Weg zum Zuckerland (Teil 1)
"Wenn das so weiter geht, werden wir hier noch verhungern", jammerte Maria und sah ihren Mann verärgert an, als wollte sie ihm die Schuld an ihrer misslichen Lage geben. Der vollbepackte Wanderrucksack, den sie auf ihrem Rücken trug, schien mit jeder Sekunde schwerer zu werden. Maria atmete laut vor Anstrengung und es machte fast den Eindruck, als würden sie ihre Kräfte bald verlassen. Lange würde sie ihren Rucksack zumindest nicht mehr tragen können, da war sich Henry sicher.
Er hatte gleich gewusst, dass es eine schlechte Idee gewesen war, den vorgegebenen Wanderweg zu verlassen und weiter in die Wildnis vorzudringen. Doch Maria hatte darauf bestanden, die Gegend zu erkunden und eine alte Ruine aufzusuchen, von der sie in einer Zeitschrift gelesen hatte. Dummerweise war die Wegbeschreibung, die sie zuvor rausgesucht hatte, nicht sonderlich hilfreich gewesen und so hatten sie sich bereits nach kürzester Zeit in den Wäldern verirrt. Nun wanderten die beiden schon seit Stunden durch die Wildnis und noch immer war kein Ziel in Sicht. Wenn es so weiter ging, würden sie sogar die Nacht hier verbringen müssen. Oder schlimmer noch, was wäre, wenn sie vorerst gar nicht mehr zurückfanden? Henry schüttelte die beängstigenden Gedanken rasch ab und versuchte sich abzulenken. Das was sie jetzt am wenigsten gebrauchen konnten war, wenn er auch noch in Panik geriet. Nein, er musste einen kühlen Kopf bewahren, schließlich reichte es bereits, dass Maria ihre Gefühle nicht unter Kontrolle hatte und immer nervöser wurde.
Er setzte seinen Weg fort und folgte einem kleinen Fluss, der rechts von ihm durch den dichten Wald verlief. Bei jedem seiner Schritte klapperte das Geschirr, das er in seinem schweren Rucksack mit sich trug. Maria folgte ihm widerwillig und grummelte mürrisch etwas vor sich hin, um ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen, doch er beachtete sie nicht weiter. Er hatte einfach keine Lust mit ihr zu streiten, zumal Maria ohnehin kein Ende finden würde und ihn solange mit Vorwürfen bombardieren würde, bis er sich letztendlich geschlagen gab.
Neben Marias schlechter Laune machte ihm das schwüle Wetter auch noch zusätzlich zu schaffen und er spürte bereits, wie seine schweißnasse Kleidung an seiner Haut klebte. Er fühlte sich unwohl und sehnte sich nach einer kalten Dusche, um den unangenehmen Geruch von seiner Haut zu waschen, der ihm immer wieder in die Nase stieg. Aber bis er die Möglichkeit dazu hatte, würde es sicher noch eine ganze Weile dauern. In den schmalen Fluss zu seiner rechten würde er auch nicht steigen, selbst einige Meter von dem seichten Gewässer entfernt, konnte er die vielen Mückenschwärme sehen, die sich dort tummelten. Lieber würde er weiterhin stinken, als sich zerstechen zu lassen. Eine Schweißperle löste sich von seiner Stirn und tropfte ihm ins Auge, er wischte sie mit seinem Ärmel weg und quetschte sich zwischen zwei Bäume hindurch.
"Weißt du überhaupt in welche Richtung wir laufen müssen?", fragte Maria angriffslustig, als eine weitere Stunde verging. Sie beobachtete Henry dabei, wie er versuchte mithilfe einer Landkarte ihren Standort zu ermitteln. Der Fluss schien auf der Karte nicht eingezeichnet worden zu sein und so hatte Henry absolut keine Ahnung, wo sie sich gerade befanden. Das sollte wohl ein schlechter Scherz sein. Er hätte sich einfach nicht darauf verlassen sollen, dass Maria schon eine aktuelle Landkarte einpacken würde. Schließlich steckte er die unbrauchbare Karte zurück in den Rucksack.
"Natürlich weißt du es nicht, wäre ja auch zu schön gewesen, wenn du zur Abwechslung mal einen Plan gehabt hättest", sprach sie bissig weiter, als Henry nicht antwortete. Am liebsten hätte er ihr die Landkarte einfach selbst in die Hand gedrückt und sie vorgehen lassen, doch er wusste, dass das in einer Katastrophe geendet hätte. Maria hatte keinen sonderlich guten Orientierungssinn und würde den richtigen Weg erst recht nicht finden, aber ihre große Klappe ging ihm gehörig auf die Nerven.
Früher hatte er seine Frau wirklich geliebt, doch diese Zeiten waren längst vorbei. Das was sie nun führten, konnte man nicht mal mehr eine Beziehung nennen, geschweige denn eine glückliche Ehe.
Damals war alles anders gewesen, als sie noch frisch verliebt waren und liebevoll miteinander umgingen. Er hatte ständig Schmetterlinge im Bauch gehabt, wenn er nur an Maria dachte und Ihr Lächeln war das Schönste auf der ganzen Welt für ihn gewesen. Sie waren ein glückliches Paar gewesen und er hatte sich stets von ihr geschätzt und geliebt gefühlt. Das beruhte wohl auf Gegenseitigkeit, denn es hatte nicht lange gedauert, bis sie schließlich heirateten. Für beide stand schnell fest, dass sie den Rest ihres Lebens miteinander verbringen wollten. Als sie schließlich zusammen in eine große Wohnung zogen und ihre gemeinsame Tochter Nora zur Welt kam, schien das Glück perfekt zu sein, doch es hielt nicht sonderlich lange an.
An den genauen Zeitpunkt wo alles aus den Rudern lief und einen ganz anderen Weg einschlug, konnte er sich nicht mehr genau erinnern. Aber mehr und mehr hatten sie sich über die Jahre hinweg voneinander entfernt, bis ihre Liebe zueinander gänzlich erloschen war. Nun waren sie nur noch aus Gewohnheit zusammen und das wussten sie beide, auch wenn keiner von ihnen darüber sprach. Immer häufiger stritten sie miteinander und es kam auch nicht selten vor, dass hin und wieder mal ein Glas durch die Wohnung flog. Trotz all den Problemen die sie miteinander hatten, versuchten sie gute Eltern zu sein und sich vor Nora nichts anmerken zu lassen. Wenn ihre Tochter zuhause war, spielten sie die heile Familie, was manchmal schon ziemlich anstrengend sein konnte.
Mittlerweile war ihre Tochter elf Jahre alt und da sie mit ihren Freundinnen für ein paar Tage campen gehen wollte, hatten Maria und er die Chance genutzt, um ebenfalls eine Pause vom stressigen Alltag zu nehmen. Eigentlich hatten sie vorgehabt einen erholsamen Kurzurlaub miteinander zu verbringen und ihre eingestaubte Beziehung neu zu beleben, doch ihr kleiner Trip lief bisher wohl alles andere als geplant. Außerdem gab es da auch noch eine Sache, die ihn bereits seit Wochen beschäftigte, doch er hatte bisher nicht den richtigen Zeitpunkt gefunden, um mit ihr darüber zu reden.
Was für ein Schwachsinn! Wenn er ehrlich zu sich selbst war, gab es bereits mehrere passende Momente, aber er fürchtete sich zu sehr vor dem, was sie Antworten könnte. Vor wenigen Wochen hatte er Maria mit einem anderen Mann in der Stadt gesehen und sie wirkten überglücklich zusammen, sahen sogar verliebt aus. Der Kerl war ziemlich attraktiv gewesen und es hatte ihn sehr verletzt, die beiden zusammen zu sehen. Henry war sogar so eifersüchtig gewesen, dass er Maria am liebsten angeschrien hätte, als sie am Abend gemeinsam am Tisch saßen und zusammen mit Nora Karten spielten. Es hatte ihn wahnsinnig wütend gemacht, dass Maria so tat, als wäre absolut nichts gewesen. Und ihr Kuss auf seine Wange hatte sich angefühlt wie ein Messerstich in sein Herz. Trotz allem gelang es ihm, sich an diesem Abend zurückzuhalten und seine Wut zu verdrängen. Obwohl er in seinem Inneren unzufrieden war und merkte, dass sich seine Wut in ihm aufstaute, hatte er die Sache immer noch nicht angesprochen. Zu sehr fürchtete er die Konsequenzen des Gesprächs. Was wäre, wenn es tatsächlich zu einer Trennung kam? Wenn sie ihm sagte, dass sie einen neuen Mann gefunden hatte und nicht länger mit Henry zusammen wohnen wollte? Wo sollte er dann hin und wie würde Nora mit der Situation umgehen? Die Trennung ihrer Eltern würde ihr sicher das Herz brechen. Und auch auf der Arbeit könnte er sich nicht mehr blicken lassen, denn er arbeitete mit Maria zusammen im Büro. Sie würde ihm sicher jeden Tag die Hölle heiß machen, wenn sie im Streit auseinander gingen. Seinem ganzen Leben wäre mit einem mal die Grundlage entzogen und er würde ins eiskalte, unbekannte Wasser springen müssen. Er würde morgens schon mit Magenschmerzen aufstehen und auch Abends wieder mit ihnen einschlafen.
Nein, das musste er verhindern, solange es ihm möglich war. Lieber fühlte er sich schlecht und trug diese Last mit sich herum, als das Bekannte hinter sich zu lassen und in neue Gefilde vorzudringen. Er wusste nicht, was ihn dort erwarten würde, und das machte ihm Angst. Es fühlte sich an, als wäre sein Leben vorbei, wenn er diesen Schritt wagen würde.
Ihm war klar, dass er sich zu sehr an dem festklammerte, was er hatte, auch wenn er spürte, dass es ihm nicht gut tat. Eigentlich wusste er auch vor dem Kurzurlaub mit Maria bereits, dass der gemeinsame Trip mit ihr nichts an ihrer Beziehung zueinander ändern würde. Es war bereits zu spät, sie passten einfach nicht mehr zueinander. Sie liebten sich nicht. Er versuchte mit allen Mitteln etwas zu retten, was schon längst kaputt war. Und es kostete soviel Energie den instabilen Turm zusammenzuhalten, anstatt ihn einfach loszulassen, sodass er endlich in sich zusammenfallen konnte. Seine Ehe war für ihn zu einem Gefängnis geworden, das sich immer enger um ihn zusammen zog. Sein Herz schrie jeden Tag nach Hilfe und verriet ihm, dass er seine kostbare Lebenszeit verschwendete.
Aber ihm fehlte einfach der Mut dazu, einen Schlusstrich zu ziehen.
Eine nervige Fliege holte ihn aus seinen Gedanken und schwirrte immer wieder um ihn herum. Sie war hartnäckig und wollte ihn einfach nicht in Ruhe lassen. Die Landschaft wurde immer hügeliger und es verlangte ihm alles ab, sich die kleinen Berge hochzuschleppen. Auch Maria hatte sichtlich Mühe dabei und schnaufte wie ein Tier. Gleißendes Sonnenlicht drang durch die Baumkronen und die Sonnenstrahlen brannten wie Feuer auf Henrys Haut. Die Wärme war kaum zu ertragen und die Hitze schlug ihm aufs Gemüt. Nicht mal der Wind wehte und die Grashalme auf dem Waldboden bewegten sich keinen Zentimeter.
"Du hättest ja ruhig mal daran denken können, dein Handy mitzunehmen und es nicht im Hotelzimmer liegen zu lassen. Du weißt doch, dass meines in der Reparatur ist. Aber das wäre ja zu viel von dir verlangt gewesen, mal dein Gehirn zur Abwechslung einzusetzen", meckerte Maria weiter, als sie über einen Baumstamm kletterte. Konnte sie nicht einfach mal ruhig sein?
Die Fliege summte lauter als zuvor und Henry zog seine Schulter instinktiv zum Ohr, als er das Gefühl hatte, dass das Insekt in seinen Gehörgang krabbeln wollte.
"Jetzt warte doch mal, verdammt. Ich komme ja kaum noch hinterher. Ein anständiger Ehemann würde seiner Frau helfen und sie außerdem nicht soviel Gepäck schleppen lassen", rief Maria hinter ihm und er hörte, wie sie immer lauter keuchte. Henry verringerte sein Tempo jedoch nicht und ging einfach weiter. Sie sollte endlich still sein.
Immer wieder summte die Fliege um ihn herum und raubte ihm die letzten Nerven. Es machte fast den Eindruck, als hätte sie sich mit Maria verbündet, um ihn in den Wahnsinn zu treiben. Das Fass stand kurz davor überzulaufen, gleich würde er seiner Wut freien Lauf lassen. Mühsam kletterte er einen kleinen Abhang hinauf und blieb am oberen Ende stehen, um sich kurz zu erholen. Die Fliege setzte sich schließlich auf seine Wange und Henry spürte, wie sich die kleinen Beinchen des Insektes auf seiner Haut bewegten. Rasch schlug er nach dem Tier und ein triumphierendes Lächeln legte sich auf seine Lippen, als er spürte, dass er die Fliege erwischt hatte. Er drückte seine Hand stärker gegen seine Wange, um das Insekt zu zerquetschen. Es knackte laut und ein angenehmer Schauer lief ihm über den Rücken, als er die Einzelteile der Fliege auf seiner Wange verteilte.
Ein plötzlicher Schrei ließ ihn zusammenzucken und er bemerkte, dass Maria kurz davor stand, den Abhang hinunterzustürzen. Rasch Griff er nach ihrer Hand und verhinderte so, dass sie fiel. Henry hielt sie fest und sah ihr in die Augen, doch er zögerte, ob er sie wirklich hochzuziehen sollte. Kurz war er in Versuchung einfach loszulassen und dabei zuzusehen, wie sie hilflos in die Tiefe stürzte. Seine Mundwinkel zuckten amüsiert bei der Vorstellung und als Bilder vor seinem Inneren Auge aufblitzten, die Maria zusammen mit dem unbekannten Mann zeigten, den sie vor einiger Zeit getroffen hatte, stand er kurz davor, sie wirklich loszulassen.
"Jetzt mach schon, zieh mich hoch verdammt. Worauf wartest du?", fauchte Maria ihn an und er kam wieder zu sich. Rasch zog er sie hoch und nahm anschließend einen Schluck Wasser aus seiner Flasche.
"Ich möchte auch was trinken", sagte Maria vollkommen erschöpft und strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Henry überreichte ihr den letzten Schluck seines kostbaren Wassers und sah dabei zu, wie sie gierig trank. Maria hatte ihr eigenes Wasser schon längst ausgetrunken, sie hatte Probleme damit gehabt, es sich einzuteilen. Schließlich reichte sie Henry die leere Flasche und atmete tief durch.
"Wie wäre es mit einem Danke?", fragte Henry, als er die Wasserflasche wieder in seinem Rucksack verstaute. Maria lachte nur und warf ihm einen geringschätzigen Blick zu. "Das ist jawohl selbstverständlich, dass du mir etwas abgibst. Schließlich ist es deine Schuld, dass wir hier seit Stunden im Nirgendwo umherirren", antwortete sie ihm und ließ ihren Rucksack auf den Boden fallen, ehe sie sich neben ihn setzte. Vielleicht hätte Henry sie wirklich loslassen sollen.
Nachdem sich die Beiden kurz ausgeruht hatten, ging es weiter. Henrys Magen knurrte ununterbrochen und da sie weder etwas zu Essen noch zu Trinken mehr dabei hatten, würden sie von nun an regelmäßig Pausen einlegen müssen, um neue Energie zu tanken. Schon bald wurde ihnen ihr Gepäck zu schwer und sie entschieden sich dazu, ihre Rucksäcke im Wald liegen zu lassen. Henry nahm nur noch das Nötigste mit und stopfte es in seine Hosentaschen. Zu den Sachen gehörte ein kleines Messer, mehrere Pflaster und ein paar Streichhölzer. Die scheinbar veraltete Landkarte nahm er ebenfalls mit, auch wenn er keine Ahnung hatte, ob sie ihnen überhaupt von Nutzem sein konnte. Trotzdem fühlte er sich sicherer mit ihr.
Als sie zu einer Stelle kamen, an der dutzende Wildbeeren wuchsen, hörte er Maria erleichtert seufzen. Rasch stürzte sie sich mit vor Gier funkelnden Augen auf die Sträucher und gerade als sie sich eine ganze Hand von den dunklen Früchten in den Mund schieben wollte, riet ihr Henry davon ab.
"Die sind giftig, ich würde die Finger von den Beeren lassen", sagte er, ohne dass es ihm besonders wichtig erschien, ob sie auf ihn hörte oder nicht. Er ging weiter und Maria ließ die Beeren rasch zu Boden fallen, ehe sie ihm folgte.
"Bald fange ich an Gras zu essen. Wie konnte ich auch nur so dämlich sein, mich auf einen Wanderurlaub mit dir einzulassen. Es war doch schon von vornherein klar gewesen, dass das Ganze nichts werden kann", grummelte Maria gereizt, aber glücklicherweise wurden Henry weitere Sätze von ihr erspart. Sie erreichten eine kleinen Quelle, von der sie bedenkenlos trinken konnten. Marias schlechte Laune schien für einen Moment lang verflogen zu sein und nachdem die Beiden soviel Wasser zu sich genommen hatten, wie sie nur konnten, fühlten sie sich schon viel besser. Gerade als Henry weitergehen wollte, nahm er einen stechenden Schmerz an seinem Arm wahr und zuckte zusammen.
"Was ist los?", fragte Maria, die wohl seine Reaktion mitbekommen hatte.
"Ich glaube mich hat etwas gestochen", antwortete Henry knapp und kratzte sich an der betroffenen Stelle, die bereits nach kürzester Zeit anschwoll.
"Ach stell dich nicht so an, möchtest du mal meine Füße sehen? Ich habe bereits unzählige Blasen vom laufen. Los wir müssen weiter", antwortete sie und Henry setzte seinen Weg fort. Ihm wurde mit der Zeit immer schummriger und die Umgebung begann sich leicht zu drehen. Ihm kam der Verdacht, dass der Stich mit dem Schwindelgefühl in Verbindung stand. Er hatte zwar schon öfters allergisch auf Insektenstiche reagiert, doch so stark waren die Reaktionen seines Körpers bisher noch nie gewesen. Sein Arm war mittlerweile dick angeschwollen und seine Haut rund um den Einstich hatte sich etwas dunkler gefärbt. Vorsichtig rieb er sich über die Schläfen und versuchte sich auf den Weg vor ihm zu konzentrieren, was ihm jedoch zunehmend schwerer fiel.
"Jetzt mach bloß nicht schlapp, ich habe keine Lust länger als nötig hier zu bleiben", gab Maria von sich und reizte ihn immer weiter, bis es ihm schließlich zu viel wurde. Henry blieb stehen und knirschte wütend mit den Zähnen.
"Hast du was mit den Ohren? Los weiter!", stachelte Maria ihn noch zusätzlich an. Er ballte die Hände zu Fäusten und seine Wut lief wie brennend heiße Lava durch seinen ganzen Körper. Er war es leid, dass sie ihn ständig herumschubste und wie Dreck behandelte. Er musste Grenzen setzen. Er musste ihr klar machen, dass er sich nicht alles gefallen ließ. Auch wenn er meist ein Feigling war und vieles über sich ergehen ließ, bis er schließlich handelte, reichte es ihm nun endgültig. Maria hatte das Fass zum überlaufen gebracht und gerade, als er ihr all die Dinge an den Kopf knallen wollte, die er ihr schon längst hätte sagen sollen, stieg ihm ein angenehmer Geruch in die Nase, der ihn ablenkte.
"Riechst du das auch?", fragte Henry verwundert und der himmlische Duft erinnerte ihn an frisches Gebäck. Während er tief einatmete nahm er den Geruch von frisch gebackenen Zimtschnecken wahr. Er dachte auch an köstlichen Schokoladenkuchen, an cremigen Käsekuchen mit Früchten und an gefüllte Marizpantörtchen. Sofort rumorte sein hungriger Magen lauter, als zuvor.
"Nein, was soll ich riechen?", antwortete Maria verwirrt, doch er sagte nichts weiter dazu. Henrys Beine trugen ihn wie von selbst über eine Lichtung und der Geruch wurde immer intensiver. Er konnte dem himmlischen Duft einfach nicht wiederstehen und folgte einem unsichtbaren Pfad entlang, den nur er selbst wahrnehmen konnte. Seine Haut kribbelte vor Aufregung und er hatte das Gefühl, als wurde ihm endlich eine Möglichkeit geboten, um aus diesem Elend auszubrechen. Als könnte er diesen schrecklichen Tag und alle anderen langweiligen davor, einfach vergessen und aufbrechen in ein neues Leben.
Die Aussichten auf völlige Freiheit, losgelöst von sämtlichen Verpflichtungen und all den Dingen, die ihn ständig einengten, ließ sein Herz vor Freude schneller schlagen. Er traute seinen Augen kaum, als sein Blick schließlich auf ein Holzschild fiel, das völlig fehl am Platz wirkte und am anderen Ende der Lichtung stand.
"Zum Knusperhäuschen", murmelte Henry die Worte, die mit rosafarbenem Zuckerguss auf den Holzpfeil geschrieben worden waren. Einige Bienen krabbelten auf der hölzernen Oberfläche herum, um von der süßen Masse zu kosten. Kurz glaubte er, dass ihm seine Sinne Streiche spielten und dass er anfing zu halluzinieren. Wer sollte auch schon freiwillig so tief in den Wäldern leben, völlig abgeschottet von jeglicher Zivilisation?
"Das gibts ja nicht", rief Maria verwundert, als sie ebenfalls auf das Schild aufmerksam wurde. Er bildete sich das, was er sah, also doch nicht ein, auch wenn es kaum zu glauben war. Der Holzpfeil zeigte direkt in den Wald und Henry zögerte keine Sekunde, dem unsichtbaren Pfad weiter zu folgen, der genau in dieselbe Richtung führte.
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