Winter
„Juhu, es hat geschneit!" Rosen stürmte aus ihrer Tür und warf sich in den hoch aufgetürmten Schnee. „Und schaut mal, wieviel!"
Lachend trat Gelbrand aus seiner Hütte. „Du scheinst Spaß daran zu haben."
„Naja, dick eingepackt kann man der Kälte auch gut trotzen", warf Spinne ein, die wie alle anderen warme Kleidung aus Kaninchenfellen und Rebhuhndaunen trug.
„Das ist wahr", Heupferd nickte der Jägerin zu. „Das haben wir dir zu verdanken."
„Sagt mal, fandet ihr es heute Nacht nicht auch merkwürdig still?", fragte Ameise beklommen.
Rosen nickte. „Ja. In dieser Nacht war kein Ton zu hören."
„Ihm ist wohl die Fiedelei vergangen", mutmaßte Gelbrand.
„Kommt mal her!" Spinne war etwas weiter hinausgegangen und winkte nun alle zu sich. „Seht mal hier!"
Erschrocken und verwirrt sahen sie auf die Pfotenspuren im Schnee. Sie waren groß, zeigten scharfe Krallen und waren beängstigend nahe an ihrer kleinen Siedlung.
„Bären", erklärte Spinne mit rauer Stimme. „Sie sind noch nie so nahe herangekommen."
„Aber sollten sie nicht erst am Ende des Winters kommen, wenn sie zu früh erwachen und Hunger haben?", fragte Rosen. „Nicht schon beim ersten Schneefall?"
„Bären halten nur Winterruhe, keinen Winterschlaf", erklärte Spinne. „Und in diesen Breiten verzichten viele ganz darauf oder werden alle paar Wochen aktiv."
Heupferd hatte sich inzwischen weiter umgesehen. „Sind das da auch Bärenspuren?"
Spinne eilte zu ihm und begutachtete seinen Fund. „Nein. Wölfe."
„Wo kommen die denn auf einmal alle her?", wunderte sich Gelbrand. „Gut, ich bin einige Male Bären begegnet, wenn ich fischen war, aber Wölfe habe ich hier noch nie gesehen."
„Wölfe sind auch sehr scheu." Spinne kannte sich da aus. „Nur Hunger treibt sie in die Nähe von Menschen."
„Aber es hat heute erst geschneit. Es kann noch nicht so schlimm sein, dass sie ihre Scheu verlieren", wandte Heupferd ein.
Spinne gab ihm recht. „Und auch dann nähern sie sich allmählich. Dies hier sieht aus, als seien sie immer dagewesen und als hätte sie etwas davon abgehalten, näher zu kommen."
Ameise kam ein furchtbarer Verdacht „Wo ist eigentlich Grille?"
Sie fanden ihn unter seiner Lieblingslinde. Da er keine eigene Hütte besaß, hatte er Laub aufgeschichtet und sich nachts darunter verkrochen. Aber nun war dieser Laubhaufen von einem halben Meter Schnee bedeckt.
Als sie ihn ausgruben, hielten sie ihn zunächst für tot. Er war leichenblass, kalt und steif. Aber als Ameise ihm die Hände rieb und Heupferd ihm eine Serie leichter Ohrfeigen verpasste, wies er wieder etwas Farbe und Wärme auf.
„Danke", flüsterte Grille schließlich zitternd. „Ich – ich konnte heute Nacht nicht spielen. Meine Finger waren zu klamm."
„Spielen!" Heupferd schnaubte verächtlich und trat in den Schnee, dicht neben Grilles Geige. „Ist das alles, woran du denkst?"
Grille sah zu ihm auf. „Nein, nicht nur. Im Moment denke ich an warmes Feuer und gutes Essen."
Spinne zuckte die Achseln „Dann hättest du vielleicht vorsorgen sollen wie wir alle."
Grille blickte zu Boden. „Ich weiß, dass ich euch nicht zu bitten brauche, mir etwas von euren Vorräten abzugeben."
„Warum sollten wir auch?", fragte ihn Gelbrand. „Was hast du getan, während ich Fische geangelt und haltbar gemacht habe?"
Grille musterte Gelbrands finstere Miene. „Geige gespielt", gab er zu.
„Und was hast du getan, als ich Gräser gemäht und Holz gesägt habe?", wollte Heupferd wissen.
Grille wurde bleich. „Geige gespielt."
„Was hast du gemacht, wenn ich Früchte gesammelt und Tee getrocknet habe?", erkundigte sich Rosen.
Grille senkte den Kopf. „Geige gespielt."
„Und als ich für uns alle gejagt und die Felle meiner Beute gegerbt habe?", drängte Spinne.
„Geige gespielt", hauchte Grille.
Da trat Ameise vor. Grille zuckte zusammen, als er ihre kleinen Füße vor sich sah und er starrte weiter auf den Boden.
„Was hast du getan, als ich zu erschöpft war, um meine Füße richtig zu setzen und doch meine Kartoffeln stecken wollte?"
Grille schwieg.
„Du hast mir mit deinem Spiel neuen Mut gegeben und mich aufgemuntert, so dass ich mit meiner Arbeit viel schneller fertig geworden bin", stellte Ameise klar. „Und was hast du gemacht, als ich vergeblich die Krähen von meinen Äckern gescheucht habe?"
Durch Grilles abgemagerten Körper ging ein Ruck, aber er sah noch immer nicht auf. „Geige gespielt", wisperte er.
„Genau. Und die Krähen für immer vertrieben und damit meine Ernte gerettet. Und was hast du gemacht, als wir unsere erfolgreichen Bemühungen gefeiert haben und uns vergnügt haben?"
„Geige gespielt." Grilles Stimme klang nun fester.
"Eben. Und als einziger nicht mitgefeiert." Ameise beugte sich zu ihm hinunter. „Und was hast du jede Nacht getan, während wir schliefen und uns in Sicherheit wähnten?"
Jetzt endlich blickte Grille zu Ameise auf und sah sie lächeln. „Geige gespielt."
„Und damit die Raubtiere von uns ferngehalten?"
Grille wandte den Kopf ab. „Ja."
„Und was hast du deinen Händen gemacht?"
Grille starrte auf seine Handflächen. Jetzt erst erkannten sie alle, dass Grilles Hände voller Narben und Schwielen waren. Rosens Augen füllten sich mit Tränen, als sie das sah.
Grille zuckte achtlos die Achseln. „Geige gespielt."
Ameise packte ihn und half ihm aufzustehen. „Die anderen sind wohl nicht meiner Meinung. Aber ich glaube, dass du mindestens ebenso viel zu unserer Gemeinschaft und unserem Überleben beigetragen hast wie jeder andere von uns. Und zudem hast du uns die Arbeit leichter gemacht. Deine Lieder haben uns allen das Herz erfreut und die Verzweiflung vertrieben." Sie nahm ihn an der Hand. „Komm mit!"
„Aber – wohin?"
„In meine Hütte. Ich bin klein, der Raum reicht für uns beide. Ich habe genug Holz, um uns warmzuhalten und meine Essenvorräte langen für zwei. Es gibt genug warme Decken, in die du dich einhüllen kannst, wenn du frierst und Salben für deine Finger, wenn sie wund sind vom Spielen. Und nein, das ist kein Almosen. Du hast dir das redlich verdient."
Grille sagte nichts mehr und ließ sich von ihr mitziehen.
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