Sarina rockt das Weihnachtsspiel
Am Tag des Vorsprechens für das Weihnachtsspiel bringe ich keinen Bissen herunter und ein Knoten bildet sich in meinem Hals. Das Weihnachtsspiel an der Schule ist sehr beliebt und die coolen Mädchen unserer Jahrgangsstufe prügeln sich darum, die Hauptrolle spielen zu dürfen. Allerdings gehöre ich mit meinem Rollkragenpullover und den klobigen Winterstiefeln nicht zu den coolen Mädchen, eher zu den unscheinbaren, weshalb meine Chancen nicht allzu hoch sind.
Jessie, die Favoritin für die Hauptrolle, wärmt bereits mit lautem "Brr" und "Pff" ihre Stimme auf, bevor wir eine nach der anderen in den Probenraum gebeten werden. Ich schließe die Augen und murmle den Text vor mich hin, den ich die letzten Tage über auswendig gelernt habe. Kaum zu glauben, dass ich wirklich für die Hauptrolle der Polarforscherin vorspreche und nicht für eins der Rentiere oder einen der Wichtel im Wunderwald.
"Würdest du das lassen? Du störst mich in meiner Konzentration!", zischt es plötzlich neben mir und Jessie funkelt mich böse an. "Warum sprichst du überhaupt für die Hauptrolle vor? Wir alle wissen, dass sie mir gehört. Du hast keine Ausstrahlung und machst vor Publikum bestimmt eine schreckliche Figur. Wetten, du würdest am Tag der Aufführung kein Wort herausbringen?"
Ich schlucke. Jessie hat gerade meine größte Angst angesprochen. So sehr wie ich das Theaterspielen liebe, so aufgeregt bin ich jedes Mal vor einer Aufführung. Deswegen habe ich bisher nur kleinere Nebenrollen bekommen, bei denen es nicht schlimm war, wenn ich den Text vergessen habe. Möchte der anonyme Briefeschreiber, dass ich mich blamiere? Dann hat er Pech gehabt, denn ich werde die Rolle nicht ergattern, wenn Jessie vorspricht. Sie hat sich bisher alle Hauptrollen gekrallt und obwohl ich sie nicht mag, muss ich zugeben, dass sie auf der Bühne eine gute Figur abgibt.
"Jessie, du darfst jetzt reinkommen!", reißt mich die Stimme der Theaterlehrerin aus meinen Gedanken und Jessie grinst mir überlegen zu, bevor sie im Probenraum verschwindet. So eine blöde Kuh!
Während ich warte, kaue ich an den Fingernägeln, alte Angewohnheit. Als Jessie den Probenraum verlässt, lächelt sie triumphierend und öffnet schon den Mund, um mir eine Gemeinheit an den Kopf zu werfen, doch: "Sarina, du bist die Nächste!"
Erleichtert, dass Jessie mich vor dem Vorsprechen nicht mehr heruntermachen kann, rette ich mich in den Probenraum und schließe die Tür fest hinter mir. Frau Nelke, die Theaterlehrerin, nickt mir freundlich zu. "So Sarina, dann erzähl mir mal, weshalb du gern die Polarforscherin spielen würdest!"
Ich atme tief durch. "Ich würde sie gerne spielen, weil sie den Weihnachtsmann am Nordpol suchen möchte, obwohl sie im Jahr davor in einen Schneesturm geraten ist und die Suche abbrechen musste. Sie weiß, dass die Reise nicht einfach wird und hat auch ein wenig Angst davor, aber sie lässt sich davon nicht aufhalten."
Frau Nelke macht einige Notizen auf ihrem Klemmbrett, hat aber ihr Pokerface aufgesetzt, sodass ich mir nicht sicher bin, ob ihr meine Antwort gefällt. "Gut. Also denkst du, dass sie nicht die stets taffe Frau ist, für die alle sie halten, sondern dass sie manchmal an sich zweifelt und die Reise für sie eine Überwindung darstellt?"
"Ja, klar. Jeder zweifelt von Zeit zu Zeit an sich, das ist doch völlig normal. Das ist nicht schlimm, denn sie nimmt ihre Freunde, den Eisbär und den Schneemann mit. Es ist doch völliger Quatsch, dass eine Person immer stark sein soll. Wahre Freunde stützen diese Person in ihren schwachen Momenten. Das nennt man Teamarbeit."
"Interessanter Ansatz", murmelt Frau Nelke und zwinkert mir zu. "Okay, dann sehen wir mal, wie gut du den Text der Eingangsszene drauf hast. Ich spreche den Eisbär und du die Polarforscherin, okay? Dann mal los."
*
"Das werde ich dir nie verzeihen! Was hast du bloß beim Vorsprechen gemacht?", knurrt Jessie und stapft mit in die Hüfte gestemmten Fäusten auf mich zu, als wir uns für die erste Probe auf der Bühne in der Schulturnhalle versammeln. "Ich hatte die Rolle in der Tasche! Wer ist denn so blöd, sie dir zu geben? Du wirst anfangen zu stottern, sobald du ins Publikum siehst!"
"Jessie, jetzt reicht es aber! Sarina hat die Hauptrolle bekommen, weil sie die Polarforscherin besser versteht als du! Und eigentlich wollte ich, dass du die Rolle auch als Understudy übst, falls Sarina ausfällt. Wenn du dich nicht sofort entschuldigst, werde ich dieses Angebot allerdings zurückziehen!"
"Na schön, tut mir leid!", erwidert Jessie zerknirscht, hat die Fäuste aber immer noch geballt. Hoffentlich versucht sie nicht, mich von der Bühne zu schubsen, um mir als Understudy die Rolle wegnehmen zu können.
Bald bin ich glücklicherweise so sehr damit beschäftigt, mich in meine Rolle hineinzuversetzen und mich mit dem Eisbär und dem Schneemann auf den Weg zum Nordpol zu machen, dass ich gar nicht mehr an Jessie denke. Text konnte ich mir schon immer gut merken und das schöne Bühnenbild mit der Winterlandschaft hilft auch, sich in der Geschichte zuhause zu fühlen. Alles klappt gut-wenn nur eine Sache nicht wäre.
"Bleibst du nach der Probe für ein paar Minuten da, Sarina?", bittet Frau Nelke und Jessie wäre nicht Jessie, wenn sie mich auf dem Weg nach draußen nicht anrempeln würde.
"Klar, was gibt's denn?" Ich befürchte, ich weiß genau, um was es geht. Vor dieser Diskussion kann ich mich nicht drücken, auch wenn sie unangenehm ist.
"Dein Lampenfieber!", trifft Frau Nelke den Nagel auf den Kopf. "Du bist eine phantastische Schauspielerin, das wissen wir alle. In der Hauptrolle darf man allerdings nicht plötzlich die Nerven verlieren, den kompletten Text vergessen und wie ein junges Reh mit weit aufgerissenen Augen ins Publikum starren. Wenn du die Rolle behalten möchtest, musst du daran arbeiten. Mach Yoga oder übe vor deinen Freunden. Überzeuge mich, dass ich dich guten Gewissens am Premierentag auf die Bühne lassen kann." Ich verspreche ihr, dass ich mir was einfallen lasse, habe aber keine Ahnung, was.
*
Am Abend der Premiere bin ich hibbelig, als ich mich in die dicken Winterklamotten quetsche, in denen ich als Polarforscherin zum Nordpol reise. Zwar glaube ich eine gute Methode gefunden zu haben, um meine Nervosität in den Griff zu bekommen, aber ob die auch im Ernstfall funktioniert, wird sich erst heute zeigen. Außerdem hilft es nicht gerade, dass Jessie in ihrem Wichtelkostüm in der Ecke lauert und mit ihren Freundinnen tuschelt. Einen Moment bevor ich für die erste Szene auf die Bühne muss, tätschelt sie mir die Schulter und flüstert mir "Na dann wollen wir mal sehen, ob unser scheues Reh die Nerven behält oder wie ein Eiszapfen auf der Bühne erstarrt." Energisch schüttle ich ihre Hand ab und strecke ihr die Zunge heraus, auch wenn das kleinkindhaft ist. Der Tussi werd ich es zeigen!
Nun erlischt das Licht und ich husche durch den Vorhang auf die Bühne, hinein in die Winterlandschaft, in der Schneemann und Eisbär schon auf mich warten. Dann geht das Licht an. "Freunde, gemeinsam mit euch an den Nordpol zu reisen ist das schönste Geschenk von allen!", rufe ich und umarme Schneemann und Eisbär. "Auch wenn wir letztes Jahr gescheitert sind, werden wir nicht aufgeben und es dieses Jahr bis zur Werkstatt des Weihnachtsmannes schaffen!"
"Da, wo es viele Schneefrauen gibt!", ruft der Schneemann und das Publikum lacht.
"Und gebratene Fische, soweit das Auge reicht!", ergänzt der Eisbär und schleckt sich ums Maul.
"Worauf warten wir dann noch?", fordere ich meine Freunde auf und pfeife, damit unser von Huskys gezogener Schlitten auftaucht. Ich wende mich dem Publikum zu und öffne den Mund. Mein Herz droht stillzustehen, als ich die vielen Menschen mit ihren erwartungsvollen Blicken dort sitzen sehe. Meine Hände werden schweißig, doch die altbekannte Leere in meinem Kopf setzt diesmal nicht ein. Für einen Sekundenbruchteil schließe ich die Augen und atme durch, dann sehe ich direkt in die verschwommene Menge vor mir und mache mit meinem Text weiter. "Manchmal im Leben muss man sich überwinden. Manchmal muss man sich in das Unbekannte stürzen, um ein Abenteuer zu erleben. Die Lichter, die Geräusche, die Gerüche des Nordpols. Auch wenn der Weg nicht leicht wird, auch wenn die Wichtel im Wunderland versuchen, uns in die Irre zu führen, ich glaube an uns. Die Schönheit des Nordpols wird uns für alle unsere Mühen entschädigen, also wagen wir es!"
Das Publikum applaudiert, als wären wir Superstars.
Eine gefährliche Reise durch Eis und Schnee sowie den Wunderwald, dessen Wichtel uns verzaubern wollten, später, kommen wir endlich am Nordpol an. Der Weihnachtsmann heißt uns willkommen und führt uns durch sein Reich und wie erhofft trifft Schneemann auf eine Schneefrau und für den Eisbären gibt es gebratene Fische. Dann werde ich nach meinem Weihnachtswunsch gefragt und ich strenge mich an, mir statt "einem Fernglas, um die fliegenden Rentiere am Himmel beobachten zu können" keine "Kontaktlinsen" zu wünschen. Denn genau das war der Trick wie ich Jessie nach der Vorstellung in der Umkleidekabine strahlend eröffne. Ohne Kontaktlinsen sehe ich zwar noch gut genug, um über keine Requisiten zu stolpern, aber nicht mehr so klar, um vor den erwartungsvollen Gesichtern im Publikum Angst zu haben.
Während Jessie mit offenem Mund zurückbleibt, gratuliert Frau Nelke mir überschwänglich und meint, ich bin eine wahre Polarforscherin, die ihre Ängste überwindet. Hoffentlich habe ich den Kindern im Publikum gezeigt, dass die Angst vor dem Scheitern sie nicht davon abhalten sollte, das zu tun, was sie lieben. Auch wenn andere darüber lachen, auch Mitschüler gemeine Dinge sagen. Was für ein schönes Weihnachtsgeschenk das wäre!
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top