weil sie das Amt innehat und nicht er."
„Sie wurde gewählt. Warum sollte er ihr das Amt fortnehmen?"
„Naja – er ist der Mann!"
„Ja und? Wir wählen unsere Anführer nicht nach Geschlecht aus."
„Kein Wunder, dass sie sagen, ihr seid anders!"
„Findest du das so abartig?"
„Abartig nicht. Anders eben. Und ich wünschte, es wäre bei uns auch so", gestand Piroska. „Seit Stepans Verschwinden mache ich seine und meine Arbeit. Nicht besonders gut, weil ich nie alles schaffe."
„Wie auch? Du bist nur ein Mensch, wie sollst du die Arbeit von zweien machen?"
„Naja, ich muss nur Stepans Aufgaben auf dem Hof übernehmen. Für die Jagd hat Göran einen anderen Gehilfen gefunden. Aber es bleibt noch genug zu tun übrig. Und ich kann doch von Mutter nicht verlangen, dass sie das Haus ganz alleine bestellt. Oder gar von Vater, dass er sich alleine um das Gut kümmert."
„Ist er noch nie auf die Idee gekommen, sich einen Gehilfen anzuheuern?"
„Der würde bezahlt werden wollen und wir brauchen alles Geld für die Steuern. Aber es ist ja nicht mehr lange. Mein Vetter aus Neuenbrück kommt nächsten Monat zu uns."
„Und der hilft euch umsonst?"
„Naja, so kann man das nicht sagen. Weil Stepan ja nicht mehr da ist und das Gut nicht erben kann, mein Onkel aber drei Söhne hat, wird mein Vetter das Gut später übernehmen. Dafür kommt er jetzt schon und arbeitet mit wie ein Sohn des Hauses."
„Aha, und was erbst du?"
„Gar nichts. Ich bin eine Frau und kann das Gut nicht übernehmen. Mir steht eine Mitgift zu, wenn ich heirate, aber ich weiß nicht, wie meine Eltern die auch noch aufbringen wollen."
„Und wenn du keine Mitgift hast? Wirst du dann nicht geheiratet?"
„Kaum. Wer lädt sich schon eine Frau auf den Hals, wenn er nicht durch ihr Heiratsgut entschädigt wird?"
„Hm. Vielleicht jemand, der die Frau selbst zu schätzen weiß? In deinem Fall kann man ja ohnehin kaum von ‚aufladen' sprechen. Du bist ja offensichtlich sehr tüchtig und arbeitsam. Eher lädst du dir einen Mann auf, wenn dieser nicht so fleißig ist wie du."
Piroska lachte verwundert. „Das hört sich sehr merkwürdig an."
„Ebenso merkwürdig wohl wie für mich diese Auffassung, ein Mann müsste dafür entschädigt werden, wenn er eine Frau wie dich bekommt. Wir denken da völlig anders. Aber danke für deine Erklärungen; jetzt verstehe ich das Verhalten der Dörfler besser."
„Ich denke, du kennst sie ohnehin nicht?"
„Doch schon, wir gehen ja auch auf eure Märkte. Und da ist mir schon aufgefallen, dass ihr anders miteinander umgeht als wir in unserem Dorf."
„Woher kommt das? Weil ihr im Wald lebt?"
„Das kann sein. Im Wald ist das Leben härter als in euren fruchtbaren Ebenen. Wir können es uns nicht leisten, auf die Hälfte unserer Kräfte zu verzichten, nur weil sie weiblich sind."
„Würdest du denn lieber auf dem flachen Land leben?"
„Oh, nein, auf keinen Fall! Du hast doch gesehen, wie wunderschön und geheimnisvoll der Wald ist. Ich könnte niemals darauf verzichten!"
„Das kann ich sogar verstehen", gab Piroska zu. „Das wenige, was ich bis jetzt gesehen habe, hat mir ausnehmend gut gefallen. Und es gibt so vieles zu entdecken hier!"
Ylvigurs Gesicht leuchtete auf. „Ja, das liebe ich so sehr am Wald. Ich jage gerne, aber ich beobachte auch gerne die Tiere, ohne ihnen etwas zuleide zu tun."
„Du bist Jäger?"
„Auch, ja. Wir teilen unsere Aufgaben nicht so strikt wir ihr. Dazu sind wir zu wenig Leute. Wenn bei uns jemand nur davon leben wollte, dass er töpfert oder Kleidung schneidert, würde er den halben Tag ohne Arbeit herumsitzen."
Das verstand Piroska. „Bei uns versorgen manche Handwerker auch alle vier Dörfer. Wir haben nur einen Schmied; er lebt in Grünanger und alle Dörfler müssen zu ihm gehen."
„Das geht bei uns leider nicht, weil wir nur wenig Kontakt mit den Fraktionen haben. Aber es gibt doch so einiges, welches sie von uns kaufen oder wir von ihnen." Er ließ sich nicht weiter darüber aus und Piroska fragte nicht nach. Schließlich traute sie ihm nicht völlig und ging davon aus, dass es ihm nicht anders erging; warum sollte er ihr also seine Geheimnisse erzählen?
„Da vorne ist es", Ylvigur wies unvermittelt nach vorn. Piroska spähte aus, konnte aber nichts erkennen. Der Weg führte geradeaus weiter, aber in einer Entfernung von etwa fünfzig Metern schienen links des Weges plötzlich die Bäume zu fehlen. Dreißig Meter weiter tauchten dann erst Wipfel, dann Stämme wieder auf.
„Du weißt doch, dass es ein Tal ist", erinnerte Ylvigur sie und bedeutete ihr, weiterzugehen. Piroska folgte ihm und sah, an der „kahlen" Stelle angekommen, dass hier der Boden abrupt abfiel. Es war eine Bodensenke, wie sie in diesem Landstrich öfters mal vorkamen, ein beinah kreisförmiger Trichter. Dieser hier war allerdings tiefer und vor allem größer als jeder, den Piroska jemals gesehen hatte. Nicht einmal die Doline von Neuenbrück, in der das gesamte Dorf Platz fand, war so groß.
Die Senke befand sich gute vierzig Meter unter dem Weg, war aber bis auf die ziemlich steilen Wände einigermaßen eben. Vorausgesetzt, man sah davon ab, dass diese „Ebene" aussah wie ein von Piroska gemachtes Bett – voller kleiner Huckel und Dellen.
Dort, wo sie standen und auch weit nach Osten und Westen hinaus bestanden die Wände aus Erde und waren recht gut bewachsen. Eine Treppe oder einen Gang gab es nicht; Piroska würde sich die schiefe Ebene hinabquälen müssen. Sie fragte sich plötzlich, ob sich eines der Mädchen, welche zur Frau Großmutter gegangen waren, schon einmal hier den Hals gebrochen hatte. Vielleicht war das ja die Erklärung für deren Verschwinden?
Im Süden jedenfalls war die Senke von steilen Felswänden begrenzt. Und von dort schienen sich die Blutbuchen in das gesamte Tal ausgebreitet zu haben; jedenfalls standen sie da wesentlich dichter und dünnten sich auf dem Weg nach Norden aus, bis sie direkt unter ihnen nur noch vereinzelt ihr rotes Leuchten zwischen den dunkelgrünen Tannen und den hellen Birken zeigten.
„Die sind ja wirklich rot!" In den Dörfern hatte Piroska nur grün belaubte Buchen gesehen. Diese hier aber trugen Blätter von tiefem, bräunlichen Dunkelrot, ähnlich der Farbe ihres Haares. Und Ylvigurs – sie sah kurz zu ihm hinüber und verglich noch einmal. Dann blickte sie wieder seufzend an dem steilen Abhang hinunter. „Ich nehme an, wir müssen da hinunter?" vergewisserte sie sich mit einem letzten Funken Hoffnung, Ylvigur möge nein sagen. Die Wahrscheinlichkeit war allerdings gering, denn auch Katinka hatte ihr gesagt, sie müsse "dort, wo am Weg die Bäume fehlten, die Böschung hinuntergehen".
Er wies auf die südliche Felswand. „Schau, dort wohnt deine Frau Großmutter."
Weit hinten konnte Piroska ein kleines Holzhaus erkennen, das direkt am Felsen lehnte. Durch den huckeligen Boden war das Tal weniger dicht bewaldet als der Rest des Hünenwaldes und sie konnte mit den Augen einen schmalen Weg verfolgen, der sich durch das Tal wand und vor dem Häuschen endete. Sie straffte sich. „Also gut, gehen wir!"
„Du!" verbesserte Ylvigur. „Ich gehe nicht mit."
Überrascht drehte sie sich zu ihm um. „Nicht?"
Er schüttelte den Kopf. „Sobald ich den Abhang betrete, kann deine Frau Großmutter mich sehen, wenn sie in diese Richtung blickt. Du wirst alleine weitergehen müssen." Er hatte bereits die Kiepe abgenommen und half ihr nun, sie auf die Schultern zu nehmen. „Pass auf dich auf. Und geh langsam, nicht dass du ins Rutschen kommst."
Sie nickte. „Werd ich. Mach dir um mich keine Sorgen. Und nochmals vielen Dank für das Tragen, deine Begleitung und vor allen deine vielen Erklärungen. Ich habe den Wald viel bewusster wahrgenommen durch dich." Sie blickte zu ihm auf. „Sehen wir uns wieder?"
„Du hast mir Kuchen versprochen", erinnerte er sie lächelnd. Dann wurde er ernst – es verblüffte sie, dass er das überhaupt konnte. „Ich bleibe hier und werde auf dich warten. Wenn du zurückgehst, werde ich wieder mit dir gehen."
„Danke", sagte Piroska erleichtert und gestand dann ein: „Das beruhigt mich sehr – und es bedeutet mir auch etwas." Errötend wandte sie sich gleich ab und begann mit dem mühsamen Abstieg.
Auf halber Höhe drehte sie sich nochmal um. Sie vertraute Ylvigurs Worten, dass er bleiben wurde, aber sie wollte ihn noch einmal sehen.
Er kauerte zwischen den Büschen, in einer tiefen Hocke und hatte auch die Handflächen auf den Boden gestützt. Und er ließ sie nicht aus den Augen. Piroska lächelte. Irgendwie erinnerte Ylvigur sie an ihren Hofhund, wenn sie ihm erklärt hatte, dass er nicht mit ihr mitkommen durfte. Der pflegte dann auch so auf der Stelle zu hocken und sie zu beobachten, bis sie aus seinem Blickfeld verschwand.
In diesem Moment rutschte ihr linker Fuß weg. Sie konnte sich gerade noch an einem Busch festhalten und von da an konzentrierte sie sich auf den Abstieg. Und auf die Frau Großmutter sowie das, was sie dort erwarten würde.
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