Kapitel 1
Parfüm, Schweiß, Alkohol und Chips bilden den Geruch, der sich in der Wohnung von James' Eltern ausgebreitet hat. Seine Eltern sind nämlich - wie beinahe immer - auf irgendeiner Geschäftsreise, was ihn dazu veranlasst hat, eine Houseparty zu schmeißen.
Raven fummelt an dem Haargummi herum, welches einer ihrer sorgfältig geflochtenen Zöpfe zusammenhält. Ihr hellbraunes Haar ist normalerweise als Pferdeschwanz an ihrem Kopf befestigt, doch für die Party hatte sie sich etwas außergewöhnliches gewagt. Die grossen silbernen Ohrringe und das schwarze enganliegende Kleid, welches nur mit zwei dünnen Spaghettiträgern an ihren Schultern hängt, sind genauso ungewohnt.
Zumindest ist es angeblich ein Geschäftlicher Grund, dass Mr. und Mrs. Walsh so gut wie nie da sind. Mittlerweile hinterfragt Raven nicht mehr, was für Geschäftsreisen das sein sollen. Sie sind oft für mehrere Wochen weg, bevor sie für vielleicht knapp zwei Wochen zurückkommen. Als sie das erste Mal bei James zu Besuch war, fand sie es irgendwie komisch zu wissen, dass seine Eltern keine Ahnung davon hatten, dass James seine neuen Freunde mal eben eingeladen hatte. Doch dieses Gefühl verging, als Raven einmal seine Eltern getroffen hat. Seitdem hat sie Mrs. Walsh noch ein- oder vielleicht zweimal gesehen, doch sonst hat sie höchstens von James etwas über seine Eltern gehört.
Dazu kommen die Partys, die er macht, wenn seine Eltern nicht da sind. Auch wenn Mr. und Mrs. Walsh vermutlich nichts davon wissen, hätten sie wohl sowieso nichts dagegen, solange James im Nachhinein aufräumt. Gestern hat er spontan beschlossen, eine dieser Partys zu veranstalten und allen möglichen Leuten aus ihrer Stufe Bescheid gegeben. Vermutlich sind die meisten tatsächlich gekommen, denn neben den Leuten aus ihrer Klasse sieht Raven auch Schüler, die sie vielleicht vom Sehen her- oder teils gar nicht kennt. Zugegeben meinte sie gestern noch, dass die kurzfristige Party vermutlich ziemlich armselig wird und dass kaum einer auftauchen wird, doch es ist beinahe genauso voll wie bei den anderen Festen. Raven und ihre anderen gemeinsamen Freunde helfen später oft beim Aufräumen. Sie verabreden sich oft am nächsten Tag und putzen gemeinsam das Haus, während sie laut Musik hören und sich ganz gerne davon ablenken lassen.
Jemand tippt Raven auf die Schulter. „Hey, wie geht's?", fragt eine vertraute Stimme.
Sie dreht sich um, wo Charles Mathewson, ihr bester Freund, vor ihr steht.
Über seinem schwarz-weiss gestreiftem T-Shirt trägt er einen dunkelblauen Zipper. Bisher hatte Raven ihn nicht in der Menge entdeckt, obwohl sie sich fast sicher war, dass er irgendwo hier sein musste. Charles kommt beinahe zu jeder von James' Partys, da James sein engster Freund war – neben Yves und ihr natürlich. Wenn er keine Zeit hat, schreibt er das aber meistens in den Gruppenchat ihrer gemeinsamen Freundesgruppe.
Es gibt bei den Feiern aber einen Unterschied zwischen James und Charles. Während der Veranstalter vermutlich bei bisher jeder seiner Housepartys Alkohol getrunken hat, lässt Charles das Trinken manchmal aus.
„Gut, und dir?", fragt Raven zurück und lächelt. Sie freut sich, dass Charles sie gefunden hat. Hier sind zwar Dutzende Leute und auch Mädchen aus Ravens Kursen, doch sie bevorzugt ihre engere Freundesgruppe natürlich. Selbst den betrunkenen James zieht sie den anderen Leuten, die sie kennt, vor. Trotz dessen hat sie sich vorhin kurz mit Grace Norris und Norma Jean unterhalten, die mit Raven gemeinsam im Biologiekurs sind.
„Auch", antwortet Charles knapp auf die zurückgeworfene Frage, „wo sind Darcy und Lacey?", erkundigt er sich und streicht seine dunkelblonden Haare nach hinten.
„Lacey hatte keine Lust zu kommen, während Darcys Eltern ihr nicht erlaubt haben, auf die Party zu kommen. Du kennst ihre Eltern.", erklärt Raven Schulterzuckend und greift in eine Schüssel mit Chips.
Er nickt und hebt den Becher, den er in seiner Hand hält, hoch zu seinen Lippen.
„Und was ist mit Yves?", wirft sie nun auch diese Frage zurück.
Charles reckt seinen Hals und Raven sieht durch das Material des Pappbechers, dass er seine Cola austrinkt. Als er den Becher auf den Tisch zu den anderen benutzten Bechern hinstellt, lacht er, als wäre es nicht offensichtlich. Yves kommt vielleicht auf jede zweite oder dritte Party, relativ selten, da James vielleicht alle anderthalb Monate Lust darauf hat, alle einzuladen und im Nachhinein überall putzen zu müssen. „Dem wäre es zu laut. Außerdem trinkt er nicht und meint, dass James und ich lästig sind, wenn wir uns betrinken.", sagt Charles, woraufhin Raven lachen muss, denn Yves' Punkt ist berechtigt. Wenn Charles sich mal stark betrinkt, ist er unglaublich nervig und lacht über beinahe jeden Satz.
„Bist du gerade betrunken?", erkundigt sie sich grinsend, auch wenn es mehr oder weniger offensichtlich ist, dass er vermutlich nichts- oder nur sehr wenig getrunken hat.
Charles hebt seine Augenbraue. „Ich? Niemals." Schützend hebt er die Hände in die Luft, dann schüttelt er aber den Kopf und lächelt. Sein Blick signalisiert, dass er wirklich nichts getrunken hat und er zeigt mit vielsagendem Blick auf seinen benutzen Becher. „Was denkst du denn?", macht er sich über ihre Frage lustig.
„Hast du ihm nicht gesagt, dass du nicht trinken wirst?"
Ravens Gegenüber grinst Kopfschüttelnd. „Der glaubt mir das nicht." Meint er, zückt aber trotzdem seine Kamera.
Mit einem erschöpften Lächeln verdeckt Raven die Linse mit ihrer Handfläche.
Charles, der vor allem von Raven meist nur Charlie genannt wird, ist ein Meister darin, jedem mit schlechter Laune ein Lächeln auf das Gesicht zu zaubern. Ob es durch Komplimente, Gespräche oder Witze passiert, irgendwie schafft er es immer.
Er ist aber nicht nur der, der ein paar der lustigsten Momente kreiert. Er ist schließlich derjenige, der diese Momente festhält. Seine Kamera hat er immer irgendwo dabei und er filmt Monate über immer wieder mit - wobei seine Freunde es manchmal gar nicht merken - und schneidet diese Videos manchmal zusammen, bevor sich die sieben Leute aus der Freundesgruppe irgendwo treffen und es sich gemeinsam anschauen.
Raven liebt diese Videos von Charles, besonders weil die Momente gar nie mit dem Gedanken verbunden sind, dass einer von ihnen an seiner Kamera herumfummelte. Charles filmt nebenbei mit und das auf eine Weise, dass es wirklich keinem auffällt, was zugegeben etwas unheimlich ist.
Wenn er es mitteilt oder offensichtlich zeigt, haben sie nicht weniger Spass. Eher im Gegenteil: Charles besitzt vermutlich hunderte Fotos und Videos mit irgendwelchen verzerrten Grimassen.
Irgendwann hatte Raven mal gefragt, wieso er immer die Kamera dabei hat. „Filmst du etwa alle Leute inkognito?", fragte sie grinsend.
Charles schüttelte lachend den Kopf. „Nein. Eigentlich benutze ich sie hauptsächlich für Fotos, aber eure Freude festzuhalten ist eine ähnlich Kunst.", erklärte er, klickte auf den Tasten herum und hielt ihr die Kamera vor die Nase.
Überrascht blickte Raven auf die Bilder. Blumen, Berge, simple Strassen bei Nacht oder im winterlichen Schnee. Als nächstes erblickte sie dann langsam ihre Freunde. Die ersten paar Fotos schienen immernoch darauf ausgelegt zu sein, cool auszusehen, so zum Beispiel ein paar Fotos von James während er Fußball oder Eishockey spielt oder Ash wie er bei einem Geräteturnen-Wettkampf faszinierende Haltungen einnimmt, sowie ein Bild, wo er mit einer Goldmedaille um den Hals auf einem Podest steht. Langsam gehen die Bilder über in lustigere Fotos. Und irgendwann befinden sich zwischen den Fotos, die Raven nach stundenlangem versuchen niemals schießen könnte, waren auch Videos, die Raven nur allzu bekannt vorkamen.
„Unsere Albernheit mal zur Seite gelegt, fotografierst du unglaublich, Charlie.", meinte Raven überrascht und Charles lächelte stolz.
Mittlerweile weiss Raven natürlich, dass Charles Fotograf werden möchte. Doch sie mag es genauso sehr, die Videos, die er macht, anzuschauen, wie die Bilder, für die die Kamera eigentlich da ist.
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