Blond

„Also gehen wir nach Kaufmannshaven?" vergewisserte sich Faolán noch einmal.

Amarok nickte bedächtig. „Nach allem, was wir von der hohen Dame wissen, hat diese Eliska keine Vermittlung in Kronburg. Und die anderen Ortschaften habt ihr ja alle schon abgesucht."

„Kaufmannshaven ist riesig", gab Faolán zu bedenken. „Und dort treffen sich Menschen aus aller Herren Länder. Es ist eines größten Handelszentren, die ich auf meiner Reise hierher sah. Wir werden uns vermutlich trennen müssen, wenn wir nicht mehrere Monate lang suchen wollen."

„Nun, wir haben jetzt den Hinweis auf diese Vermittlerin", meinte Raifa. „Das ist schon einmal ein großer Vorteil. Ich habe da andere Bedenken. Weißt du, wie die Menschen dort auf Werwölfe reagieren? Ich war noch nie dort. Ich kenne nur Kronburg und dort sind sie zwar nicht erfreut, uns zu sehen, aber sie sprechen mit uns. Und treiben Handel."

„Nicht so gut. Die meisten sehen uns als Tiere. Wenn sie dort einen Werwolf ohne Maulkorb antreffen, wird er sofort eingesperrt. Und sie haben dort ihre Methoden, uns zu ‚zähmen'. Sie denken, was bei Hengsten und Stieren klappt, muss auch bei uns funktionieren."

„Ich denke, wir sollten uns nicht nur nach Ylvigur umsehen und der Kleinen, die ihn so umtreibt, sondern auch nach Jolanta", schlug Varg vor. Auf die verwunderten Blicke hin erklärte er: „Das von den Wegelagerern entführte Mädchen. Ich kenne sie und ihre Familie recht gut. Ihr Großvater kauft Leder und Horn von uns, ihr Vater die gemaserten Steine, die wir im Wald finden und ihr Onkel das Gold aus der Haselrinne. Und fast jedes Mal, wenn ich auftauche, kommt eine niedliche Blondine dazu und besteht darauf, alles erklärt zu bekommen. Wenn jemand was sagt, gibt sie immer zurück: ‚Ich soll das alles erben, also muss ich Bescheid wissen.' Es schien mir aber immer so, als würde sie weniger das Erbe als vielmehr die Materie selbst interessieren."

„Das muss es ja, wenn sie die Werkstätten übernehmen will", meinte Uke, doch Varg schüttelte den Kopf. „Die Menschen sehen es nicht so gerne, wenn Mädchen und Frauen Berufe erlernen."

„Wieso denn das?" Ukes Frage blieb unbeachtet, denn nun diskutierten die anderen darüber, wer nach Kaufmannshaven gehen sollte und wer den Wilkos im Dorf und bei der Frau Großmutter Bescheid geben sollte.

„Ich gehe diesmal nicht!" rief Uke vorsichtshalber. „Ich will auch mal dabei sein!"

„Es geht um meinen Bruder!" trotzte Tala.

„Und um meinen Lebensgefährten", tönte Rando. „Noch", setzte er dann hinzu.

„Ist gut, ich gehe", erbot sich Axeu. „Er ist zwar auch mein Bruder, aber ich bin ohnehin später dazugekommen. Außerdem kann ich euch schnell einholen."

„Einverstanden", wenn Raifa das sagte, wussten alle, dass die Entscheidung gefallen war. „Geh, sag Bescheid und komm dann nach, wir werden Zeichen hinterlassen. Außerdem müssen wir als Menschen gehen, weil wir uns durchfragen müssen, sind also langsamer als du. Und wenn Vukan mitkommen will, nimm ihn mit."

„Er will. Er macht sich genauso Sorgen um den Kleinen."

„Der Kleine ist inzwischen größer als du", Varg grinste und Axeu staunte. „Ehrlich?"

„Ihr wart zehn Jahre fort. Du wirst ihn kaum wiedererkennen", Amarok lachte leise.

Axeu überlegte. „Hat er die Haarfarbe geändert?"

„Nein, das nicht", gab Raifa zu.

„Und hat er aufgehört zu lachen und zu singen?"

„Ich glaube, das kann er gar nicht. Dann wäre er nicht mehr Ylvigur", lächelte Rando.

Axeu lachte. „Dann werde ich ihn auf jeden Fall wiedererkennen."

Er blickte sich rasch um, aber nirgendwo waren Menschen zu sehen. So zog er sich rasch aus, verstaute die Kleider im Rucksack und konzentrierte sich. Einen Moment lang verschwamm seine Gestalt, dann stand ein großer, graugelber Wolf vor ihnen. Er stieß ein leises Abschiedswinseln aus, nahm den Rucksack zwischen die Zähne und sauste davon.

Raifa sah ihrem ältesten Sohn einen Moment lang nach, dann wandte sie sich in Richtung Kaufmannshaven und wollte schon losgehen, als Tala sie stoppte. „Du musst dich erst umziehen, Mama. Ich würde das auch gerne, aber leider hat Faolán mein Kleid nicht eingepackt."

„Habe ich wohl!" empörte sich der Beschuldigte.

„Es ist weder bei dir noch bei mir im Rucksack!"

„Ich weiß auch nicht, warum, aber ich habe es eingepackt!"

„Ruhe!" Raifa sagte es nicht einmal laut, aber mit soviel Autorität in der Stimme, dass das streitende Ehepaar sofort still wurde.

„Warum müssen wir uns überhaupt umziehen", fragte Raifa dann.

„Weil die Menschen hier mich behandelt haben wie eine Schlampe. Nur weil ihrer Meinung nach eine Frau keine Hosen trägt!" Tala war wie alle anderen der Gruppe in ein langes Lederhemd, helle Leinenhose und kurze Stiefel gekleidet, in welchen die weiten Hosenbeine staken. Für die Werwölfe eine ganz normale Kleidung, nicht unähnlich dem, was die Männer dieser Gegend trugen. Für die Menschen aber eine bei Frauen absolut nicht angemessene Körperbedeckung.

„Beruhige dich, Kind, ich habe mehrere Kleider dabei. Ich dachte, vielleicht brauchen wir welche für die entführten Mädchen." Raifa packte ihren Rucksack aus und Tala begutachtete die Kleidungsstücke. „Danke, ich nehme das grüne. Oder nein, besser das rote, dann kannst du das grüne dieser Piroska leihen, falls sie eines braucht. Laut Ylv hat sie genauso braunrotes Haar wie er, da sieht rot dazu scheußlich aus."

„Als ob das wichtig wäre", stöhnte Rando und lachte, als Faolán hinter dem Rücken seiner Frau ebenfalls die Augen verdrehte. „Außerdem könnte die Kleine weder mit dem roten noch mit dem grünen Kleid etwas anfangen. Da versinkt sie drin."

„Und ich dachte, du nennst sie nur so Kleine."

„Nein. Ich konnte sie von weitem sehen und dachte erst, das ist ein Kind. Sie misst nicht mehr als anderthalb Meter."

„Huch! Die kann man ja fast in den Rucksack packen!"

„Das wäre Ylvigur bestimmt lieb. Da kann er sie nicht mehr verlieren."

Wölfe, auch Werwolfe können tagelang wandern, ohne zu schlafen und zu essen. Allerdings nur, wenn sie auf allen vier Pfoten laufen können. Bis sie Kaufmannshaven erreicht hatten, waren sie alle müde und fußlahm.

„Wir sollten uns ein Gasthaus suchen", meinte Varg. „Das wird sowieso eine Zeitlang dauern, denn nicht alle nehmen Wilkos auf. Und dann kann Tala sich erst einmal hinlegen."

„Mir geht's gut", fauchte die Angesprochene. „Ich bin trächtig, nicht krank!"

Raifa grinste. „Lasst es einfach. Es ist wirklich nicht so schlimm wie ihr Männer euch das vorstellt und weitaus schwerer als das Baby zu tragen ist dieses ständige Umsorgen zu überstehen. Wir sind erwachsen und mündig und melden uns schon selbst, wenn es nicht mehr geht!"

Bei diesen Worten fuhr Amarok erschrocken zu ihr herum. „Wir? Bist du etwa schon wieder ...?"

„Was? Nein!" Raifa musste lachen. „Fünf reichen mir eigentlich. Ich meinte im Allgemeinen wir Frauen. Und im Besonderen Tala. Lasst sie in Ruhe."

In diesem Moment trat ein Wachsoldat auf sie zu. „Könnt ihr euch ausweisen?" fragte er.

Amarok und Raifa wechselten einen Blick, dann ergriff Raifa das Wort. „Wir sind Wilkos aus dem Ostwald. Ich bin Raifa, die Führerin."

„Dass ihr Wilkos seid, sehe ich", erwiderte der Soldat. „Aber die da ist keine!" Er wies auf Tala.

„Was? Natürlich bin ich eine!" meldete diese sich empört.

„Hauptmann!" rief der Soldat. „Hier ist eine Blonde, die behauptet, eine Wilko zu sein. Sie sieht aber nicht danach aus!"

Tala warf ihrem Vater einen ärgerlichen Blick zu. Er stammte aus einen westlicherem Land und seine Züge, die sie von ihm geerbt hatte, waren weniger ausgeprägt. Bei ihm als Mann fiel es weniger auf. Ihr Gesicht jedoch war schon aufgrund ihres Geschlechtes zarter und zeigte kaum noch Anzeichen eines Werwolfs. Es war nicht das erste Mal, dass man sie für einen Menschen hielt.

Der gerufene Hauptmann kam gleich mit der ganzen Mannschaft, zehn Wächtern, zu ihnen. Er ließ sich Tala zeigen und zögerte. „Warum sollte die Entführte behaupten, eine Wilko zu sein, wenn sie's nicht ist?" Er beäugte Tala noch einmal. „Sie sieht aber wirklich nicht so aus."

„Außerdem, Hauptmann", sagte einer der Männer. „Sie könnte von ihnen gebissen worden sein."

„Hm", der Hauptmann blickte die anderen an. „Das sind alles Wilkos."

„Wissen wir", bemerkte Raifa trocken. „Und Tala ist meine Tochter. Das bezeuge ich euch gerne."

„Sie sieht dir nicht im Geringsten ähnlich", erwiderte der Hauptmann ruhig. „Ich will nicht sagen, dass ich dir nicht glaube. Aber wir sind gehalten, im Zweifel das Mädchen nach Kronburg zu senden, damit ihre Familie sie identifizieren kann. Die Beschreibung passt auf dich", sagte er zu Tala. „Jung, blond, schlank und recht hochgewachsen."

Jetzt bedauerte Tala, dass ihre Schwangerschaft noch nicht weiter fortgeschritten war.

„Es tut mir leid", schloss der Hauptmann. „Wir können dich nicht eindeutig als Wilko erkennen. Und selbst wenn – ich bin mir nicht sicher, ob es tatsächlich möglich ist, einen Menschen durch einen Biss in einen Wilko zu verwandeln, aber ich möchte nichts riskieren. Wir werden dich nach Kronburg bringen. Wenn du nicht die Gesuchte bist, wirst du einen Pass bekommen, der das bestätigt und du bist frei, zu gehen, wohin immer du willst."

„Sie geht nirgendwohin ohne mich!" Faolán stand fest und aufrecht neben seiner Frau.

„Das ist kein Problem", erwiderte der Hauptmann gelassen. „Denn euch muss ich ohnehin festnehmen. Sollte dieses Mädchen die Gesuchte sein, dann seid ihr ihre Entführer." Er wandte sich an seine Soldaten. „Festnehmen!" befahl er.

Ratlos sahen alle zu Raifa. Die jedoch zuckte die Schultern und hielt den Soldaten als erstes die Hände hin, damit man sie fesseln konnte. Sie hatte schnell erkannt, dass Widerstand das Problem nur vergrößern würde. Und man würde in Kronburg ja schnell erkennen, dass Tala nicht die gesuchte war und sie wieder freilassen.

Weder die Wilkos noch die Soldaten hatten die gutgekleidete, bieder wirkende Frau gesehen, welche die Szene von der anderen Straßenseite aus beobachtet hatte. Sie murmelte einen Fluch und ging hastig weiter.

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