Die Lücke in ihrem Leben
Mit dem gestohlenen Ordner unter ihrem Bett verbrachte Lucy die halbe Nacht damit, die Dokumente zu entziffern. Die Worte „Subjekt 37-B“, „Anpassung erfolgreich“ und „Ersetzt“ wiederholten sich immer wieder, begleitet von kryptischen Tabellen und medizinischen Berichten. Doch was sie am meisten verstörte, war eine Seite mit einem Diagramm: eine Art Lebenslauf. Es zeigte zwei Zeitlinien. Die erste begann mit ihrer Geburt – oder zumindest mit dem Datum, das Lucy für ihren Geburtstag gehalten hatte – und endete abrupt in ihrem sechsten Lebensjahr. Die zweite begann direkt danach, markiert mit dem Wort „Einführung“.
Ihr Magen zog sich zusammen. Es war, als würde jemand behaupten, dein Leben sei in zwei Hälften geteilt – und die Hälfte davor war ausgelöscht worden.
Doch eine Notiz am Rand des Dokuments erregte besonders ihre Aufmerksamkeit. In kleiner, kritzliger Handschrift stand:
„37-B zeigt keine Erinnerungslücken. Subjekt für Langzeitüberwachung geeignet. Empfohlen: Löschen zusätzlicher Beweise.“
Langzeitüberwachung. Löschen. Die Worte klangen bedrohlich, doch Lucy hatte keine Zeit, sie zu analysieren. Am nächsten Morgen würden ihre Eltern sicher merken, dass der Ordner fehlte. Sie brauchte Antworten – schnell.
Also entschied Lucy, Elias erneut einzuweihen. Er würde wissen, wie man an Informationen kam. Es war kurz vor Mitternacht, als sie ihn wieder anrief.
„Schon wieder du?“ murmelte er, diesmal nicht mehr verschlafen, sondern eher genervt. „Was hast du diesmal?“
„Ich hab einen Ordner gefunden. Voller Daten über … mich.“
Das ließ ihn aufhorchen. „Was für Daten?“
„Medizinische Berichte, Protokolle, irgendwas mit ‚Subjekt 37-B‘. Es klingt … als wäre ich Teil eines Experiments gewesen.“
Stille am anderen Ende der Leitung, dann: „Das ist krank. Und du sagst, das gehört deinen Eltern?“
„Es war in ihrem Arbeitszimmer.“
„Okay, hör zu“, sagte er, plötzlich ernst. „Ich kenne jemanden, der sich mit sowas auskennt. Datenschutz, Experimente, Behördenkram. Er kann uns helfen, das zu entschlüsseln. Aber … du musst vorsichtig sein. Wenn das wirklich stimmt, dann wirst du überwacht.“
Die Worte trafen Lucy wie ein Schlag. „Was soll ich tun?“
„Treff mich morgen. Aber nimm nichts Verdächtiges mit. Wenn sie merken, dass du Bescheid weißt, könnte das gefährlich werden.“
Gefährlich. Das Wort hallte in ihrem Kopf wider, als sie auflegte. Sie versteckte den Ordner sorgfältig, doch als sie ins Bett ging, konnte Lucy ein Gedanke nicht loslassen:
Was, wenn die Lücken in ihrem Leben nicht nur in den Berichten standen? Was, wenn sie selbst sie fühlen konnte – ohne es zu merken?
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