Sonntag, 07. Juli


Liz


Ich lese diesen Text jetzt zum siebzehnten Mal hintereinander, aber nicht auf den gleichen Blättern. Jemand, wahrscheinlich Beth, hat ihn siebzehnmal hintereinander in ein Buch geschrieben und danach noch unzählige Male, denn sie lebt hier schon seit vielen Jahren, sagt Frank. Zu Gesicht bekommen habe ich sie bisher nicht.

„Niemand trifft sie", sagt Vincent. Er versorgt mich mit Lebensmitteln und Wasser, während ich in der Kirche sitze und versuche, herauszufinden, was es mit dieser Frau auf sich hat.

„Wieso nicht?", frage ich.

„Sie kann dich nicht wahrnehmen. Sie lebt in ihrer eigenen Welt", sagt Vincent.

„Und sie führt Tagebuch?"

„Du hast sie vor dir liegen."

„Wieso sind es immer die gleichen drei Einträge?", frage ich.

„Das wissen wir nicht", sagt Frank, „Sie war vor uns allen hier und sie lebt einfach vor sich hin. Es ist, als ob sie festhängt. Sie durchlebt immer und immer wieder diese drei Tage und hält ihre Gedanken auf Papier fest."

„Aber es sind immer die selben Gedanken", sage ich.

„Es ist immer die selbe Geschichte."

„Kann man ihr irgendwie helfen?"

„Wobei?"

„Na, da herauszukommen."

„Aus ihrem Kopf?", fragt Frank.

„Es muss doch fürchterlich sein, alle drei Tage zu durchleben, wie man seine Familie verliert", sage ich.

„Wenn die Erinnerung nun aber das letzte ist, was sie hat? Was soll sie sonst durchleben hier in der Wüste? Die endlosen Schuldgefühle einer Dreifachmörderin?"

„Ihr lasst das einfach zu?"

„Es ist nicht an uns, uns einzumischen", sagt Frank.

„Ihr habt euch in mein Leben eingemischt", protestiere ich.

„Wir versuchen nicht, deine Entscheidungen zu beeinflussen, sondern dir aufzuzeigen, dass deine Perspektive nicht die einzige ist."

„Warum also nicht bei ihr?", frage ich.

„Weil sie weiß, was sie tut", sagt Vincent knapp.

„Das tut sie nicht!", sage ich.

„Wir glauben, sie ist glücklich", sagt Frank, „Das ist das glücklichste Leben, das sie führen kann und sie hat sich dafür entschieden. Sie weiß, dass alle anderen Optionen ihr noch mehr Leid bereiten würden und so ist es Strafe und Leuterung zugleich. Fluch und Segen."

„Aber es sind die schlimmsten drei Tage ihres Lebens!", gebe ich zu bedenken.

„Es sind die Tage ihrer Epiphanie, die Tage, an denen sie wurde, wer sie ist. Sie sind das einzige, was sie von sich hat und je bekommen kann", sagt Frank, „Stell sie dir vor, Jahrzehnte nach ihren Taten. Soll sie in Selbstmitleid versinken? Soll sie vergessen und stumpfsinnig vor sich hin vegetieren? Soll sie sich selbst verzeihen und selbstgerecht unter den Unschuldigen wandeln?"

„Das heißt, sie hat sich selbst dazu entscheiden?", frage ich.

„Sie hatte keine andere Möglichkeit, als sich dazu entscheiden", meint Frank.

Ich sage nichts.

„Sieh mal", erklärt Vincent, „Sie hat über sich nachgedacht und ist zu der Erkenntnis gekommen, dass sie etwas verändern muss. Dann hat sie etwas verändert und beschlossen authentisch und verantwortlich zu sein. Wie hätte sie also den Rest ihres Lebens anders gestalten sollen als so? Sie ist eine Mörderin, Liz, sie hat es eingesehen und lebt nun mit der Schuld. Jeden Tag aufs Neue, ohne ihre Taten jemals zu überwinden, ohne weiter zu gehen, ohne einen Neuanfang zu wagen. Es ist ihre Bestrafung für sich selbst."

„Und ihr meint, dass so ein Leben angemessen ist?", frage ich.

„Das ist nichts, was wir entscheiden können", sagt Frank, „Dies ist ein Ort, an dem nicht geurteilt wird, hast du das schon vergessen?"

„Aber was bedeutet das für andere Menschen?", frage ich, „Sind wir nicht alle Sünder? Haben wir nicht alle eine gewisse Schuld auf uns geladen? Ich meine, das ist doch unbestritten. Es gibt lediglich Unterschiede darin, wie Menschen ihre Schuld verarbeiten. Manche haben kein Unrechtsbewusstsein und machen einfach immer weiter und manche gehen an ihrem schlechten Gewissen zu Grunde. Für ein und die selbe Tat. Ist das nicht ungerecht?"

„Was meinst du denn damit?", fragt Frank, „Meinst du es gibt Mörder, die keine Reue empfinden und dass es denen besser geht, obwohl sie schlechtere Menschen sind? Liz, du sitzt immer noch dem Glauben auf, dass es einen Unterschied macht, ob jemand ein guter oder ein schlechter Mensch ist. Wieso bist du her gekommen? Was erwartest du von diesem Ort? Sicher nicht den Tod, denn du bist ja immer noch am Leben."

„Ich weiß es nicht", sage ich und mir kommen die Tränen.

„Also bist du Hals über Kopf losgerannt und hier gestandet?", fragt Vincent, aber er weiß, dass es nicht stimmt.

„Ich glaube, mein ganzes Leben hat mich hier her geführt", sage ich, „Es gab keinen anderen Weg für mich. Es war Schicksal. Oder zumindest berechenbar. Aber ich beschwere mich nicht. Jeder hat in seinem Leben ein wenig Trost verdient, oder nicht?"

„Jeder?", fragt Frank, „Auch eine Mörderin?"

Ich überlege. „Ja, auch eine Mörderin. Wenn sie Trost darin findet, zu bereuen, dann sei ihr dieses private Glück gestattet. Wer bin ich, ihr das wegzunehmen, was sie in ihrem Herzen fühlt?"

„Du bist also hergekommen, um Trost zu suchen, jemanden der deine Fehler sieht, sie nicht entschuldigt, dir aber dennoch deine Würde nicht abspricht", sagt Vincent.

„Manchmal braucht man nur jemandem, dem man erzählen kann, was man für einen Mist gebaut hat", sage ich, „Ich brauche kein Urteil, sondern Gewissheit."

„Und hast du diese hier gefunden?", fragt Frank.

„Ich weiß es nicht, also vermutlich nicht. Aber das ist nicht schlimm. Ich habe etwas anderes gefunden: Frieden. Seht euch diese Tagebücher an. Beth lebt ein ganzes Leben an drei Tagen. Wieder und wieder. Nichts kann sie erschüttern. Sie hat die Zeit aus ihrem Leben verbannt, das Altern, ihre Umwelt."

„Du meinst also, sie ist glücklich?", fragt Frank mit einem Grinsen im Gesicht.

„Es ist eine seltsame Vorstellung", gebe ich zu, „Sie durchlebt den Horror Tag für Tag für Tag und doch scheint es für sie ein Trost zu sein."

„Für sie wiegt Wahrhaftigkeit schwerer als Annehmlichkeit", wirft Vincent ein.

„Was ich mich frage", sage ich langsam, „seid ihr eigentlich glücklich? Und Billy, Eugene, Alfred, Mercy und Barby?"

„Schwierige Frage", gibt Vincent zu, „Ich glaube, ich kann mir kein Leben vorstellen, das anderes verlaufen wäre und in dem ich so zufrieden gewesen wäre wie in diesem hier. Ich finde mich zurecht und das reicht mir."

„Ich hab ein paar wilde Zeiten hinter mir, die ich nicht missen möchte", sagt Frank, „Aber ewig kann man so nicht weiter machen. Irgendwann muss man sich entscheiden, ob man die Aufmerksamkeit derer will, die einen verurteilen, oder ob man sich zurückzieht. Die Menschen da draußen lechzen nach dem Blut und der Seele anderer Leute und es gibt diejenigen, die beides verkaufen. Ich glaube, dass ich meine Seele bewahrt habe und das gibt mir Sicherheit, wenn es das ist, was du wissen willst."

„Du glaubst an so etwas wie eine Seele?", frage ich, „Ich dachte, du bist Satanist."

Er zuckt mit den Schultern und antwortet nicht.

„Das muss jeder für sich selbst entscheiden", sagt Vincent, „Wenn du glaubst, dass er eine Seele hat, dann hat er auch eine."

Ich blicke Frank lange und durchdringend an. Ich kann keine Seele erkennen. Er steht einfach nur da, als würde es ihn nicht interessieren, was ich denke.

„Ich habe viel Mist gebaut", sage ich schließlich, „Dinge, von denen ich geglaubt habe, dass sie mich von innen auffressen. Mir ging es viel besser als den meisten Menschen und doch bin ich nicht glücklich gewesen. Ich dachte immer, dass ich undankbar sei."

„Man sollte keine individuellen Empfindungen an allgemeinen Befunden über die Gesellschaft messen", sagt Vincent.

„Meine Kindheit war zu perfekt, zu schön, um nicht schrecklich gewesen zu sein", sage ich, „Ich wurde fortwährend von Gewissensbissen geplagt. Erst viel später erkannte ich, dass sie mir eingeredet wurden und nicht natürlichen Ursprungs waren. Fast mein ganzes Leben lang glaubte ich, für ein schlechtes Gewissen gebe es immer auch einen guten Grund, weshalb die Scham sich immer weiter potenzierte. Ich schämte mich für alles, was ich hatte, was andere nicht hatten, für meine Fähigkeiten, mein ganzes Sein. Und dabei erwartete ich, dass es anderen genauso gehen müsse. Scham erachtete ich als Anstand und wer sich nicht schämte, der schien mir asozial zu sein."

„Du trägst nicht die Sünden und die Leiden der anderen auf deinem Rücken", sagt Vincent.

„Du brauchst mir keine Absolution zu erteilen", sage ich, „Das habe ich nicht verdient. Denn erst trug ich meine Tugendhaftigkeit zur Schau, zeigte, wie wunderbar schamhaft, ich sein konnte und dann verdammte ich diejenigen, die sich gegen die Ungerechtigkeiten wehren wollten, die ihren widerfuhren. Ich hielt das Ertragen für erstrebenswerter als das Verändern. Ich hielt Frieden für das Unterlassen von Beschwerden und nicht für das Finden von Lösungen für Probleme."

„Gewaltlosigkeit allein ist keine Sicherheit", sagt Frank, „Gewaltlosigkeit ist die Aufrechterhaltung des Status Quo. Egal, von welchen Wundern sie dir erzählen, Jede Veränderung ist ein Gewaltakt gegen irgendwen, der es sich irgendwo gemütlich gemacht hat."

„Ich habe schlechte Ratschläge gegeben", sage ich.

„Haben sie auch Schlechtes bewirkt?", fragt Frank.

„Ja", gebe ich zu, „Ich habe viel Schlechtes zu verantworten. Ich habe Herzen gebrochen, Menschen zum Weinen gebracht, ihnen ihre Habseligkeiten weggenommen, sie ihren Ruf und ihre Karriere gekostet. Ich hatte kein Mitleid, keine Angst vor Konsequenzen. Wenn ich etwas nicht sehen konnte, berührte es mich nicht. Ich war kalt. Ich war skrupellos. Ich habe mich selbst nicht geliebt und deshalb alles hingenommen, was man mir antat. Ich wehrte mich nicht gegen die Gewalt gegen mich, sondern ich kämpfte gegen mich selbst, ohne es zu merken. Ich opferte mich in meinem eigenen Krieg."

„Hast du gewonnen?", fragt Frank.

„Eine Erkenntnis", sage ich.

Das Kirchenportal öffnet sich und aus dem gleißenden Sonnenschein herein tritt Mercedes, die ich an ihrem schwankenden Gang erkenne. Ich freue mich, sie zu sehen, denn in den letzten Tagen sind wir so etwas wie Freundinnen geworden. Sie nennt mich immer noch „Schlampe", aber ich tragen diesen Titel inzwischen wie einen Orden.

Hinter ihr trottet Justice, der schwarze Hund. Mercedes blickt sich immer wieder unsicher nach ihm um, aber das Tier hält Abstand. Es kann Frank, seinen Herrn riechen und weiß, dass er sich in seiner Gegenwart keine Fehltritte erlauben darf.

„Ich hab Alfred deinen ganzen Schnaps überlassen", sagt sie, „Er meint, er würde ihn aufheben, für eine Gelegenheit, wenn es mal etwas zu feiern gibt."

Ich nicke.

„Wo willst du einziehen?", fragt sie.

„Ich weiß nicht", sage ich, „Viele Häuser sind ja nicht mehr übrig."

„Es findet sich immer eins", sagt Vincent.

„Und was hältst du von unserer Beth?", fragt Mercedes, „Ziemlich abgefahrene Geschichte, was? Hat ihren Mann und ihre Kinder um die Ecke gebracht."

„Ich glaube, es ist etwas anderes, das mich fasziniert und erschreckt", sage ich.

„Und?"

„Es ist ihr Verrat. Ihre völlige Entsagung an die Welt, die Menschen, sogar an den Lauf der Zeit. Sie hat es voll durchgezogen, spottet Gottes Vorsehung und macht einfach ihr Ding. Sie ist eine Abtrünnige, das, wovor sich die Mächtigen am meisten fürchten: Eine, die sie nicht anerkennt. Keine Strafe der Welt kann sie mehr treffen. Kein Teufel, nicht mal Satan höchst persönlich kann sie noch erschrecken. Sie muss niemanden anbeten, sich niemandem unterwerfen, niemanden sehen, mit niemandem sprechen. Sie ist bewundernswert und bedauernswert zugleich. Würde mich nicht wundern, wenn sie auch den Trost, den sie hier erfährt, ablehnt, aber das können wir nicht wissen."

„Ich finde sie gruselig", sagt Mercedes, „Alfred besorgt ihr für jeden Tag ihren bescheuerten Salat und stellt ihn auf ihre Türschwelle, aber nicht mal er hat je ein Wort mit ihr gewechselt. Sie redet immer nur mit sich selbst und den Leuten in ihrer Phantasie. Dabei sind die nicht mal sympathisch, findest du nicht?"

„Du meinst Rick und die Kinder? Nein, die haben es vielleicht sogar nicht anders verdient...", sage ich.

„Was?", fragt Vincent.

Ich atme tief ein, weiß aber trotzdem nicht, wie ich erklären soll, was ich gerade gesagt habe.

„Findest du nicht, dass auch Rick, Dan und Melanie ihre zweite Chance verdient gehabt hätten? Findest du nicht, dass sie ein Recht gehabt hätten, über ihr Leben selbst zu bestimmen?", fragt Vincent.

„Sie haben viel zu lange über das Leben von Beth bestimmt", sage ich.

„Ich hätte Mel gerne kennen gelernt", sagt Mercedes, „Und dann hätte ich ihr eine aufs Maul gegeben."

„Sie war doch auch nur das Kind ihrer Eltern", gibt Vincent zu bedenken.

„Das heißt nicht, dass man ihr nicht hätte den Kopf zurecht rücken müssen."

„Muss man das?", frage ich.

„Findest du nicht, dass wir alle für alle anderen verantwortlich sind?", fragt Frank.

„Nein. Nicht mehr. Ich will nicht bevormundet werden, also bevormunde ich niemanden."

„Und doch bist du hier und interessierst dich für unsere Meinungen", sagt Frank.

„Eine Meinung ist etwas anderes als ein Ratschlag", behaupte ich.

„Wovor hast du Angst", fragt Mercedes, „Dass man dir deine Idee, die du längst in deinem Kopf ausgearbeitet hast, madig machen könnte?"

„Vielleicht", gebe ich zu.

„Und doch bist du unsicher", sagt sie, „Unsicher genug, um dennoch mit uns zu sprechen."

„Ich bin eben nicht so selbstsicher wie Beth", sagte ich.

„Nein, das bist du nicht", bestätigt Frank, „Immerhin hast du uns immer noch nicht erzählt, warum du dich auf den Weg zu uns gemacht hast. Ich sehe, wie du dieses Tagebuch schreibst, ich sehe, wie du alle möglichen kleinen Vergehen gestehst, wie du damit haderst, wie du um den heißen Brei herum schreibst und wie du uns alle als deine Zeugen betrachtest. Dabei gibt es gar kein Tribunal, es sei denn, es findet in deinem Kopf statt. Wie also lautet die Anklage, Liz. Weswegen bist du wirklich hier. Doch wohl nicht, weil du vor Urzeiten einem kleinen Jungen ein paar Dollar abgezogen hast?"

„Ihr seid nicht meine Zeugen", sage ich, „Ihr seid die Nebenkläger."

Frank lacht: „Ich habe nichts zu beklagen, herzlichen Dank."

„Das behauptest du vielleicht, aber in deinen Augen sehe ich, dass du mich verabscheust, wie du alles und jeden verabscheust, nur dass du in meinem Fall nicht genau weißt, warum. Sieh nur den Hund an, er knurrt mich dauernd an. Er weiß, dass etwas mit mir nicht stimmt. Er kann meine Aura wittern und sie riecht faulig. Ich bin vielleicht nicht stark genug, um ein Leben wir Beth zu führen, aber ich verspüre doch das Bedürfnis nach..."

„Rechtfertigung?", fragt Vincent.

„Nein", sage ich, „Ruhe."

Mercedes verschränkt dir Arme vor ihrer Brust und schmollt: „Ruhe ist was für Langweiler! Wenn man Ruhe haben will, kann man sich auch gleich ein Loch ausheben und ich dachte, über diesen Punkt sind wir hinweg. Es gibt keine Ruhe. Ruhe ist Luxus. Ruhe ist etwas, das du dir nicht leisten kannst."

„Dann vielleicht Versöhnung?", sage ich.

„Mit wem? Uns an Stelle aller, denen du vermeintlich Unrecht getan hast?", fragt Frank, „Dann würdest du uns ganz schön missbrauchen."

„Ist nicht jede Interaktion in gewisser Weise Missbrauch?", frage ich.

„Sie hat in ihrem Leben wirklich die essenziellen Dinge nicht gelernt", sagt Bar, die irgendwie hereingekommen sein muss, ohne dass ich es gemerkt habe, „Interaktion ist nicht Missbrauch, sondern ein Versuch der Kontrollübernahme. Ob er gelingt, liegt an demjenigen, der dir gegenüber steht."

„Täter bin ich trotzdem" sage ich.

„Täter kommt von tun und tun kann man auch Dinge, die nicht verwerflich sind", meint Vincent, „Auch die Übernahme der Kontrolle für jemanden kann zu dessen Schutz geschehen. Hilfe ist nicht gleich Einmischung, sondern Ausdruck von Güte und Mitgefühl."

„Hast du etwas davon?", fragt Frank, „Güte oder Mitgefühl?"

„Ich glaube nicht", sage ich, „Ich habe nur Scham. Ich lebe immer erst hinterher. Ich blicke zurück und schäme mich, statt nach vorne zu schauen und die Möglichkeiten abzuwägen."

Mercedes verzeiht das Gesicht zu einem Grinsen, sagt aber nichts, was ich sehr verwirrend finde. Sie macht mir Angst, wenn man ihr ansieht, dass sie einen Gedanken für sich behält.

Wie kann sie einen Gedanken für sich behalten, frage ich mich plötzlich. Wie kann sie etwas wissen, das ich nicht weiß? Wieso fordert mich Frank auf, auszuformulieren, was er ohnehin längst weiß? Jeder hier weiß alles, wieso also zwingen sie mich, darüber zu reden? Es aufzuschreiben?

Ich bin eine untreue Ehefrau, neben vielen anderen Dingen bin ich vor allem das: Die Frau an der Seite eines Mannes, die ihre Aufgaben nicht erfüllt hat. Als Frau ist man immer zuerst Frau, hat man immer zuerst die Aufgaben einer Frau zu erledigen und darüber Rechenschaft abzulegen. Erst danach hat man einen Beruf, eine Funktion, Erfolge, Persönlichkeit, Vorlieben, Wünsche und Ängste. Sie zählen alle nicht, wenn man als Frau versagt. Welchen Sinn hat es also, über all die anderen Dinge zu reden?

Ich hatte einen Beruf, aber ich habe als Frau versagt, deshalb bin ich als Anwältin nicht mehr zu gebrauchen. Ich hatte eine Position, aber ich habe als Frau versagt, deshalb war ich dort nicht mehr vertretbar. Ich hatte Erfolge, aber ich habe als Frau versagt und deshalb zählen diese nicht, nein, im Gegenteil, ist nicht sogar zu hinterfragen, ob meine Erfolge nicht vielleicht moralisch verwerflich waren? Ich hatte eine Persönlichkeit, aber die steht mir jetzt nicht mehr zu, denn ich habe als Frau versagt. Ich hatte Vorlieben, aber nachdem ich als Frau versagte, habe ich kein Recht mehr, sie zu äußern. Meine Wünsche sind irrelevant, denn ich habe die Wünsche meines Mannes mit Füßen getreten. Und meine Ängste, nun, die habe ich verdient, denn wer als Frau versagt, soll wissen, dass so etwas nicht ohne Folgen bleibt.

Selbst schuld, Liz, dass dein Status in sich zusammengebrochen ist. Selbst schuld an allem, was in deinem Kopf passiert.

Du liegst hier, halb verhungert und zu drei Vierteln verdurstet und denkst an nichts anderes, als dass du selbst schuld bist an deiner Lage. Versagerin! Hast du etwa geglaubt, irgendjemand interessiert sich für deine Entschuldigungen, deine Erklärungen, deine Plädoyers? So viel Bewunderung, wie du für Beth aufbringen kannst, hättest du besser mal für deinen Mann aufbringen sollen. Er war ein guter Mensch, ein bescheidener und doch ehrenhafter Mann. So werden sie es schreiben und du hast keinen Einfluss mehr darauf. Dein Ruf liegt nun in den Händen anderer, das ist es, was du nicht erträgst.

Trost ist eine Sackgasse, eine Lebendmausefalle für Menschen, die nicht zurück können, aber auch kein Ziel mehr vor Augen haben. Du hast dein Ziel eigenhändig beseitigt, Liz, hast dir den eigenen Weg verbaut mit einer ganzen Trümmerstadt, bewohnt von den Geistern deiner Schuld. Sie sind widerspenstig, nicht wahr? Widerspenstig, aber so verständig. Ist es das, wonach du doch sehnst? Verständnis? Das Verständnis derer, die du verletzt und betrogen hast? Du fürchtest die Wut anderer Leute, ihre negativen Gefühle dir gegenüber. Du bist feige im Inneren und voreilig nach außen hin. Das, Liz, ist dein Verderben. Du hast dich nicht im Griff und hattest es nie. Impulse. Fluchtimpulse, Liz, und du kannst dich ihnen nicht entziehen. Deine Angst vor Verurteilung ist zu groß. Da übernimmst du das lieber gleich selbst, was? Aber so läuft das nicht. Du bist nicht allein auf der Welt, du bist ja nicht mal allein in deinem Kopf. Dort erwartet dich vielleicht ein mildes Urteil, mit dem du leben kannst, das dich zufrieden stellt, aber hier draußen, liegt dein Leben nicht mehr in deiner Hand.

Ich drehe mich zur Seite und greife nach einem der Blätter, die um mich herum verstreut liegen. Darauf steht geschrieben: „Mörderin! Mörderin! Hat ihren Mann in den Tod getrieben!"

Hat sie das? Hat nicht eher ihr Mann sie dazu getrieben, ihn in den Tod zu treiben?

Deine Verteidigungsrede ist schwach, Liz. Er wollte nicht sterben, das weißt du.

Er wollte vielleicht, dass ich sterbe, ich bin ihm nur zuvorgekommen. Und hat nicht er mich letztendlich auch in den Tod getrieben? Oder zumindest in den Wahnsinn?

Es ist egal, was er getan hat, wenn er tot ist, Liz. Wer tot ist, ist das Opfer, wer lebt, hat einen ungerechten Vorteil.

Ich bäume mich auf und übergebe mich auf den Boden der über und über mit Papierfetzen und Zetteln bedeckt ist. Ich nehme ein weiteres Blatt: „Ich denke an den idealen Menschen. Würde er sich seiner Privilegien schämen?"

Würde er? Müsste er? Geziemt es sich? Schäm dich, Liz, du hattest ein gutes Leben und hast es versaut. Du hattest alle Chancen und hast sie nicht ergriffen. Stattdessen bist du überall falsch abgebogen, wo es nur möglich war. Sieh dich an, dein Zustand, dein Dasein, das Ergebnis deiner Entscheidungen!

Aber ich hätte doch nicht wissen können, dass es einmal so endet!

Wie ist wohl das Leben derer geendet, die du von dir gestoßen hast, die du nicht in dein Leben ließest? In dein Herz so eng, so klein, so verkrustet gewesen, dass es nur Platz für dich darin gab? Kannst du lieben, Liz? Etwas oder jemand anderen als dich selbst?

Ich bin niemand. Ich kann nicht einmal mich selbst lieben. Ich bin leer, ausgesaugt und zurückgelassen. Ich bin nur noch die Hülle meiner Seele, glaube ich. Sie ist abhanden gekommen mit den Jahren und als sie fort war, hatte ich nichts sonst mehr zu verlieren. Macht mit mir, was ihr wollt. Nehmt mich, werft mich den Hunden zum Fraß vor, sie werden nicht satt werden.

Scheinbare Opferbereitschaft ist nichts Bewundernswertes, Liz, und du willst doch bewundert werden. Für deinen souveränen Umgang mit deiner Schuld, für deine Leidensfähigkeit, für deinen gradlinigen Charakter, dafür, dass du Nägel mit Köpfen machst und dich deinen Ängsten stellst. Und doch tust du nichts. Du liegst hier und wartest, das andere dich dem aussetzen, was du verdient hast. Du koppelst deinen Geist von deinem Köper ab, oder versuchst es zumindest, um diesen Schmerz nicht mehr zu spüren, der sich in deiner Magengrube eingräbt. Was glaubst du, was das ist, Liz? Ein Parasit? Ein Tumor? Ein wachsender Fötus? Was willst du damit beweisen? Dass du nicht vollkommen versagt hast? Dass du ein bisschen was Menschliches zurücklässt?

Ich versuche mein Bestes, meine Würde zu bewahren.

Du widerholst dich. Hast du keine besseren Argumente mehr? Willst du wieder von vorne anfangen? Zurück zum Anfang? Rein ins Auto, Flucht über den Highway? Aber wohin diesmal? Glaubst du, es gibt irgendwo auf dieser Welt einen Ort, an dem du allein bist, wo niemand dich finden wird, der nicht bewohnt ist? Du bist in der Welt, Liz, und so lange das so ist, ist dieser Planet kontaminiert. Er wehrt sich gegen dich, schafft Fata Morganen, streckt dich nieder, überlässt dich den Naturgewalten.

Ich suche nach weiteren Blättern, grabsche um mich herum nach den Dingen, die ich aufgeschrieben habe, während ich weggetreten war. Aber ich finde nichts, das mit bekannt vorkommt. Das ist ein Alptraum, fällt mir ein. Es ist nicht echt. Es passiert nicht. Ich bin woanders. Ich bin eine andere.

Du suchst etwas, das dich entlastet. Aber da ist nichts außer einem umfangreichen Geständnis. Du, Liz, bist schuldig. In allen Anklagepunkten schuldig. Hier und überall. In der Realität, in deinen Träumen, in deinen Visionen, in deinen Psychosen, in deinen Flashbacks, in deinen Erzählungen, in deinen Bitten um Verzeihung, in deinen Tränen, in deinen Schreien, in deinem Sterben und im Tod. Du bist schuldig, Liz. Für immer. Das ist dein Andenken, das wird auf deinem Grabstein stehen und alle werden es lesen. Die Zeit kann nicht betrogen werden, außer durch die Dinge, die man in Steine meißelt. Sie werden dich begraben und versuchen zu vergessen. Wenn sie zynisch sind, werden sie dich neben deinem Mann begraben und deine Eltern werden beide Gräber mit den gleichen Blumen schmücken. Werden sie glauben können, was geschehen ist oder werden sie es verdrängen? Was hast du ihnen nur angetan, Liz?

Sie haben ihn mehr geliebt als mich. Sie werden mehr um ihn als um mich trauern. Wieso also sollte es mich kümmern, welche Blumen sie für mich opfern? Es bedeutet mich nichts. Kein Abschied, der mir leichter fallen würde. Kein Schmerz, der erträglicher wäre.

Was für einen bittere Rache. Weil sie ihn dir bevorzugten, hast du entschieden, dich selbst demjenigen vorzuziehen, dem du Liebe und Treue geschworen hast. Schäbig, Liz, schäbig. Du hast ihn verraten.

Indem ich mich für mich selbst entschieden habe? Sollten Ehepartner nicht auf der selben Seite stehen? Aber das taten wir nie, also entschied ich mich, mich auf meine Seite zu stellen und aufzuhören, mich selbst zu bekämpfen.

Ach, hast du das, Liz? Aufgehört dich selbst zu bekämpfen? Wann? Wo? Als du dich hier besinnungslos gesoffen hast? Oder schon vorher? Als du ihm die Waffe aufs Kopfkissen eures Ehebettes gelegt hast? Wie man es bei einem erfolglosen Offizier macht? Was bist du, Liz? Die Diktatorin deiner Dämonen? Wann hast du deine Selbstbeherrschung verloren? Als du zum ersten Mal Blut geschmeckt hast? Als du zum ersten Mal diese Schmerzen verspürt hast? Keine Entschuldigung, Liz, keine Entschuldigung für alles, was du getan hast.

Ich schaffe es, mich aufzurichten und stehe nun da. Über mir die Sterne, um mich der leere Raum. Die Stille wird nur unterbrochen von ein paar zirpenden Heuschrecken, die sich irgendwo im strohigen Wüstengras verstecken. Das Mondlicht beleuchtet die bizarren Formen der Ruinenstadt, die sich als schwarze Schatten vor dem dunkelblauen Himmel abheben. Hier hat es einst Leben gegeben, jetzt gibt es hier nur noch den Tod und mich. In keinem der Häuser brennt mehr Licht, keine der Straßen wird mehr betreten. Niemand glaubt mehr an diesen Ort, er ist verlassen und verbrannt wie jede andere Vergangenheit. Dieses großartige Land spuckt auf die Spuren, die es hinterlässt. Spuren in der Landschaft, spuren in der Bevölkerung, Spuren in den Seelen. Bin ich wirklich hier? Ist das, was ich sehe real? Nur eine Nacht noch, um sicher zu gehen.

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