Wie alles begann
Ich war auf dem Weg zur Arbeit, schon spät dran. Da hörte ich ein leises Wimmern, konnte mir nicht erklären, wo es herkam, spitzte die Ohren. Da entdeckte ich ein kleines Bündel. Beim näheren Betrachten streckten sich mir zwei kleine Ärmchen entgegen. Es war liebevoll in rosa Kleidung gehüllt und es steckte ein Brief ganz unten. "Ich kann dich nicht beschützen. Trotzdem werde ich dich immer lieben. M.".
Da musste jemand sehr verzweifelt gewesen sein. Doch warum lag es genau in dem Haus, wo ich wohnte? War es Zufall oder göttliche Fügung? Ich glaubte an beides nicht wirklich. Was sollte ich jetzt tun? Der lange Amtsweg war mir ein Graus. Ich rief meine engste Freundin an und bat sie, sich um das kleine Würmchen zu kümmern bis ich von Arbeit kam.
Zuvor besorgte ich noch schnell das nötigste für sie. Ja, es war ein kleines Mädchen mit blauen Kulleraugen und einem süßen Lachen. Wenn man sie ansah war man sofort in ihren Bann gezogen. Kaum da, hatte sie schon mein ganzes Leben in Beschlag genommen. Aber wo kam sie so plötzlich her? Wer war so verzweifelt, dass man sie hier hingebracht hatte? "Man, was soll ich tun?", fragte ich mich.
Meine Freundin Caris hatte sich die letzten Stunden liebevoll um die Kleine gekümmert. Aber wie sollte es weitergehen? Ich, Anfang dreißig, gerade frisch getrennt, Beruf: Krankenschwester, musste ständig in Schichten arbeiten. Mein Name: Santina. Ja, nicht so bekannt. Konnte meine Eltern nie fragen, warum sie mich so genannt haben, sind ja vor zwei Jahren über den Haufen gefahren worden, Täter wurde nicht gefasst. Und nun sollte ich mich um dieses kleine Würmchen kümmern?
Da ich auf der Kinderstation arbeitete, konnte ich ganz zwanglos mit einem Kinderarzt sprechen, bat ihn, die Kleine zu untersuchen. Dr. Timothy Fraser, Mitte dreißig, gut aussehend, was er auch wusste, kam also mit zu mir nach der Arbeit. Er schaute die Kleine an, war sofort fasziniert von ihren Kulleraugen, die etwas magisches an sich hatten.
"Alles okay mit ihr. Wie heißt sie überhaupt? ", achselzuckend schaute ich ihn an. Jetzt erst entdeckte ich ein kleines Kettchen, was sie um den Hals trug. Daran befand sich ein Amulett mit einer Abbildung eines Elfenflügels und einem "A" eingraviert. Also "tauften" wir sie kurzerhand "Amelie".
"Was willst du jetzt tun?", fragte Timothy mich. Ich hatte keine Ahnung. Er bot mir an, mir zu helfen, wollte die Kleine als seine und meine Adoptivtochter ausgeben. Er hatte gute Kontakte, da er ja aus einem guten Hause abstammte. Und seine Eltern würden ihm schon nicht dazwischen funken, wenn sie Amelie erst mal zu Gesicht bekommen hätten. So der Plan, aber es musste auch alles ganz schnell gehen. Wir mussten uns beim Amt als Paar "outen", was wir eigentlich nicht waren. Und, was noch viel schlimmer war: Ich musste jetzt auch noch Hals über Kopf mit ihm zusammen ziehen, mit Dr. Timothy Fraser, dem stadtbekannten Frauenhelden.
Okay, er sah wirklich nicht schlecht aus, aber ich war nicht unbedingt jemand, die Hals über Kopf mit einem ihr fremden Mann zusammen ziehen wollte. Doch hier war jetzt wirklich Eile geboten. Meine beste Freundin Caris engagierten wir nun auch offiziell als Kindermädchen für Amelie, denn meine Arbeit aufgeben, das wollte ich auf keinen Fall. Niemals und unter keinen Umständen.
Ab sofort musste ich also Dr. Fraser schöne Augen machen, was mir anfangs recht schwerfiel, war ich doch eigentlich nicht so schnell für jemanden zu begeistern, erst recht nicht für einen stadtbekannten Frauenhelden. Und er, ja auch er musste sich jetzt komplett umstellen, wollten wir nicht als "Betrüger" geoutet werden.
Innerhalb von nicht mal einem Tag wurde mein Leben auf den Kopf gestellt, und zwar auf eine Weise, die ich mir hatte vorstellen können. Ich konnte nachdenken so viel ich nur wollte, wir mussten da jetzt durch. Also stand der liebe Herr Dr. Fraser jetzt mit seinen gesamten Sachen vor meiner Wohnung, und wir hatten nur eine Stunde Zeit, um sie in unser Heim verwandeln zu können. Bloß gut, dass wir Caris hatten, denn sie hatte da wirklich ein Händchen für und eh ich mich versah, hatte ich eine sogenanntes "schönes Heim" für "meine kleine Familie", die nun auch nach außen hin so erscheinen musste.
Timothy und ich, wir mussten uns nun auch außerhalb der Klinik zusammen zeigen, und dass bei jeder Gelegenheit. Er und seine Eltern erhielten ständig irgendwelche Einladungen für die verschiedensten Tanzveranstaltungen, Tanztees und so weiter. Seine Mutter war die Leiterin verschiedenster Commitees, arbeiten musste sie nicht. Sie war mit der Erziehung der drei Kinder völlig ausgelastet und in ihrem Stande war es unüblich, dass Frauen arbeiteten.
Doch ich wollte arbeiten, um die Betreuung von Amelie kümmerte sich ja nun unser Kindermädchen. Das Schlimmste stand unser aber noch bevor: ich musste die Bekanntschaft seiner Mutter machen und die war bekanntlich selbst sehr streng erzogen worden. Früher war dies eine Tugend, aber heute war das echt veraltet. Ich durfte ihr gegenüber nicht aufmüpfig erscheinen, eher voller Demut und Bewunderung, musste sie anhimmeln, was mir total zuwider war.
Doch für die kleine Amelie wollte ich auch das tun. Man hatte Timothys Mutter bereits mitgeteilt, dass sich im Leben ihres Sohnes etwas ereignet hat, was nicht standesüblich war, und so wurden wir dann auch für das kommende Wochenende eingeladen. Wenn wir diese Feuerprobe bestehen würden, was sollte, was konnte uns dann noch passieren?
Timothy war wie gesagt ein stadtbekannter Frauenheld, gut aussehend, aus reichem Haus, mit einem sogenannten Stammbaum. Er hatte blondes, gewelltes Haar und trug einen Schnauzbart. Seine Augen funkelten mich in einem glasklaren blau an. Sein Gesicht strahlte für mich auch etwas jungenhaftes verspieltes aus, was ich nicht erklären konnte. Und irgendwie war er das ja auch, er konnte gut mit den kleinen Patienten umgehen, und ich hoffte, dass wir uns hier nicht übernommen hatten.
Doch auch er war beim Anblick der kleinen Amelie sofort in ihren Bann gezogen worden. Diese Kulleraugen, dieser süße Mund...ihr ganzes Wesen strahlte Freude aus. Gut, Babies schreien nun auch mal, aber besser so als würde man von ihr nichts hören. Wir mussten uns von heut auf morgen irgendwie zusammenraufen, zusammenfinden...für die Leute, die mich eigentlich überhaupt nicht interessierten.
Aber damit die kleine Amelie ein Zuhause haben könnte, dafür mussten wir alles tun. Timothy hatte uns diese Suppe mit eingebrockt, nun mussten wir sie auch zusammen auslöffeln. Wenn meine Eltern noch leben würden, wäre meine Mutter die erste, die sie unter ihre Fittiche genommen hätte und ihr wäre eine liebevolle Erziehung angedeiht worden. Das wollte ich jetzt auch für die Kleine.
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