Böser Verdacht
Momentlang herrschte fassungslose Stille. Raifa fasste sich als erstes: „Du willst doch nicht sagen, sie hätte etwas damit zu tun?"
„Kann überhaupt nicht sein", warf Rando ein. „Schließlich sahen wir diese Räuber ins Tal hinabsteigen und gleichzeitig Piri hinter dem Busch verschwinden."
„Ich habe nicht gesagt, dass Piroska mit dem Anführer identisch wäre, du Holzkopf! Die Axt, welcher dieser Kerl geschwungen hat, könnte sie nicht einmal anheben, sie ist ja kaum größer als diese riesige Waffe! Autsch!" Ylvigur warf Piroska einen ungnädigen Blick zu und legte seinen Verdacht nun genauer dar. „Sie muss kurz, bevor sie in den Wald ging, Kontakt mit diesem Menschen gehabt haben. Wen hast du beim Aufbruch oder davor getroffen?"
Piroska war sehr blass geworden. „Du meinst, ich habe diesem ... Mörder gegenüber gestanden? Aber ich habe viele Menschen getroffen, bevor ich den Wald betreten habe."
„Reines Vorübergehen reicht nicht aus. Du musst ihn irgendwie berührt haben. Der Geruch war schwach, aber erkennbar. Und noch eins – Anführer ist das richtige Wort. Es ist ein Mann."
„Ist das nicht sowieso klar?"
„Nein. Unter den Wegelagerern waren auch Frauen."
Kriszta und Stepan wirkten ebenfalls schockiert; jetzt erst war ihnen bewusst geworden, dass der Anführer der Wegelagerer jemand sein musste, den sie kannten – wahrscheinlich gut kannten und niemals verdächtigt hatten. Trotzdem drängte Kriszta: „Denk nach, Piri. Wem bist du alles begegnet?"
„Fang morgens nach dem Aufstehen an", Stepan war kreideweiß und er hatte die Fäuste geballt, aber welchen Verdacht er auch immer hegte, er wollte der Wahrheit ins Auge sehen.
Piroska begann: „Nach dem Aufstehen habe ich die Kühe gemolken und gefüttert, zusammen mit Vater. Mutter hat uns dann Getreidebrei serviert und Vater fragte, ob ich heute mit ihm aufs Feld gehen könne, aber Mutter erinnerte ihn daran, dass ich ja zur Frau Großmutter wolle. Er sagte mir daher jetzt schon Lebewohl, weil ich ja fort sein würde, wenn er zurück ist und – er nahm mich kurz in den Arm. Das tut er sonst so gut wie nie."
„Haarfarbe?" fragte Maciej behutsam. Piroska sah mit Tränen in den Augen auf. „Blond. Wie Stepan."
„Von Haarfarbe und Statur her hätte es Stepan sein können", sagte Ylvigur leise. „Ein wenig stämmiger war er – und älter. Kein junger Mann mehr, wenn auch noch nicht alt." Er legte Piroska den Arm um die Schulter und drückte sie an sich, um ihr Trost und Halt zu geben.
Jolanta nickte. „Ja, das würde ich auch sagen. Ich sah nicht viel von ihm unter Maske und Sackleinenumhang, aber ich kann Ylvigurs Beschreibung soweit bestätigen."
Piroska holte tief Luft und fuhr fort: „Als wir die Kiepe packten, waren da vor allem Mutter und Katinka. Es kamen mehrere Nachbarinnen hinein, aber nur ein Mann. Ivor, er brachte die Brote, die seine Frau gebacken hatte, scherzte noch etwas mit uns und fragte mich, ob ich die Kiepe oder die Kiepe mich tragen würde. Ich glaube, dabei berührte er mich auch. Er ist braunhaarig.
Marian hat mich auf jeden Fall berührt, er steckte mir das Messer in den Stiefel, damit ich nicht schutzlos sei. Er ist blond und kräftig, aber er ist erst sechzehn. Er wollte mitgehen, aber Göran trat dazwischen. Der ist auch groß und stämmig, hat aber schwarzes Haar. Und auf dem Weg nahm mich ein Bauer kurze Zeit auf seinem Wagen mit. Seinen Namen kenne ich nicht und seine Größe kann ich nicht abschätzen, aber auch er war blond." Sie lächelte mühsam. „Der nächste Mann, dem ich dann begegnete, war rot."
„Das lässt nicht viel Spielraum zum Spekulieren", fasste Natalia vorsichtig zusammen. „Aber ein sicherer Beweis für den einen oder anderen ist das auch nicht. Die Frage ist, wie entlarven wir die Wegelagerer? Sie haben das beste Versteck gefunden, das ich mir vorstellen kann."
„Wir können sie in eine Falle locken", schlug Maciej vor. „Das ist das einzige, das ich mir vorstellen kann. Eine Reisegesellschaft, Händler oder Adelige auf Vergnügungsfahrt, die reiche Beute verspricht, aber Soldaten in unmittelbarer Nähe."
„Zu nah dürfen sie nicht sein", bremste Asena. „Sonst schöpfen sie Verdacht. Allerdings würden sie zweifellos überrascht sein, wenn sich die Adeligen als Wilkos entpuppen. Was hältst du davon?"
Maciej musterte die schlanke, junge Frau verdutzt. „Sicher, aber du würdest da doch nicht mitkämpfen wollen?"
„Warum nicht?" fuhr Asena auf. „Ich bin vielleicht nicht so groß wie meine Brüder, aber kämpfen kann ich!"
„Aber du bist eine Frau!"
„Ihr Menschen seid wirklich verrückt! Das hat doch damit nichts zu tun."
„Wie wollt ihr denn sicherstellen, dass die Wegelagerer erfahren, dass reiche Beute unterwegs ist?" Randos Einwand hatte unter anderem auch den Zweck, den beginnenden Streit im Keim zu ersticken. Alle Wilkos kannten Asenas Temperament und ihre Aversionen gegenüber den Menschen und bemühten sich ständig, sie nicht zu weit gehen zu lassen.
„Stimmt, wir müssten erstmal die Informanten ausfindig machen", gab Maciej zu.
„Das glaube ich nicht", Janusz lächelte. „Es müsste reichen, die Route nachzuvollziehen, die mein Bruder nahm. An irgendeiner Station muss jemand gewesen sein, der dann den Räubern Bescheid gab."
„Am besten bin ich dann wieder als Kirschbaum dabei", schlug Jolanta vor. Ihr Vater verschluckte sich prompt an seinem Wein. „Als was?"
Während Jolanta Janusz erklärte, wie die Wegelagerer sie genannt hatten und warum, wandte sich die Fürstin an Raifa: „Die Idee scheint mir sehr brauchbar. Und ich möchte mir ohnehin einen gewissen Grafen zur Brust nehmen. Was denkst du, könnten wir euch begleiten, wenn ihr nach Hause zurückkehrt? Kutschen haben wir genug, um dort einige von euch versteckt unterzubringen und meine Soldaten können uns in genügender Entfernung zu Pferde folgen, zusammen mit einem von euch. Werden wir dann überfallen, genügt ein Heulen und unser Entsatz erreicht uns sehr schnell."
Raifa nickte. „Die Idee gefällt mir sehr gut. Das werden wir in den nächsten Tagen noch genauer ausarbeiten können." Sie sah lächelnd zu den jungen Leuten hinüber, die immer wieder verstohlen gähnten. „Allmählich sollten wir die Diskussion beenden. Ihr Menschen braucht euren Schlaf."
„Ihr nicht?"
„Wir können tagelang ohne auskommen, wenn es sein muss."
„Und unser Sohn braucht noch etwas ganz anderes", Amarok stand auf und tippte Ylvigur auf die Schulter. „Komm mal mit. Ich habe deine Maske dabei, ich hatte schon so eine Ahnung. Ist schließlich nicht das erste Mal."
Folgsam stand der junge Mann auf und folgte seinem Vater an einen Nebentisch, auf dem Amarok bereits seine Utensilien aufgebaut hatte. Piroska grinste zu Raifa hinüber. „Er meinte, er habe sich die Nase schon zweimal gebrochen."
„Dreimal!", verbesserte Raifa. „Das wäre das vierte Mal."
„Das fünfte", kam es von Amarok. „Du vergisst das eine Mal, als er noch sehr klein war."
„Ach so, ja. Daran wird er sich selbst nicht mehr erinnern."
„Jiautsch!" kam es von Ylvigur. Sein Vater entschuldigte sich gleich: „Tut mir leid, aber ich musste das richten. Sonst würdest du lebenslang Schwierigkeiten beim Atmen haben."
„Allmählich sollte er das ja kennen", Rando lachte. „Außerdem ist er selbst schuld. Überall steckt er seine lange Nase rein und wundert sich dann, wenn ihm mal jemand draufhaut."
Selbst die Dörfler mussten grinsen. Allmählich wich der Schock von ihnen, doch ein nagender Verdacht blieb zurück, den keiner von ihnen auszusprechen wagte. Stillschweigend waren sie überein gekommen, zunächst einmal nicht weiter darüber nachzudenken.
Ylvigur kehrte jetzt zurück, ein Salbenpflaster auf dem Hinterkopf und eine bernsteinfarbene Maske über der oberen Gesichtshälfte, welche mit Lederstreifen befestigt worden war. Sie umschloss vor allem die Nase und zwei schmale Schienen schoben sich in die Nasenlöcher. Trotzdem atmete der junge Mann jetzt leichter.
Verwundert berührte Piroska die Maske. Sie fühlte sich glatt und warm an und schien leicht elastisch zu sein. „Was ist das?"
„Getrocknetes Baumharz", gab Amarok Auskunft. „Sensible Körperstellen schiene ich lieber damit als mit Holz. Und in Ylvigurs Fall hat sich die Anfertigung ja gelohnt."
Danijel trat jetzt mit einer sympathisch wirkenden älteren Frau zu ihnen. „Dies ist unsere Haushälterin, sie hat Zimmer für euch vorbereitet. Ich denke, ihr sollte so langsam schlafen gehen." Er wies auf Kriszta, die schon im Stehen halb schlief. „Ihr alle braucht Schlaf."
„Dann gute Nacht, bis morgen", wünschte Jolanta. „Ich gehe natürlich mit nach Hause. Aber morgen hole ich euch ab und zeige euch mein Heim und die Stadt."
Danijel stimmte zu. „Mach das. Ich habe die erste Besprechung auf zwei Uhr festgelegt, bis dahin seid ihr frei."
Die Haushälterin führte nun die Dörfler und die Wilkos zu ihren Zimmern, während Jolanta mit ihrer Familie nach Hause ging. Piroska lauschte auf die Geräusche, die von den offenen Fenstern im Flur hereindrangen und stellte fest, dass es zumindest auf dem Platz ruhiger geworden war. Offenbar hatten die Soldaten Erfolg gehabt. Vereinzelt war noch Gesang und Gelächter zu hören, aber keine hasserfüllten Rufe mehr.
Kriszta stolperte halbblind in das Zimmer hinein, in welchem sie mit Piroska nächtigen sollte. Ihre Freundin blieb noch einen Moment draußen stehen. „Ehrlich gesagt würde ich lieber bei dir schlafen", wisperte sie Ylvigur zu. Im nächsten Moment wurde sie rot, als ihr aufging, was sie gesagt hatte. „Entschuldige, ich bin wirklich schamlos. Göran hat wohl doch recht."
„Vergiss ihn. Du bist nicht schamlos, nur ehrlich", Ylvigur hob ihr Kinn mit der Hand an, damit sie ihm in die Augen sehen musste. Und in sein zärtliches Lächeln. „Glaubst du, ich wüsste nicht, dass du das nicht jedem Mann sagen würdest? Schamlos wärest du, wenn du dich wahllos jedem anbötest. Dass du für mich deine ‚gute Erziehung' vergisst, empfinde ich als große Ehre.
Im übrigen geht es mir nicht anders. Ich würde gerne mit Kriszta das Zimmer tauschen, aber ich bezweifle, dass sie bei Rando übernachten möchte." Er grinste. „Auch wenn er wohl nichts dagegen hätte. Aber deine Freundin ist ebenso wenig für Spielchen zu haben wie du, auch wenn sie besser flirten kann."
Piroska sah sich um, entdeckte einen kleinen Schemel, ergriff ihn und stellte ihn vor Ylvigur, der bereits das Schlimmste befürchtete. Aber als sie das Utensil erklommen hatte, legte sie dem Werwolf nur die Arme um den Hals und küsste ihn innig. Woraufhin er sie fest in die Arme schloss und den Kuss in aller Ausführlichkeit beantwortete.
Schließlich ließen sie von einander ab. „Hm, es ist noch viel besser, wenn ich frei atmen kann", murmelte Ylvigur. „Aber das macht es mir nicht gerade leichter, dich nun brav in deine Kammer gehen zu lassen."
„Ich stelle mir einfach vor, wie es wird, wenn das alles vorüber ist", gab Piroska zu.
Der Werwolf nickte. „Das ist das Beste. Denk nicht daran, was morgen alles geschehen kann, stell dir das Übermorgen vor. Es wird sich alles finden und ich glaube, dass wir vielleicht kein übermäßig glückliches, aber doch ein einigermaßen gutes Ende finden werden."
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