Annäherung

Langsam nahm ich die Treppenstufen nach unten und achtete darauf, so wenig Lärm wie nur möglich zu verursachen. Das Holz knirschte trotzdem verdächtig laut bei jedem meiner Schritte und mein Herz raste wie wild.

Vor etwas weniger als einer Stunde hatte ich einen anonymen Anruf erhalten und wurde gebeten hierher zu kommen, an diesen verlassenen Ort. Der Fremde hatte mich dazu aufgefordert das alte Gebäude zu betreten und in den Keller zu gehen. Der Kerl war gruselig gewesen, denn er schien so einiges über mich zu wissen. Private Dinge, die ich nie jemandem erzählt hatte und die tief aus meinem Inneren kamen. Dinge, die mir unangenehm waren und die ich am liebsten verdrängen und nicht akzeptieren wollte. Dinge, von denen ich jedoch wusste, dass sie stimmten.

Dass der Fremde soviel über mich wusste, hatte mir eine heiden Angst eingejagt und ein Teil von mir hatte mich dazu gedrängt, sofort aufzulegen, doch ich hatte es nicht getan. Aus irgendeinem Grund kam er mir trotz allem seltsam vertraut vor. Und das, obwohl ich seine Stimme noch nie zuvor gehört hatte. Normalerweise wäre ich auch niemals hierher gekommen, zumal die ganze Sache ziemlich gefährlich werden konnte. Er hatte mir auch keine meiner Fragen beantwortet und mir stattdessen mit jedem seiner Worte nur noch mehr Rätsel aufgegeben.

Obwohl mich die ganze Situation abschrecken und sämtliche Alarmglocken schrillen sollten, spürte ich, dass mir nichts geschehen würde, wenn ich seiner Aufforderung Folge leistete. Und ich vertraute meinem Bauchgefühl schon immer. Hinzu kam, dass ich ohnehin zu neugierig war, um das Telefonat einfach zu ignorieren.

Was für Beweggründe hatte er nur, mich hierher zu locken? Was wollte er von mir? Ich wollte es einfach wissen und so hatte ich meinen gesunden Menschenverstand ausgeschaltet und mich auf den Weg zu diesem Ort hier gemacht. Natürlich nicht, ohne zuvor meiner besten Freundin Bescheid zu geben. Sie war zwar nicht sonderlich begeistert von meinem Vorhaben gewesen, aber sie kannte mich. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte mich ohnehin niemand mehr davon abbringen. Ich hatte ihr die Adresse der alten Villa gegeben und das gab mir irgendwie eine Illusion von Sicherheit.

Je näher ich dem Keller kam, desto unwohler wurde mir. Es war schon ziemlich naiv, einfach hierher zu kommen und zu tun, um was mich ein Wildfremder gebeten hatte. Sicher würde ich das Ganze noch bereuen. Und trotzdem, irgendetwas hatte mich hierher gezogen. Ich versuchte mich abzulenken und den Geruch von Staub und alten Büchern auszublenden, der in der Luft lag. Wie lange die alte Villa hier wohl schon leer stand?

Gänsehaut breitete sich auf meinem ganzen Körper aus, als ich schließlich den Keller betrat. Der Raum war vollkommen leer, mal abgesehen von zwei Kerzenständern die links und rechts neben einem riesigen Wandspiegel standen und nur ein wenig Licht in der Dunkelheit spendeten. Der Spiegel schien uralt zu sein, hatte etwas magisches an sich. Der goldene Rahmen zeigte unzählige menschliche Gesichter, die keinerlei Ähnlichkeit miteinander hatten. Die Oberfläche des Spiegels schimmerte lila und dunkle Schatten tanzten auf dem Glas. Was zum Teufel war das nur für ein Zauber? Ich konnte meinen Blick nicht von dem Spiegel abwenden, blieb wie erstarrt stehen. Hinter mir nahm ich Schritte wahr, jemand kam ebenfalls die Treppe nach unten, näherte sich mir. Ich wagte es nicht, mich umzudrehen. Das Blut rauschte durch meine Adern. Ich rechnete jeden Moment damit, eine Klinge in meinem Rücken zu spüren.

"Nur wenige Menschen wissen, welch tiefer und gefährlicher Zauber Spiegeln innewohnt. Spiegel laden zum träumen ein, doch sie zeigen dir immer auch die nackte Wahrheit. Da gibt es nichts, dass du vor ihnen verstecken kannst", nahm ich eine mir vollkommen fremde Stimme wahr. Sie gehörte nicht dem unheimlichen Mann, der mich vorhin angerufen hatte. Dieser hier klang gar nicht wirklich männlich. War er überhaupt ein Mann, oder doch eher eine Frau? Ich konnte es nicht genau sagen. Spielte das denn eine Rolle? Ich wusste, wenn ich mich umdrehen würde, würde dort niemand stehen.

"Was siehst du, wenn du einen Blick in den Spiegel wirfst?", fragte mich die unbekannte Stimme und eine Fliege landete auf dem Spiegel. Sie krabbelte von oben nach unten, von unten nach oben. Ich nahm die Geräusche, die sie dabei machte ganz deutlich wahr. Jedes ihrer kleinen Beinchen klopfte wie mein Herzschlag gegen das eiskalte Glas. Ich trat näher an den Spiegel heran und die Fliege flog summend davon. Mir war heiß und doch lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Als ich eine Hand auf die lilafarbene Oberfläche legte und versuchte, etwas auf der anderen Seite des Spiegels zu erkennen, sah ich erstmal nichts. Erst als ich genauer hinblickte, konnte ich mehr sehen.

Die Manege war von einem schweren, undurchlässigen Vorhang verdeckt und ich streifte wie eine ausgehungerte Hyäne durch die Zuschauerreihen, nahe der Manege. Ich befand mich in einem riesigen Zirkuszelt und lief rastlos zwischen den dunkelsten Plätzen umher. Immer auf der Suche nach Nahrung, die mich nur vorübergehend satt machen würde. Ich suhlte mich im Matsch, fand Gefallen an dem schlammigen Dreck, der den gesamten Boden bedeckte. Ich fühlte mich wohl, wenn mein Fell schwarz und schmierig war, ganz verklebt von der widerlichen Grütze. Wenn die ölige Farbe an mir haftete und durch meine Haut, bis ganz tief hinein drang und mein Herz höher schlagen ließ. Als mein Blick auf einen fauligen Apfel fiel, der zur Hälfte im Schlamm steckte, leckte ich gierig über seine Oberfläche, um von ihm zu kosten. Gänsehaut bildete sich auf meiner Haut und drang durch die Wurzeln in mich ein, floss wie ein elektrischer Strom durch meinen ganzen Körper.

Als ich plötzlich bemerkte, dass der Fremde direkt hinter mir stand, wandte ich meinen Blick von dem Spiegel ab. Und doch hatte er mich mit seinem Zauber gefangen, ich konnte mich nicht wirklich von ihm abwenden. Die gesamte Umgebung hatte einen lilanen Farbton angenommen. Ganz gleich wo ich auch hinblickte, alles war lila. 

Schließlich drehte ich mich zu dem Fremden um und er reichte mir seine Hand. Zögernd ergriff ich sie und er zog mich näher an sich. Sein Körper war in einen mottenzerfressenen Mantel gehüllt, der ihm kaum mehr passte. Ich grub meine Finger in seine grauen, fettigen Haare und streichelte mit der anderen Hand sanft über seine Wange. Seine Haut war ganz trocken, an einigen Stellen hatte er Hautunreinheiten. Unsere Blicke trafen sich und er sah mir tief in die Augen. Er nahm mich ganz bewusst wahr und doch sah er mich auf eine ganz andere Weise, als mich Menschen sonst wahrnahmen.

Als ich mit meiner Zunge über seine spröden Lippen leckte, legte er eine Hand auf meinen Hinterkopf und drückte mich noch näher an sich, dann öffnete er seine Lippen für mich.

Das zarte Fleisch der Maden, die sich durch den Apfel bohrten, schmeckte nussig und gemeinsam mit dem fauligen Fruchtfleisch löste der herrliche Geschmack ein Feuerwerk der Empfindungen in meinem Mund aus. Ich genoß den himmlischen Geschmack, nahm ihn ganz intensiv wahr. Der Apfel schmeckte nach frischer Erde, nach weitläufigen Wiesen und nach wunderschönen bunten Blumen, die in sekundenschnelle wuchsen und zu blühen begannen. Ich schmeckte die verdunkelte Sonne, ließ mich von ihren dunklen Strahlen von innen heraus wärmen.

Die Maden erwachten in meinem Bauch wieder zum Leben und ich spürte, wie sie durch meine Eingeweide krochen. Es kribbelte überall unter meiner Haut, doch das Gefühl war alles andere als unangenehm. Ich ließ es einfach geschehen, gab mich hin, fühlte mich in die Bewegungen der Maden hinein. Ich verlor mich in ihren Windungen, fühlte jede einzelne von ihnen.

Zärtlich streichelte der Fremde mit seiner Zunge über meine und saugte gierig an meiner Zungenspitze. Ich wollte ihn so sehr und doch wollte ich ihn zeitgleich von mir stoßen. Er war wie eine Droge für mich, ich konnte einfach nicht aufhören ihn zu küssen. Unsere Zungen spielten miteinander wie glitschige Schlangen, die einfach nicht genug voneinander bekommen konnten. Er stöhnte leise in meinen Mund und unser Kuss zog mich immer weiter hinab in die Tiefe. Sein Geschmack machte mich verrückt, raubte mir den Verstand. Er drückte mich noch näher an sich, kam mir näher und näher.

Und ich badete in einem Meer aus halbtoten Fischen. Ihre Schuppen waren glitschig und ich rutschte in den Fischberg hinein. Die Fische berührten meine nackte Haut, streiften mich und ich bohrte meine Finger in ihre warmen noch zappelnden Körper, während ich immer tiefer sank. Die Zeit atmete hier langsamer, als hätte sie plötzlich genug von dem hektischen hin und her. Endlich konnte ich wieder Luft holen, ohne langsam zu ersticken.

Ich riss einen der Fische von oben nach unten auf und innerhalb eines Herzschlags schrumpfte ich so weit, dass der Fisch größer war als ich, viel größer. Ich hielt mich an seiner Schwanzflosse fest, bevor ich noch tiefer in den Fischberg hineinrutschen konnte. Mühsam hangelte ich mich an seinen Gräten entlang nach oben, nahm die Treppenstufen, die mich hoch führten, dorthin, wo ich herkam und nicht zurück wollte. Und trotzdem klammerte ich mich mit all meiner Kraft an den Gräten fest, irgendetwas drängte mich dazu, nach oben zu klettern.

Und als ich diesmal die Augen öffnete und in den Spiegel blickte, sah ich die Hyäne noch viel deutlicher vor mir. Ihre Augen glänzten dunkel, fast schwarz und Teer tropfte aus ihrem widerlichen, stinkendem Maul.

Ich beuge mich zu ihr und lecke mit meiner Zungenspitze über die Oberfläche des Spiegels. Ich presse mich eng an die glatte Glasoberfläche, drücke meinen Körper so nahe an sie, wie ich nur kann. Ich berühre die Hyäne auf der anderen Seite und spüre ihr Fell zwischen meinen Fingern, ohne sie wirklich zu berühren. Ihr Körper ist ganz warm und es fühlt sich gut an, wenn ich mich so eng an sie schmiege. Und als wir gemeinsam zu atmen beginnen, nehme ich ihr Fell an.

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