Montag, 01. Juli
Liz
In der Woche, in der Terry fast durchdrehte, weil sie verzweifelt und schließlich erfolglos versuchte, beim lokalen Radiosender Konzertkarten für eine mittelmäßige Band zu gewinnen, wurde mir klar, was geschehen war. Mein Leben hatte sich irgendwann zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr in die Vorhölle des schlechten Geschmacks und der Peinlichkeiten verwandelt. Das Problem war, dass ich noch nicht tot genug war, um mich damit abzufinden und das war der Grund, warum mich etwas störte. Die ganze Zeit über. Wie ein Stein im Schuh. Es war immer da. Ein Zwicken, das sich zwar unangenehm anfühlte, einen aber nicht davon abhielt, weiter zu laufen. Was war aus meiner Abenteuerlust geworden? War neben den Pflichten und der Verantwortung, dem Alltag und dem Druck der Gesellschaft die Lebenslust verloren gegangen? Hatte das Wissen, das ich mir in den Jahren bis heute mehr oder weniger freiwillig aneignen musste, mein Vertrauen in das Gute, meine Unbefangenheit und meine Träume aufgefressen? Flüchte ich nicht mehr ins Leben, sondern von dort heraus? Was war aus dem weiten Land geworden, nach dem ich mich gesehnt hatte, nachdem die Schule mich als fertigen Menschen ausgespuckt hatte? Die Frustration machte mich träge, die Erfahrung, ängstlich, das Pflichtbewusstsein müde.
In der Woche, als Terry ihre Konzertkarten nicht bekam, erkannte ich, dass wir ohnehin all unsere hochgesteckten Ziele verfehlen werden und selbst wenn nicht, dass ein Ziel auch immer eine Endstation, eine Falle ist. Ich will aber eigentlich nirgendwo ankommen und dann dort auf der Stelle treten. Ich will keine mittelmäßige Konzerte besuchen und das als Highlight meines Lebens betrachten müssen. Ich will nicht die Langeweile herbeisehnen, weil sie zumindest besser ist, als hirntot zu sein.
Also fasste ich einen Entschluss: Ich gab mir eine Woche, um etwas zu tun, auf das ich später wohlwollend und nicht wehmütig zurückblicken würde. Und wenn mir das nicht gelänge, würde ich mir auf der Stelle eine Kugel in den Kopf jagen – oder etwas ähnliches tun.
Das war vor einer Woche.
Die Ironie des Schicksals will es, dass man mir, nach allem was passiert ist, die Lizenz für eine eigene Handfeuerwaffe verweigert – in Reagans Amerika, was für eine Schande! – und so befinde ich mich nun hier auf dem Highway, mitten in der Wüste in einem Wagen voller Ethanol. Das immerhin hatten sie mir nicht verweigert.
Da ist es also, das weite Land. Aus der Nähe betrachtet, wirkt es gar nicht so beeindruckend. Ich habe schon immer geahnt, dass Schönheit etwas ist, das man nur aus der Ferne genießen kann. Kommt man näher ran, sieht man den Dreck, die Runzeln, man riecht den Schweiß, und man fühlt die rissige Hornhaut. Alles Lebende ist aus den Nähe betrachtet unperfekt, irgendwie schief und anfällig für Risse und Dellen. Interessanterweise zeigen unbelebte Dinge – wie Steine oder Kristalle – unter dem Mikroskop eine so regelmäßige Struktur, dass man glauben könnte, Gott wäre es bei seiner Schöpfung vor allem um sie gegangen, während das Leben nur eine Art Abfallprodukt seiner Experimente gewesen ist.
Überhaupt: Seltsame Vorstellung. Das mächtigste Wesen, das je existiert hat und existieren wird, ist auch das einsamste. Zu seiner Erbauung beginnt es andere Wesen zu erschaffen, muss dann aber feststellen, dass sie erstens überaus schnell verschleißen und dann verfaulen, zweitens zu dumm sind, um es erkennen und verstehen zu können, geschweige denn ihm intelligente Gesellschaft zu leisten und die drittens nur mit ihm reden, wenn sie irgendwas haben oder sich für irgendwas bedanken wollen, das sie sich selbst erarbeitet haben. Es muss unendlich frustrierend sein, als Gott so dermaßen zu versagen.
Vielleicht fühlt es sich so an, wenn man als Eltern merkt, dass die eigenen Kinder den Erwartungen nicht gerecht werden, die man in sie gesetzt hat und irgendwann kommt dieser Moment unweigerlich. Ich frage mich, ob Eltern über die Frustration bezüglich ihrer unfähigen Kinder vereinsamen und ob sie deswegen Mitleid verdient haben.
Meine Eltern leben immer noch in diesem seltsam weiß getünchten Vorort von Tuscaloosa und vertrieben sich vermutlich die Zeit damit, darüber nachzugrübeln, was sie nur getan hatten, um ihre geliebte Tochter zu vertreiben. Zumindest stelle ich mir das so vor. Es kann natürlich auch sein, dass sie all ihre Anstrengungen darauf konzentrieren, zu leugnen, dass sie je eine Tochter hatten. Ich zweifle nicht daran, dass ihr Groll so stark werden kann, dass er sogar die Realität verschiebt. Ich frage mich, wie viele von den Nachbarn sich noch an mich erinnern. Ich erinnere mich an keinen von ihnen.
Die Menschen in den Vorstädten sehen alle gleich aus. Ein bisschen klebrig, ein bisschen verwahrlost, ein bisschen mumienhaft, aber viel zu stolz, um sich anmerken zu lassen, dass sie sich auch genauso fühlen. Der Trick ist es, nicht darüber zu sprechen, denn wenn man es nicht sagt, dann denkt man auch nicht mehr daran, dann sieht man es nicht mehr und wenn sich alle an die Abmachung halten, werden die eigenen Unzulänglichkeiten vielleicht auch großzügig übersehen.
Die Hässlichkeit hat Tradition im Süden. Deshalb versucht man sie mit aufgesetztem Stil weiß zu übertünchen. Die Häuser sehen aus wie Residenzen, sind in Wirklichkeit aber in der Leichtbauweise auf die Erde gepflanzt worden, die mit schöner Regelmäßigkeit für Katastrophenbilder in den Nachrichten sorgt, wenn nämlich wieder mal ein Sturm ganze Städte in Bretterberge verwandelt hat. Man sollte doch glauben, dass Leute, die in sturm- und flutgefährdeten Regionen leben, sich irgendwann eine Bauweise aneignen, bei der ihrer Häuser den Naturgewalten standhalten... Aber nein, in Kalifornien vielleicht, aber nicht in Alabama. In Alabama lebt man den Pioniergeist. Alle paar Jahre steht man wieder vor dem Nichts.
Die Traditionen des Südens sind für Außenstehende schwer zu verstehen, denn sie wirken unsympathisch, verkrustet und sturköpfig. Schlechte Verlierer, heißt es. Die Wahrheit ist viel ernüchternder: Die Traditionen des Südens sind Unsympathie und Sturheit. Man ist stolz darauf, dass man gehasst wird. Das zeigt nur, dass die anderen intolerant sind, Heuchler gar. Und nichts hasst man in Alabama mehr als Heuchler: Menschen, die den Frieden predigen und sich für den Krieg rüsten, Menschen, die von Liebe sprechen und Hass sähen. In Alabama schätzt man eine klare Sprache und jeder weiß, dass Dinge wie Frieden und Liebe unerreichbare Utopien sind, mit denen man sich nicht abgibt, wenn man es im Leben zu etwas bringen will.
Es gehe um Werte, höre ich unseren Pastor immer noch sagen, während er den Kuchen meiner Mutter verspeist, der alte Schnorrer. Werte, sagte er, seien das gesammelte Wissen der Menschheit, das aus Erfahrung und gelebter Wirklichkeit gewonnen wurde. Diese Werte sicherten das Überleben unserer Vorfahren und sie würden unseres sichern. Und meine Mutter starrte ihn mit großen, gläubigen Augen an, schenkte Kaffee nach und hoffte einen guten Eindruck zu hinterlassen. Sie verwechselte oft Autorität mit Expertentum.
Ich frage mich, ob der Alte noch lebt, oder ob seine Wampe ihn nicht schließlich doch im Schlaf unter sich zerquetscht hat. Und wenn es so war, trugen meine Mutter und ihr Kuchen – und all die anderen Frauen und deren Kuchen – eine Mitschuld daran? Meine Mutter, eine Mörderin. Interessanter Gedanke. Nicht sehr bequem, aber etwas, worüber es sich lohnt, nachzudenken.
Es gibt nicht viele Dinge, über die es sich lohnt, nachzudenken und ich habe festgestellt, je älter man wird, desto mehr ist man äußeren Einflüssen ausgesetzt, die einem die wenigen Dinge, über die es noch zu denken lohnt, auch noch abspenstig machen.
Nehmen wir diese Straße. Sie führt so schnurgerade nach Osten, dass man keinerlei Sorgen haben muss, nicht eines Tages auf der anderen Seite des Kontinents anzukommen. Man kann sich gar nicht verfahren oder verirren. Es ist unmöglich verloren zu gehen, wenn man es nicht sorgfältig plant. Sie nehmen uns die realen Gefahren und füllen unser Leben mit irrationalen Ängsten. Ich glaube, dass ein Mensch einen gewissen Pegel an Angst benötigt, um zu funktionieren. Angst ist das Schmieröl des Lebens. In einem Leben voller Sicherheiten, dreht der menschliche Geist deshalb irgendwann durch und erfindet Gefahren. So entstehen Phobien und Panikattacken.
Ich beispielsweise habe Angst vor Hunden, auch vor den kleinen, die mir nicht mal bis zum Knöchel reichen. Diese Angst ist ein Resultat meines Lebens in der Stadt, wo Tiere an Leinen geführt werden oder in Käfigen leben. Sie sind nicht gefährlich, so lange sie da sind, wo sie sind, so lange sie unter Kontrolle sind, aber gnade uns Gott, wenn diese Ordnung gestört wird, das Chaos losbricht und Hunde, Tiger und Krokodile frei durch die Straßen der Menschenstadt streifen. Dann ist es schnell vorbei mit der garantierten Sicherheit und wir werden uns wieder bewusst, dass Sicherheit nicht garantiert werden kann und dass in Wirklichkeit alles gefährlich ist und wir unser Leben zu keinem Zeitpunkt in unserer Hand halten.
Jederzeit kann dieses Auto hier unter meinem Arsch explodieren. Jederzeit kann ich vom Blitz getroffen werden. Jederzeit kann ein Tropensturm mein Haus verwüsten. Warum also überhaupt Vorkehrungen treffen? Was geschehen soll, wird geschehen.
Die Angst ist da, aber es ist beruhigend, zu glauben oder zu wissen, dass man ihr nicht entkommen wird, dass der Weg immer geradeaus führt, dass sich irgendwo im Osten die Küste befindet und es dann kein Davonlaufen mehr gibt.
Langweilige Menschen lassen sich darauf ein, sie gehen den geraden Weg, sie lassen sich dorthin treiben, wo der Wind sie hin weht. Sie gehen auf langweilige Konzerte und freuen sich über ein bisschen Glück. Sie genießen die Sicherheit ihres Schicksals und die Phobien, die sie hegen und Pflegen als Zeichen ihrer Individualität.
Ich aber habe einen Plan, wie ich der Langeweile ein Schnippchen schlage. Die Straße mag vielleicht nur in zwei Richtungen führen, aber das weite Land strebt nach allen Seiten in die Unendlichkeit. Ich muss nur einmal mein Lenkrad herumreißen, eine kleine Handbewegung und ich bin... auf Abwegen.
Weglaufen, verschwinden, sich vom Erdboden verschlucken lassen, sich in Luft auflösen, keine Spuren und keine Leiche hinterlassen, keinen Grabstein bekommen, Gewissheit für niemanden sein.
Ich habe es schon einmal gemacht, aber nicht endgültig genug. Damals bin ich von Tuscaloosa aus nach Westen aufgebrochen, die schnurgerade Straße entlang bis zur Küste und als es nicht mehr weiter ging, blieb ich stehen und änderte meine Strategie. Ich behauptete damals, jemand anderer zu sein und ich war so überzeugend, dass ich es sogar eine Zeit lang selbst glaubte.
Bis Terry eines Tages heulend in meinen Armen lag, weil sie auch die letzte Chance verpasst hatte, auf ihr Konzert zu gehen. Da merkte ich, dass mir das Leben dieser anderen Frau zu langweilig geworden war und ich wieder so werden wollte, wie ich war, bevor ich am Ende der Straße angekommen war.
Vielleicht, Liz, sagte ich mir, bist du jetzt einfach wieder am Anfang einer Straße. Vielleicht schälen wir uns im Laufe unseres Lebens aus unseren Persönlichkeiten heraus wie Schlangen aus ihrer Haut, vielleicht sind alle Menschen im Laufe ihres Lebens mehrere Personen, aber niemand traut es sich, zu sagen, weil es unschicklich sein könnte, oder weil einem die alten Ichs allesamt peinlich sind. Aber wie oft hat man alte Freunde schon sagen hören: „Du hast dich verändert, Mann!" und das ist meistens ein Vorwurf.
Ich will weg, aber ich will nicht zurück. Ich will bleiben, aber nicht hier, sondern irgendwo anders, als eine andere. Nirgendwo, wo ich gefunden werden kann und als niemand, der erkannt wird. Aber dies ist Amerika und hier gibt es diese magischen Orte, die nach Verwüstung aussehen und Erlösung verheißen. Orte, an denen noch etwas Hoffnung klebt, obwohl sie längst aufgegeben worden sein, weil die Langweiler, die Sicherheitsfanatiker und die Verzweifelten sie verlassen haben.
Geisterstädte, die seit Jahrzehnten stur und standhaft dem Wüstenklima trotzen, stehen für das Amerika, das zum Mythos geworden ist, das ein anderes ist, das anderswo ist, abseits. Eine Geisterstadt für eine Geisterfrau, ein Ort, der aus der Zeit gefallen, dem Tod anheimgefallen ist und ihm dennoch trotzt. Ein in sich verdrehtes Paradoxon
Es gibt eine Stadt draußen in der Wüste, die ihren Niedergang erlebte, als die nahegelegene Eisenbahnlinie demontiert wurde. Damals fiel der Goldpreis ins Bodenlose und die kleinen kalifornischen Goldminen lieferten nur geringe Erträge. Aufstieg und Verfall gingen einher mit vorgeschossenem und verlorenem Vertrauen, Hoffnung und Enttäuschung. Schließlich vernichtete ein Brand einen Großteil der Holzhäuser, darunter die Bank, viele Geschäftshäuser, Bordelle und Saloons und als sich abzeichnete, dass die Bevölkerungszahl nicht wieder steigen, sondern sinken würde, schloss am Ende auch das Postamt. Das war 1942. Die letzten Bewohner verließen die Stadt Anfang der 60er-Jahre. Eine Stadt, die einmal über 10.000 Bewohner gehabt hatte...
Das heiße, trockene Wüstenklima erhält diese Orte, die in der Landschaft liegen wie abgenagte Knochen. Man kann dort nicht leben, aber man kann dort verschwinden. Man stirbt nicht, man wird konserviert in der Geschichte, wird Teil der Ruinen einer anderen Zeit.
Die Straße, die nach Solace führt, ist ein kaum noch zu erkennender Feldweg. Seit Jahrzehnten ist niemand mehr in sie eingebogen, scheint es, aber ich reiße diese Narbe nun wieder auf und der Wagen stottert mit Mühe über die holprige Piste. Keine Sorgen, es ist der letzte Weg, den du je fahren musst...
Es ist ein Ford F-100, der in den frühen 70er-Jahren vielleicht einmal ein Statussymbol für eine aufstrebende Familie gewesen ist. Ich stelle sie mir vor, wie sie sich den Wagen vom Vertrauensvorschuss, den man in sie setzte, gekauft hatte und wie sie ihn wieder verkaufen musste, als ihnen das Vertrauen entzogen wurde, weil irgendwo der Preis für irgendeinen Rohstoff fiel. Ich stelle mir vor, wie der Wagen Jahr um Jahr im Regen und im Matsch des Gebrauchtwagenhofs stehen musste und von unten her zu rosten begann, wie er sich dafür schämte, langsam zur Ruine seiner selbst zu werden, wie viel Kraft es ihn kostete, als ich mich in ihren hineinsetzte und den Motor startete. Er versuchte sicher eine gute Figur zu machen, aber ich kaufte ihn nicht, wegen seiner guten Figur, sondern wegen seines niedrigen Preises und ein bisschen aus Nostalgie, als die sich mein Mitleid oft tarnt.
Manche Leute hätten dem Auto vielleicht einen Namen gegeben, so wie sie ihren Hunden Namen geben. Aber ich neige nicht zu derartigen Sentimentalitäten. Ein Hund kann mit einem Namen ebenso wenig etwas anfangen, wie ein Auto und ist das Benennen nicht gerade ein Akt der Selbsttäuschung durch scheinbare Sicherheit? Wird ein Hund, der einen Namen hat, nicht zur reißenden Bestie, wenn er freigelassen wird? Überfährt ein Auto mit einem Namen, nicht auch Menschen, wenn man es unaufmerksam bedient? Indem wir unseren Werkzeugen eine Persönlichkeit zuschreiben, glauben wir, nicht mehr für sie verantwortlich zu sein. Und wer nicht verantwortlich ist, den trifft keine Schuld und wer nicht schuldig ist, der ist nicht in Gefahr.
Nein, dieser Wagen braucht keinen Namen, er braucht jemanden, der ihm sagt, wo es lang geht. Und das unterscheidet die Dinge von den Menschen.
Die Sonne bewegt sich langsam Richtung Westen und das Licht nimmt diese seltsame Stimmung an, die Photographen so lieben. Irgendwo in der Ferne kann man die Bergketten erahnen, an deren Füßen Solace liegt. Bis dahin: Gestrüpp, Dornen, Steine und zwischendrin mattgrüne Grasbüschel. Weiß der Teufel, woher sie ihr Wasser zum Überleben beziehen...
Ich bin weder durstig, noch hungrig. Ich habe mich dazu entschieden, nie wieder ein Bedürfnis zu haben. Alles ist eine Frage der Willenskraft. Wenn man sich das Rauchen abgewöhnen kann, dann auch das Essen und Trinken.
Und was soll ich auch zu mir nehmen? Ich habe nur Alkohol bei mir und unter dessen Einfluss soll man bekanntlich nicht Autofahren.
Ich bin feige. Ein Tagebuch zu schreiben, ist feige. Briefe zu schreiben, ist feige. Wer nach seinem Tod nicht in der Erinnerung anderer Leute weiterleben kann oder will, der sorgt dafür, dass er es durch seine Selbstdarstellung tut. Wir manipulieren die Erinnerung anderer, indem wir unserer eigenen Perspektive auf uns so viel Raum gewähren. Dabei kennen wir uns selbst am schlechtesten. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich mich selbst erkennen würde, wenn ich mir auf der Straße begegnen würde. Meine Anerkennung gilt all jenen, die gegangen sind, ohne, dass sich jemand an sie erinnert, die irgendwo verscharrt sind, ohne Kreuz, ohne Grabstein, der den Ort markiert, ohne trauernde Witwe, ohne verwahrloste Kinder, ohne verzweifelte Eltern, ohne jemanden, der eine Vermisstenmeldung aufgegeben hat. Das Leben, das keinen Einfluss genommen hat, ist das erstrebenswerteste. Das Leben, das nicht stattgefunden hat, ist das einzig reine, auf diesem gottverdammten Planeten.
Jede Handlung ist Sünde für irgendwen. Jeder Gedanke diskriminiert irgendjemandem. Jedes Wort verletzt. Niemand ist unschuldig in dieser Welt. Niemand ist frei von Lastern, Fehlern oder Aggressionen. Wir sind alle Mörder. Meine Mutter, unser alter Pastor, ich. Aber was ist schon ein Mord? Wenn wir alle Schuldige sind, ist auch ein Mord nur eine gerechte Strafe für irgendein Vergehen. Wenn alles Sünde ist, ist nichts Sünde, ist alles egal.
Ich will nicht in einer nihilistischen Welt leben. Lieber bin ich tot in der Zwischenwelt einer Geisterstadt. Lieber bin ich konserviert in einem Tagebuch, als dass man mir posthum die Absolution erteilt.
Das Blau des Himmels wird mit Fortschreiten des Abends intensiver. Seit Sacramento habe ich keine Wolke mehr gesehen. Die kalifornischen Sommer sind unerbittlich. Seit vier Stunden fahre ich auf Sicht von einer Fata Morgana zur nächsten.
Der Ford hat keine Klimaanlage, nur ein Lüftungssystem. So wird die heiße Innenluft durch heiße Außenluft ausgetauscht. Ich rieche meinen eigenen Schweiß. Meine Kleidung ist klitschnass und klebrig. Aus der Nähe betrachtet, bin ich eine Ausgeburt der Hässlichkeit.
Es ist die Eitelkeit in mir, die sich darüber Gedanken macht, ob ich hässlich bin oder feige, ob jemand dieses Tagebuch finden und lesen wird, ob jemandem mein Verschwinden auffällt. Und wenn man das Tagebuch findet, wird man dann auch meine Leiche finden? Werde ich dann doch noch ein Grab mit einem Kreuz und meinem Namen darauf bekommen? Würde es mich nicht sogar ein wenig beruhigen, wenn das geschähe? Angst macht mir der Gedanke jedenfalls nicht und das ärgert mich ein wenig, weil es mich zu einer Heuchlerin macht.
Man muss sich seine letzte Ruhestätte erarbeiten. Der Grabstein ist das ultimative Statussymbol. Er zeigt an, was die anderen von einem gehalten haben. Bin ich eine Fremde, ein trauriges Schicksal, eine missverstandene Verzweifelte, ein verantwortungsloser Drückeberger, Fahnenflüchtige, Selbstmörderin, schlechtes Vorbild, Opfer widriger Umstände, ein Produkt dieser Gesellschaft, krank, schuldig?
Der Tod sollte eine Inszenierung sein, kein plötzlicher, unerwarteter Schlag. Eine feige und eitle Person wie ich plant ihren Tod mehr als ihr Leben. Ich habe eine Kulisse und ich habe eine Geschichte, ich habe ein Gesicht und ich habe genug Spirituosen für ein Spektakel.
Ich habe es so satt, Bücher darüber zu lesen, wie Menschen sich auf eine Selbstfindungsreise begeben und am Ende nichts an ihrem Leben geändert haben, außer dass sie es jetzt „in all seinen Facetten" akzeptieren. Aber das ist das Merkmal von Odysseen: Man kommt schließlich genau dort an, wo man gestartet ist. Genau genommen sind sie also völlige Zeitverschwendung. Und völlig irrational.
Wieso wühlt man sich einmal quer durch die historischen Archive der Union, bis man herausgefunden hat, dass irgendein entfernter Urgroßonkel mal ein hohes Tier in der Armee der Konföderation war, wenn man sich danach nicht sein Leben lang schämen will? Wieso geht es immer nur um die Aufarbeitung der eigenen Befindlichkeiten und nicht um die der Wahrheit?
Die schwülstigste Bekenntnislyrik trägt nichts dazu bei, die Welt zu verbessern. Verständnis hilft nicht, etwas zu verändern. Es geht immer nur darum, sich wohl zu fühlen, sich selbst zu bestätigen, selbst keine Schuld zu tragen. Es geht darum, die Vergangenheit ruhen zu lassen, nicht sie tatsächlich zu betrachten, zu sehen wie sie bis heute nachwirkt, unsere Leben und unsere Entscheidungen beeinflusst. Es geht nicht darum zu verstehen, wie wir geworden sind, was wir sind, sondern nur darum, uns zu bestätigen, dass wir alles richtig gemacht haben und gar nicht hätten anders handeln können.
Oh, natürlich sind wir betroffen, aber man kann die Vergangenheit nicht ändern, nicht wahr?
Ich habe es satt, wie Leute sich selbst beweihräuchern, weil sie vermeintlich nicht davor zurückschrecken, auch Unangenehmes zu betrachten. Schwierige Themen sind nichts weiter als Selbstprofilierung. Kontroverse Diskussionen sagen mehr über die Diskutanten als über das eigentliche Thema.
Wenn sie konsequent wären, wenn sie alle wirklich und aufrichtig konsequent wären, würden sie erkennen, dass sie mehr Verheerungen anrichten, als sie Gutes tun. Wir alle sind Schädlinge und wer nur ein bisschen Pflichtgefühl aufweist, der sollte den Weg des Achilleus wählen und unter möglichst idiotischen Umständen das Zeitliche segnen.
Ich sage das nicht, weil ich mich an Stelle irgendeines vergessenen Urgroßonkels schuldig fühle – oder so tue, um ein gutes Gewissen zu beweisen, sondern weil dieser vergessene Urgroßonkel nicht tot ist und wir trotzdem so tun, als wären wir heute klüger als jemals zuvor, als hätten wir aus der Geschichte gelernt und als könnten uns all diese Dinge heute nichts mehr anhaben. Was damals politisch war, ist heute privat. Man arbeitet Familiengeschichten auf, sieht sich aber nicht um in der Gesellschaft, in der man gerade jetzt, in diesem Augenblick lebt. Nichts ist jemals abgeschlossen, nichts ist jemals vorbei. Wenn ich heute auf eine Ameise trete, habe ich damit vielleicht in einer Millionen Jahren die Erde zerstört.
Es wird Zeit für einen Drink. Es wird Zeit, Verantwortung zu übernehmen und nichts mehr zu berühren, keine Weichen mehr zu verstellen, keine Zahnräder mehr in Bewegung zu setzen. Wer unschuldig sein will, der muss aufhören zu atmen.
Am Horizont erkenne ich die Ruinen der Siedlung, die einmal Solace – Trost – geheißen hat. Sie heben sich ab als schwarze Schatten ganz knapp über der Horizontlinie. Der Wagen hat gemerkt, dass er hier seinen letzten Kampf ausfechten muss und er hält sich gut. Er ist ein richtiger Achilleus...
Wenn ich mich fest konzentriere, kann ich den Rauch der brennenden Stadt noch riechen. Diese Gegend hier existiert in einer Blase, in der die Zeit langsamer vergeht. Ich höre die verzweifelten Bewohner schreien, als sie auf die Straßen rennen. Es gibt längst keine Feuerwehr mehr. Es wird eine Eimerkette organisiert, aber es gibt zu wenig Wasser. Einige gehen mit Decken gegen Brandnester vor. Die Kinder weinen. So hört und fühlt sich Hilflosigkeit an. Aber keine Sorge, dies ist ein Ort des Trostes.
So zumindest verheißt es das schiefe Holzschild, das mich begrüßt, als ich in die Ruinenstadt hineinfahre. „SOLACE" und irgendein Scherzkeks hat mit Kreide darunter gekrakelt: „We will eat your soul!"
Sollen Sie, denke ich und halte vor dem ersten Haus der Stadt, einer kleinen, baufälligen Hütte, in der – wie ich mir vorstelle – einst ein unglücklicher Junggeselle lebte, der niemals eine Frau abbekam, weil seine Behausung selbst für ein Leben hier draußen schäbig war.
Er ist vermutlich nicht alt geworden, denke ich, und weil er allein lebte, hat man seine Leiche erst entdeckt, als sie schon durch die Ritzen des Hauses und die Löcher im Dach zu riechen begonnen hatte. Und dann haben sie ihn beerdigt – ohne Grabstein. Genau hier. Hier, wo ich gerade stehe.
Die Abendluft hat die unerträgliche Hitze davon geweht und es kündigt sich eine laue, vielleicht sogar eine kühle, Sommernacht an. Ich nehme mir die erste Flasche Wodka. Der ist sogar im Heimatland des industriell hergestellten Whiskeys billiger als ein stilvolles Getränk, um sich zu Tode zu saufen. Aber was soll's, Solace, Kalifornien, auf dein Wohl!
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