Kapitel 35 - Das Wunder in jedem Tag

Magnus wusste weder, wo er war noch wie viel Zeit seid seiner Rettung vergangen war. Das machte ihm Angst, aber um diese wirklich empfinden zu können, war er schlichtweg zu selten bei Bewusstsein.

Er wusste, dass es ihm nicht gut ging und sein Körper versuchte, das auszugleichen, aber die kurzen Wachzeiten und die viel längeren Schlafzeiten begannen an seinen Nerven zu zerren. Viel zu gerne wäre er länger als ein paar Minuten bei Bewusstsein, um alles um sich herum besser wahrnehmen und einschätzen zu können.

Neue Umgebungen bereiteten ihm Unbehagen, aber vor allem die Tatsache wie wehrlos er war, störte ihn und versetzte ihn zusätzlich in Panik. Das hatte großen Einfluss auf seine Schlafphasen, in denen er die die seltsamsten Träume durchlebte. Von seiner Vergangenheit bis Was-wäre-wenn-Szenarien war alles dabei.

Magnus fühlte sich einfach furchtbar allein und etwas ausgesetzt, das er nicht kannte.

Schon wieder spürte er den Sog, der sein Ich zu erfassen und in den nächsten Traum zu ziehen schien, ob er wollte oder nicht.

Rückblende

Magnus fand sich auf einem Stuhl sitzend wieder. Dieses Mal war es wohl eine Erinnerung, denn seine Arme waren viel kürzer und dünner. Auch sein Körper war um ein Vielfaches kleiner, aber den endgültigen Beweis lieferten seine kleinen, unschuldigen Kinderhände.

Sie waren absolut unversehrt und weich, auch wenn sie das, in braunes Leder gewickelte, Buch fest umklammerten. Er hätte beinahe vergessen wie es war, komplett reine Hände zu haben.

Plötzliche Stimmen rissen ihn aus seiner staunenden Beobachtung und im nächsten Moment traten zwei Männer aus dem Zimmer hinter ihm.

Der eine trug einen weißen Kittel und hatte einen grauen Rauschebart, der ihn an Stahlwolle erinnerte, die seine Mutter manchmal in der Küche benutzt hatte. Magnus fragte sich, ob in diesem Bart genauso viele Krümel und Häufchen steckten, wie in dieser Wolle. Er kannte ihn nicht.

Beim zweiten Mann jedoch wusste er sofort, wer es war. Die etwas längeren schwarzen Haare, die helle Haut und die dunklen Augen, die auf Magnus immer beruhigend wirkten, als ob sie alle Sorgen einfach verschluckten.
Sein Vater.

Er diskutierte lautstark mit dem Arzt, aber ihre Worte drangen zu Magnus durch wie durch Watte. Er hörte ihnen gar nicht zu, sondern nutzte den Moment, in dem ihn niemand beachtete und schlich sich in den Raum, das Buch fest an seine kleine Brust gedrückt.

Er wusste, dass seine Mutter krank geworden war, obwohl man ihm das nie direkt gesagt hatte. Aber anscheinend musste es etwas Ernstes sein, denn er hatte seinen Vater noch nie so besorgt gesehen.

Weil er einmal Durst gehabt hatte, war er auf seinen kleinen Kinderfüßen in die Küche getapst und hatte seinen Vater dort gesehen, den Kof in die Hände gestützt. Sein Körper hatte gebebt, aber Magnus wusste, dass er gerade nicht lachte. Er hatte sich nicht getraut, zu ihm zu gehen und zu fragen, was los war, weshalb er leise den Rückzug angetreten hatte.

Jetzt wollte er sich selbst ein Bild von der Lage machen, denn auch er war etwas besorgt um seine Mom. Allerdings glaubte er auch, dass es ihr bald wieder besser gehen würde.

Wenn er krank wurde, hatte sie ihm immer Geschichten aus dem Märchenbuch vorgelesen. Das und eine Umarmung hatten ihm immer geholfen, also würde es bestimmt auch seiner Mutter helfen.

Sie lag auf dem Sofa unter einer Decke und sah nicht gut aus. Ihr schwarzes Haar lag unordentlich um ihre Schultern auf dem Kopfkissen und sie war unnatürlich blass. Unter der dicken Decke wirkte seine Mutter so zierlich und schwach, aber dennoch lächelte sie ihn an, als sie ihn bemerkte.

Hastig rückte sie etwas zur Seite, sodass ihr Sohn über sie drüberklettern und sich zwischen sie und die Sofalehne quetschen konnte.
~Hey, mein Schatz, was machst du hier? Ich glaube nicht, dass dein Vater will, dass du hier bist.~, sagte sie lächelnd, während sie ihm durch die Haare strich.

Eigentlich mochte er das nicht, aber er ließ seine Mutter trotzdem gewähren, war es doch eine liebevolle Geste.

Er zuckte die Schultern und grinste sie an.
~Hab mich vorbeigeschlichen, als er nicht hingeguckt hat. Papa maht sich Sorgen, aber ich weiß, dass es dir bald wieder besser gehen wird.~

Sie seufzte.
~Nein, mein Schatz, Mama wird es nicht wieder gut gehen.~
~Warum?~
~Manchmal gibt es Dinge, die wir nicht beeinflussen können und dann ist es immer besser, diese Dinge zu akzeptieren, statt sich dagegen zu wehren. Manchmal geschieht es, dass das Schicksal meint, man lange genug an einem Ort war und dass es dann Zeit wird, an einen anderen Ort zu gehen, der so viel Neues bereithält, aber an dem man einem nur schwer folgen kann. Und für mich ist diese Zeit bald gekommen.~

Magnus nickte als sei es einfach eine weitere Lektion, die ihn seine Mutter lehrte.

Er ahnte, was sie mit dem An-einen-anderen-Ort-Gehen meinte, aber er ließ sich davon nicht beirren. Er vertraute seiner Mama und wusste, dass es ihr gut gehen würde, egal wo sie sein würde.

~Das ist blöd. Was machen Papa und ich denn ohne dich?~
~Das Leben ist manchmal blöd, aber das macht es doch so lebenswert, mein Schatz. Ich bin sicher, dass ihr klarkommen werdet, auch ohne mich. Dein Vater lernt bestimmt auch irgendwann, diesen Kuchen zu machen, den du so magst ... Obwohl ... Ich bezweifle, dass er überhaupt so weit kommt, wenn unser kleiner Pirat hier den ganzen, unfertigen Teig klaut, um ihn allein zu verputzen.~, sagte sie und kniff sanft in seinen Bauch.

Magnus kicherte und wand sich unter der kleinen Kitzelattacke seiner Mutter.
~Lass das! Bitte!~, flehte er kichernd, als er merkte, dass Flucht zwecklos war.

~Aber nur, weil du so lieb fragst.~
~Und was soll ich machen, wenn du nicht mehr da bist? Wer bringt mir
bei, Blumenkränze zu machen, dem Wind bei seinen Geschichten zu lauschen oder durch Blätterhaufen zu springen, ohne dass Jocelyn etwas merkt und mich ausschimpft? Wer liest mir Geschichten vor, erzählt mir von Feen und Elfen und ist mein Alibi, wenn Gretel nach den Plätzchen sucht? Wer macht das alles?~

Kurz huschte ein trauriger Ausdruck über das Gesicht seiner Mutter, aber schon bald lächelte sie ihn wieder so warm an wie immer.

~Du bist stark, klug und witzig, du wirst dir schon etwas einfallen lassen~, antwortete sie nun, bevor sie fragte~Kannst du mir etwas versprechen?~

Der Elfjährige nickte und versuchte dabei ein ernstes Gesicht zu machen. Er spürte, dass das Anliegen seiner Mutter wichtig war und er ihr lieber gut zuhören sollte.

~Egal, was in der Zukunft passieren wird. Egal wie blöd das Leben einmal sein kann, verlier nie die Hoffnung und den Glauben an das Gute in jedem Menschen. Bleib positiv, denn es bringt nichts, sich mit bösen Gedanken aufzuhalten. Wenn man das tut, wird alles plötzlich dunkel und man verschwendet nur seine Zeit, die man genauso gut dazu nutzen könnte, glücklich zu sein. Erinnere dich immer an das, was ich dir beigebracht habe. Finde in jedem Tag das Schöne, das Wunder, denn jeder Tag, sei er auch noch so düster, hat einen Funken Licht in sich. Einen Funken Freude. Verlier nie die Hoffnung nach diesem Funken zu suchen, denn er wird immer da sein, auch wenn du ihn nicht gleich siehst. Es gibt viel mehr da draußen als du denkst. Versprichst du mir das, mein Schatz?~
Magnus nickte, ohne nachzudenken.

Seine Mutter atmete erleichtert auf, bevor der liebevolle Ausdruck den ernsten verdrängte. Lächelnd tippte sie auf das Buch.
~Möchtest du mir jetzt zeigen, wie gut du schon lesen kannst?~

Auch Magnus grinste wieder, sodass man all seine kleinen Zähne sah. Naja, bis auf den, der noch fehlte.
Eifrig nickte er, bevor er das Märchenbuch auf der Seite aufschlug, bei der sie beim letzten Mal stehen geblieben waren, bevor er den Finger auf die oberste Zeile legte und begann, langsam zu lesen, was dort stand.

Obwohl Magnus nur elf Jahre war, nahm er die Worte seiner Mutter sehr ernst. Er sah sie als seine Mission an: Positiv bleiben, Hoffnung bewahren und das Wunder in jedem Tag finden. Das würde er tun und damit würde er seine Mom stolz machen.

Später sollte sich herausstellen, dass das das letzte lange Gespräch der beiden war, denn Magnus' Mutter verstarb ein paar Tage später an der Krankheit. Magnus war darüber unglaublich traurig, aber er behielt ihre Worte im Herzen.
Er wurde sie erfüllen, für das schönste, das ein Kind nur haben konnte: Eine liebende Mutter

Rückblick-Ende

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