Begegnung auf dem Weg
Im ersten Moment erkannte Piroska die Gestalt nur undeutlich. Aufgrund der Größe hatte zunächst an einen Hirsch gedacht, aber wäre ein Fuchs vor einem solchen geflohen? Aber was da auf den Weg trat, war weder Hirsch noch Wildschwein noch Wolf. Es war ein Mensch.
Erleichtert atmete Piroska auf und stellte den linken Fuß wieder auf den Boden. Im nächsten Moment kam ihr ein Gedanke und sie erschauderte erneut. Ein normaler Mensch wäre doch sicher den Weg entlang gekommen und hätte sich nicht quer durch Büsche und Unterholz geschlagen. Vermutlich gehörte der Mann zu den Wegelagerern, die laut Katinka keine Gefahr für sie sein sollten. Aber so naiv war Piroska nicht, um nicht zu wissen, dass selbst ein armes Mädchen, welches nur einige Lebensmittel bei sich führte, eine Art Schatz für Männer darstellte, die nur selten mit der Zivilisation – und mit Frauen - in Berührung kamen.
Allerdings sah der Mann nicht so aus, wie sie sich Räuber vorstellte. Er war einfach, aber ordentlich und sauber gekleidet. Er trug ein weites Leinenhemd, eine einfache Lederweste, eine Pluderhose und halbhohe Stiefel wie die meisten Männer in diesem Landstrich. Seltsam war nur, dass seine Kleidung zwar sorgfältig gefertigt war, wie Piroska mit geübten Blick erkannte, aber ohne jeglichen Schmuck oder wenigstens der einen oder anderen Stickerei. Selbst das Hemd war geschnürt und nicht geknöpft. Der Gürtel um die Taille bestand aus geflochtenen Lederbändern und war geknotet; eine Schnalle gab es nicht. Zudem trug er keinerlei Waffen mit sich; zumindest auf den ersten Blick. Natürlich konnten die Stiefel und die weiten Ärmel des Hemdes das eine oder andere Messer verbergen und diese Vorstellung jagte Piroska mehr Angst ein als eine offen getragene Waffe es getan hätte. So ziemlich jeder Mann hatte doch wenigstens ein kleines Messer bei sich. Und im Wald bewegten sich außer Händlern in der Regel nur Holzfäller und Jäger. Diese hätten aber Hirschfänger und Bogen oder eine Axt bei sich getragen.
Der Mann schien nicht zu ahnen, welche Befürchtungen Piroska hegte; er kam auf sie zu und lächelte sie freundlich an. Sie erkannte jetzt, dass er noch recht jung war, sicher nicht mehr als zwei, drei Jahre älter als sie selbst. Sein unbedecktes Haar war glatt, aber ebenso rotbraun wie ihres, seine Augen dunkelbraun und seine gebräunte, frische Haut zeugte davon, dass er viel Zeit draußen verbrachte. Aber wie ein Mensch, der im Wald nächtigte und kein Heim besaß, sah er nicht aus.
„Du schaust mich an wie ein verschüchtertes Reh", stellte er lachend fest. „Ich beiße nicht, weißt du. Jedenfalls keine kleinen Mädchen, die allein durch den Wald laufen. Wo will denn dieser riesige Korb mit dir hin?"
„Ich bin nicht klein", entgegnete Piroska empört und richtete sich zu ihrer vollen, leider nicht sehr eindrucksvollen Größe auf. „Ich bin schon achtzehn!"
„Ach, schon?" Er zog eine dichte Braue hoch. „Dafür bist du aber nicht gerade groß."
Das stimmte. Ihre geringe Größe hatte Piroska immer schon geärgert. Gerade dieser junge Mann hatte allen Grund, sie damit aufzuziehen, denn ihm reichte sie kaum zur Schulter. Und er war zwar hager und sehnig, wirkte aber durchaus kräftig. Piroska trat einen Schritt zurück, als er noch näher an sie herantrat. Das belustigte ihn offenbar, doch er schien es auch zu verstehen.
„Es ist gut, wenn du vorsichtig bist", gab er zu und blieb stehen, um sie noch nicht weiter zu verscheuchen. „Der Wald kann für manche zur Gefahr werden. Aber eben darum sollte man ihn nicht alleine durchqueren."
„Du bist doch auch alleine", schlug sie zurück.
„Nicht wirklich. Meine Leute sind in der Nähe. Und ich kann mich verteidigen. Du siehst nicht danach aus."
„Ich habe ein Messer", fauchte Piroska. Er lächelte wieder. „Ja und ich weiß auch wo. Ich bezweifle jedenfalls, dass du einfach die Angewohnheit hast, wie ein Storch auf einem Bein im Wald herum zu stehen."
„Und wenn doch?" fragte sie trotzig.
Er lachte und begann plötzlich leise zu singen:
„Ein Mädchen steht im Walde
Auf einem Bein,
Es hat von lauter Scharlach
Ein Mäntlein klein.
Sagt, wer mag das Mädchen sein,
Das da steht im Wald' allein
Mit den purpurroten Wangen fein?"
Mit dem letzten Satz traf er ins Schwarze; Piroskas Gesicht glühte vor Verlegenheit und ihr war klar, dass sie wohl knallrot angelaufen war.
„Du bist gemein!" Ihre Furcht schwand allerdings immer mehr; er benahm sich nicht wie ein Bösewicht, sondern neckte sie beinahe freundschaftlich, wie sie es von Stepan und Marian auch kannte.
„Ärger dich nicht", sagte er gutmütig. „Ich liebe es nun einmal, die Leute aufzuziehen, das ist jedoch nicht böse gemeint. Und wenn ich's zu arg treibe, tritt mir einfach ans Schienbein. Das machen meine Schwestern auch immer. Ich hör' dann auf."
Piroska war sehr versucht, diesen Rat auf der Stelle zu befolgen. Stattdessen fragte sie ihn: „Wer bist du überhaupt? Und was machst du hier im Wald? Du siehst nicht aus wie ein Reisender, sondern wie einer von hier."
„Ich bin einer von hier. Du offensichtlich auch."
„Aber du bist nicht aus einem der vier Dörfer?" Dessen war sie sich ziemlich sicher, obwohl sie natürlich nicht alle Personen kannte, die dort lebten.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, wenn du damit Altkirch, Grünanger, Holzhausen und Neuenbrück meinst. Unser Dorf ist nicht am Waldrand, sondern mitten im Wald."
„Ich wusste gar nicht, dass dort ein Dorf ist", wunderte sie sich.
„Das wissen auch nicht viele. Uns ist das recht so."
„Und wie heißt dein Dorf?" Piroska war noch nicht geneigt, ihm das so einfach zu glauben.
„Wilkin. Und aus welchem Dorf kommst du?"
„Altkirch." Sie glaubte sich vage zu erinnern, einmal etwas von Wilkin gehört zu haben. Vielleicht war es doch in Ordnung, ihm zu vertrauen.
„Aha. Und gibt man dort den Mädchen auch Namen?"
Der hatte vielleicht eine Art zu fragen! „Ich bin Piroska."
Er nickte. „Schöner Name. Sehr passend", er wies auf ihre dunkelroten Locken und sie zog die Nase kraus. „Zieh nicht auch noch du mich damit auf!"
„Das wäre ziemlich dumm von mir. Hast du nicht gesehen, dass ich auch recht rotes Haar habe?"
„Ja, aber du heißt wahrscheinlich nicht auch noch ‚kleine Rote' wie ich!" Sie konnte auch auf diese Art Fragen stellen. Jetzt war er sozusagen gezwungen, seinen Namen zu nennen.
„Nein, das nicht. Ich heiße Ylvigur. Ist allerdings auch passend gewählt."
Den Namen hatte sie noch nie gehört. „Was bedeutet denn Ylvigur?"
„Das erzähle ich dir später vielleicht einmal", erwiderte er ausweichend. „Jetzt sag mir mal, wo du eigentlich hinwillst, mit einer Last, die viel zu schwer ist für dich."
„Ich schaffe das", sagte sie trotzig. „Ich bin kein Schwächling!" Dann lenkte sie ein. „Ich gehe zur Frau Großmutter. Wir sind diesmal dran."
„Zu deiner Großmutter? Warum gehst du dann hier durch?"
„Nicht meine Großmutter, DIE Frau Großmutter. Und ich geh hier lang, weil sie im Wald lebt."
„Oh!" Jetzt schien er zu verstehen. „Die Frau, die in der Hütte im Blutbuchental wohnt?"
„Ja, genau. Wir versorgen sie regelmäßig mit allem, was sie braucht."
„Die scheint aber sehr viel zu brauchen. Treibt sie Handel?"
„Natürlich nicht. Sie ist eben alt und kann sich nicht mehr selbst versorgen und wir aus den vier Dörfern kümmern uns um sie."
„Aha. Und darum trippelst du hier durch den Wald. Dir ist schon klar, dass das ein ganz schöner Marsch ist? Vor dem Dunkelwerden schaffst du das nicht mehr."
„Umso mehr muss ich mich eben beeilen. Danke für das nette Gespräch, aber ich mache mich jetzt besser wieder auf den Weg." Piroska ließ Ylvigur kurzerhand stehen und schritt energisch aus.
Aber so leicht konnte sie ihren neuen Bekannten nicht loswerden. Ylvigur war verblüfft stehengeblieben, hetzte ihr dann aber nach und holte sie rasch ein. Und als sie entschlossen weiterging, lief er einfach vor ihr her, das Gesicht ihr zugewandt. „Ich bin neugierig, Piroska. Wir wissen sehr wenig über die Dame im Wald, weißt du. Ich habe mich oft gefragt, warum sie da so alleine lebt. Kannst du mir das erklären?"
„Das ist, weil ..." Piroska stockte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass auch sie keine Ahnung hatte, warum die Frau Großmutter das einsame Leben im Wald vorzog. Aber das ging Ylvigur schließlich nichts an. Sie ruckte den rechten Träger der Kiepe zurecht und wies den jungen Mann zurecht: „Das musst du doch gar nicht wissen. Stirbst du, wenn ich's dir nicht sage?"
„Es sollen schon Katzen an Neugier gestorben sein. Das kann sicher auch anderen passieren."
„Dann ist das aber auch verdient! Sag mal, hast du keine Angst, dass du stolperst, wenn du weiterhin rückwärts gehst?"
„Ach nein, nicht wirklich. Ich habe eher Angst um ein kleines Mädchen, das ganz alleine hier herumstolpert."
„Danke, aber du brauchst dich nicht zu sorgen. Ich schaffe das schon."
„Ich sorge mich aber. Du bist nicht die erste, die ich hier langgehen sehe. Und es kommen nicht alle zurück."
Piroska schluckte. „Ich weiß. Aber ich werde aufpassen und nicht vom Weg abweichen. Ich hab's versprochen."
„Was hat der Weg damit zu tun?"
„Wie meinst du das?"
„Ich meine, wieso glaubst du, dass dir auf dem Weg nichts passieren kann?"
„Aber – das sagen alle – wir müssen nur auf dem Weg bleiben -", Piroska brach ab. Wieder einmal wusste sie keine Antwort auf Ylvigurs Fragen.
„Komm, Piroska, sei nicht so stur. Bleib mal einen Moment stehen."
„Und warum? Dann komme ich nur noch später an."
„Ich will dich begleiten. Dann bist du wenigstens etwas sicherer. Und wenn wir ohnehin zu zweit gehen, kann ich dir auch einen Teil der Last abnehmen."
„Du willst mich bestehlen!" Piroska ging schneller, in der Hoffnung, dass Ylvigur mit seinem Rückwärtsgang nicht mitkam oder doch stolpern würde. „Ich wusste es! Du gehörst zu den Wegelagerern!"
„Quatsch, die kommen niemals alleine. Und siehst du hier noch wen außer mir?"
"Nein", gab sie zu. "Du hast recht. Ich muss mich wohl doch eher vor Wölfen fürchten." Piroska hatte noch nie einen Wolf gesehen. Sie stellte sie sich wie einen großen Hund vor und Hunde mochte sie sehr. Aber Wölfe waren als Wildtiere ein anderes Kapitel.
"Wölfe gibt es in diesem Teil des Waldes nur selten. So wie wir nicht in den westlichen Sektor gehen, kommen die Wölfe nur zufällig mal in den Ostwald."
Piroska hatte gar nicht gewusst, dass der Wald eingeteilt war. Aber das konnte auch eine Lüge von Ylvigur sein. „Und in welchem Teil befindet sich deiner Meinung nach das Haus der Frau Großmutter?"
Ylvigur zuckte zusammen. „Im Westen. Aber soweit komme ich mit dir, keine Angst."
Das war es nicht, was Piroska Sorge bereitet hatte. „Warum willst du mich unbedingt begleiten?"
„Weil ich es nicht gut finde, wenn du allein hier herumläufst. Noch dazu willst du in den gefährlichen Teil des Hünenwaldes."
„Sagst du. Hier gibt es Wölfe, das weiß ich. Die Frau Großmutter lebt darum so weit im Wald, weil es im Tal der Rotbuchen keine Wölfe gibt."
„Das stimmt. Aber hier gibt es auch keine Wölfe, vor denen du dich fürchten müsstest."
„So ein Unsinn! Meine beste Freundin haben sie getötet!" Piroska stiegen die Tränen in die Augen. Hier im dämmerigen Forst war es viel leichter, sich vorzustellen, was Kriszta zugestoßen sein musste und welche Angst und Qual sie sicherlich vor ihrem Tod durchlitten hatte.
„Die hübsche Schwarzhaarige?"
Piroska blieb erstaunt stehen. „Du kennst sie?"
„Nein. Ein Freund von mir hat sie gesehen. Sie wollte aber nicht mit ihm sprechen und er folgte ihr bis zum Rötelfluss – er bildet die Grenze, weißt du. Sie ging hinüber, kam aber nicht mehr zurück. Wenn es, wie du sagst, drüben keine Wölfe gibt, wer hat sie dann getötet?"
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top