Das Versprechen

»Ich werde da sein.« – Das waren seine Worte, sein Versprechen, das er ihr gegeben hatte.

Genau siebzig Jahre war es nun her, seitdem ihr Auserwählter jenen Satz in ihre weichen Locken geflüstert hatte. Seitdem sie ihn das letzte Mal Haut an Haut gespürt und seinen Duft in sich aufgenommen hatte.

Ein Zustand, der bislang nur ihnen vergönnt gewesen war. Denn der Gebirgszug trennte ihre beiden Länder und stellte Fluch und Segen zugleich dar. Ohne das schwer zu überwindende Hindernis würden die Bewohner ihrer Heimat sich gegenseitig zerfleischen und nichts als Tod und Zerstörung hinterlassen.

Einst sprach eine mächtige Hexe das Schicksal aus, welches die Menschen fortan in seinem eisernen Klammergriff hatte.

Getrieben von Rache und Wahnsinn verhängte sie in den letzten Momenten ihres irdischen Lebens ein Urteil über das Volk sowie die nachfolgenden Generationen, von dem sie schwer enttäuscht war. Die sie und ihre magischen Fähigkeiten zuerst freudig willkommen geheißen und anschließend mit Feuer und durch in flüssiges Silber getauchten Waffen zurück zum Teufel jagen wollten.

Ein Gerücht sprach sich wie ein Lauffeuer herum, demnach sollte die Fremde einen verheirateten Mann auf widernatürliche Weise verführt und sich dann an ihm vergangen haben. Anschuldigungen, die niemand bezeugen konnte, denen dennoch einstimmig Glauben geschenkt wurde, und die erhitzten Gemüter stürzten sich geradezu freudig auf dieses gefundene Fressen.

Die lodernden Flammen des Scheiterhaufens brachten das wirre Gekreische der magiebegabten Frau letztendlich zum Verstummen. Was sie nicht daran hinderte einen unheilverkündenden Bann auszusprechen, der das Land zweiteilte.

Egal wie ausweglos ein Fluch sein mochte, sämtliche Verwünschungen besaßen ein Schlupfloch, welches sich ein junges Paar in diesem Fall zunutze machte, um sich abgeschieden zu treffen. Verborgen vor den Augen der anderen, umgeben von nichts als Nebel in der Ferne und schroffem Stein auf dem Plateau.

Die steilen, kantigen Felsen ragten seit jeher zwischen den Ansiedlungen empor, die vor langer Zeit einmal zu einer Einheit verschmolzen waren. Nun warfen sie einen bedrohlichen Schatten auf die unfreiwillig verfeindeten Länder und dienten ihnen als Mahnmal, niemals einen Schritt in das jeweils andere Gebiet zu setzen.

Tag für Tag erklomm sie aufs Neue den höchsten Berg, in der Hoffnung der Mann, den sie über alles liebte, würde sie dort auf dem Gipfel offenen Armes empfangen. Sie an seine starke Brust drücken und sie durch seine bernsteinfarbigen Augen betrachten, als wäre sie das Einzige, das für ihn zählte.

Für sie und ihre Zukunft war er samt einer Mannschaft von Senshi losgezogen. Die tapferen Männer, die eine Ausbildung als Krieger genossen hatten, wollten das scheinbar Unmögliche vollbringen: ihre Heimat wieder vereinen und den Fluch aufheben, der ihrem gemeinsamen Leben im Weg stand.

Schritt für Schritt kämpfte sie sich nach oben, zog sich an den rauen, spitzen Erhebungen hoch. Bei Wind und Wetter. Öffnete eine tiefhängende Wolke ihre Schneisen, so konnte sich das Gestein innerhalb weniger Augenblicke in eine gefährliche Rutschpartie verwandeln.

Ein scharfer Luftzug zerrte an ihrer Kleidung und flüsterte ihr eine kaum hörbare Drohung zu: »Du und deinesgleichen werden alle sterben. Ich sorge dafür, dass ihr alle auf Ewig das Zeitliche segnet und in der Nachwelt die Qualen erleidet, die ihr mir angetan habt.«

Die Worte hallten allerdings laut und deutlich in ihren Gedanken nach. Sie kannte die Hexe nicht persönlich, ihr Name und ihre Taten waren ihr nur aus den alten Geschichten geläufig. Aber mit den Jahren war sie sich zunehmend sicher, dass es sich lediglich um den Geist der verbitterten Frau handeln konnte, der unermüdlich die Umgebung heimsuchte. Als Greisin versetzte dieser erbärmliche Versuch, sie aus der Fassung zu bringen sie schon lange nicht mehr derartig in Angst und Schrecken, wie bei ihren ersten Besteigungen.

Sie kannte das Gelände, wie Mütter ihre Kinder schon aus großer Entfernung spürten und sie mit präziser Genauigkeit ausmachen konnten. Sie wusste genau, welchen Weg sie einschlagen musste, welche Steine locker waren und welche ihr einen festen Tritt sicherten.

In den vergangenen siebzig Jahren sprossen aus dem Gestein, das von jedermann als totes Geröll bezeichnet worden war, zarte grüne Triebe, die sich an dem monotonen Grau entlang hangelten, zu starken Wurzeln heranwuchsen und sich weiter ausbreiteten. So spendete ihr das mittlerweile dichte Blätterwerk der Bäume in den heißen Sommern stets eine angenehme Abkühlung.

Die Natur holte sich alles zurück. Selbst Dinge, die mit Gewalt erschaffen wurden. Und nicht einmal die Hexe konnte etwas gegen den Lauf der Zeit unternehmen.

Fast hatte sie ihr Ziel erreicht. Eine sanfte Brise löste den kräftigen Strom ab und spielte mit dem langen grauen Haar der alten Frau. Es glitzerte im Morgenlicht silbern. Obwohl ihre Haut runzelig und transparent wie Papier geworden war, strahlte sie eine Schönheit aus, die noch in ihren hellen blauen Augen unverkennbar aufflackerte, als wäre sie seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr keinen Tag gealtert. Allein ihr Körper zeigte den unvermeidbaren Verfall an. Ihre Seele hingegen leuchtete klar und rein und voller Hoffnung.

Ein fideles Hecheln begleitete sie in diesem Jahr. Der große, weiße Hund tauchte eines Tages am See auf. Majestätisch hockte die stattliche Gestalt auf einem der Felsen, die das türkisfarbene Wasser einrahmten. Das seidige Fell wurde von der goldenen Abendsonne beschienen und ließ das Tier für sie wie einen Geist oder eine Gottheit erscheinen.

Es stellte sich jedoch heraus, dass das Wesen sehr lebendig war und sie mit den alten, verkrampften Fingern nicht nur auf Luft stieß, die ihr etwas vorgaukelte, sondern es über einen greifbaren warmen und weichen Körper verfügte, den sie streicheln konnte.

Durch ein herzzerreißendes Wimmern verlangte es nach mehr von ihren zarten Annäherungsversuchen.

Sie taufte den Hund auf den Namen »Yakusoku«, was in ihrer Sprache »Versprechen« bedeutete. Das Tier wich ihr von da an nicht mehr von der Seite. Es begleitete sie auf Schritt und Tritt, wie ihr eigener Schatten. Die Alte musste zugeben, dass sie Yakusokus Gesellschaft sehr genoss. Die Nähe des anderen Lebewesens erfüllte ihre Seele mit Zufriedenheit, und augenblicklich schloss sie es in ihr Herz.

Es bekam dort einen Platz gleich neben ihrem Auserwählten, dessen Rückkehr sie sich nach wie vor erhoffte, auch wenn eine Stimme in ihrem Inneren allmählich den Verdacht äußerte, dass er in diesem Leben nicht mehr leibhaftig vor ihr stehen würde.

Es war einfach so viel Zeit vergangen und grenzte an ein Wunder, wenn er jetzt noch leben und sein Versprechen einhalten könnte.

Der sonst so kahle Untergrund war an diesem Tag von unzähligen pastellrosa farbigen Blütenblättern bedeckt, die sachte um sie herum wirbelten und wie Schnee zu Boden rieselten.

Sie verströmten einen herrlichen Duft nach Frühling und ließen sie mit einem Gefühl von Geborgenheit aufseufzen. Ein Gefühl, das sie nur aus ihrer Erinnerung kannte und mit dem Menschen verband, für den sie tagtäglich das Plateau aufsuchte.

Ihr Herz begann zu hüpfen. War er endlich zurückgekehrt? Hatte er es geschafft, eine der sagenumwobenen Blüten zu finden, die man nur zu einer ganz bestimmen Zeit und an einem versteckten Ort auf einer der Inseln finden konnte, die in den Weiten des Ozeans verborgen waren? Blüten, die jeden Zauber neutralisieren und jede Krankheit heilen konnten. Blüten, die von den Menschen noch mehr verehrt wurden als ihre Götter.

Ihr Blick huschte suchend umher, erfasste den See, der friedlich dalag; die schimmernde Oberfläche glatt wie ein Spiegel, ebenso die Bäume und deren verzweigten Wurzeln, die sich an den Findlingen festklammerten und den sich schier endlos spannenden blauen Himmel über ihr.

Bis auf den Puls, der beständig in ihren Ohren rauschte und den Hund an ihrer Seite regte sich nichts. Yakusokus warmer Körper drängte sich erschaudernd an ihr Bein. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Das konnte sie spüren.

Sorge übermannte sie und versetzte ihrem Herzen einen Stich. Yakusoku durfte sie nicht schon nach so kurzer Zeit verlassen. Sie ertrug keinen weiteren Verlust. Mühsam ging sie in die Hocke und schloss zärtlich die Arme um den flauschigen Hals. »Was hast du denn?«, murmelte sie in die weiße Mähne.

Das Pochen in seiner Brust fühlte sich holprig unter ihren Fingerspitzen an. Ein leises Winseln antwortete ihr. Es klang traurig und erschöpft. Und darüber hinaus meinte die alte Frau herauszuhören, dass er wunschlos glücklich war. Sie runzelte die Stirn, denn für sie wollten diese Empfindungen nicht zusammenpassen.

Da hob der Hund den Kopf und sah sie aus treuherzigen, seltsam vertrauten Augen an. Ihrem schwachen Augenmerk war zuvor entgangen, dass Yakusokus golden glimmende Iriden den ihres Geliebten bis aufs Haar glichen.

Ein überraschtes Wiedererkennen zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. Sie stieß einen widersprüchlichen Laut der Freude und der Trauer aus.

Er hatte sein Versprechen eingehalten. Er war zu ihr zurückgekehrt. Nur nicht so, wie sie es erwartet hatte.

Nicht in seiner menschlichen Gestalt und nicht mit weit ausgebreiteten Armen, sondern als loyaler Begleiter, der konstant über sie wachte, seit er sie als seine neue Herrin auserkoren hatte.

»Du bist da. Du warst es die ganze Zeit über.« Sie schluchzte, und das Geräusch wurde vom Wind weggetragen, genauso wie die nun endlich wieder vereinten Seelen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top