Mittwoch, 03. Juli
Barbie
Die Mittagshitze beginnt den Wagen aufzuheizen und Justice schleicht immer noch um uns herum. Er hechelt, wir schwitzen. Mercedes und ich halten uns mit Wodka bei Laune. Vincent gibt den Asketen und scheint zu meditieren.
Alkohol aber scheint seine alte Macht, aus Feinden Freunde zu machen – und umgekehrt – nicht eingebüßt zu haben. Mercedes hat zwar nicht aufgehört, mich Schlampe zu nennen, aber sie sagt es jetzt in einem anerkennenderen Tonfall.
„Weißt du, was das hier ist?", lallt sie.
„Was?", frage ich.
„Die Hölle! Siehst du wie sich alles um uns dreht? Das sind die Kreise der Hölle."
„Ach ja? Das heißt, wenn du mich von hier vertreiben willst, ist das zu meinem Besten?"
„Wer weiß? Vielleicht gibt es noch etwas Schlimmeres als das hier? Wer weiß, was du angestellt hast, dass du hier gelandet bist? Sieh nur, wie der Hund dich anknurrt. Der riecht etwas. Ist es Angst oder Schuld? Bist du untreu gewesen oder faul oder unmäßig im Essen und Trinken?"
„Ja", sage ich, „Ich war ein richtiges Schwein! Ich habe alles genau so gemacht, wie man es nicht machen soll."
„War's wenigstens gut?", fragt Mercedes.
„Die Hölle", sage ich, „ist der Himmel dagegen."
„Soll ja Leute geben, die auf Schmerzen stehen."
„Faszinierend, wenn Leute wissen, was sie wollen", sage ich.
„Also ich weiß, was ich will", sagt Mercedes.
„Und was?"
„Meine verdammte Ruhe."
„Darauf stoße ich an!"
„Männer sind die größten Schweine", befindet Mercedes, „Und es tut ihnen nicht mal leid."
„Wenn man es zu was bringen will, muss man ein Schwein sein", sage ich, „Da sind die Kerle deutlich im Vorteil."
„Du sagst es, Schwester! Aber wenn du und ich uns wie die Schweine verhalten, heißt es, wir seien Schlampen. Das ist ungerecht, verstehst du?", sagt Mercedes und ich nicke. Ich habe keine Lust, sie auf ihre eigenen Widersprüche festzunageln.
„Aber eigentlich sind Männer auch nur Menschen. Sie mögen glauben, Ambitionen haben zu müssen, aber wer ansetzt, um hoch zu fliegen, darf sich nicht wundern, wenn er auf die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit trifft und auf ein Niveau zurückfällt, für das er zuvor nur Verachtung übrig hatte", sagt sie weiter.
„Und sie geben uns die Schuld für ihr Versagen. Die Männer, meine ich", sage ich, „Sie hassen uns Frauen, weil sie es nichts übers Herz bringen, sich selbst zu hassen und wir hassen uns, weil wir es nichts übers Herz bringen, sie zu hassen."
„Ich bin diplomatisch", meint Mercedes, „Ich hasse einfach alles und jeden."
„Gute Einstellung", finde ich.
„Ich finde, diese Unterhaltung geht langsam in eine Richtung, die man als Irrweg bezeichnen könnte", sagt Vincent.
„Ach bist du auch noch da?", kichert Mercedes, „Keine Sorge, Anwesende sind immer ausgeschlossen von den Verallgemeinerungen."
„Es gibt drei Arten von Menschen", sage ich, „Die einen behaupten, das Leben zu verstehen und tun es nicht Die sind gefährlich, weil sie dazu neigen, Führungspositionen für sich zu beanspruchen. Die nächsten verstehen das Leben nicht und verzweifeln daran. Die sind verloren. Und die letzten glauben, das Leben nicht zu verstehen und haben damit mehr verstanden als alle anderen, auch wenn sie sich über diejenigen wundern, die ihr Scheitern bedauern, daran verzweifeln oder es vertuschen."
„Okay, du hattest eindeutig genug von dem Zeug", sagt Mercedes und reißt mir die Wodka-Flasche aus der Hand.
„Nein, das meine ich ernst. Man sollte Leuten, die selbstsicher auftreten, grundsätzlich misstrauen und Leute, die verzweifeln, bringen einen nicht weiter. Das einzig Sinnvolle, was man tun kann, ist, sich zu wundern und niemals damit aufhören. Immer wenn man glaubt, etwas verstanden zu haben, kann man sich sicher sein, dass man etwas missverstanden hat."
„Ist da Resignation oder Gnade in deinen Worten?", fragt Vincent.
„Ein Realist muss in seine Worte keine Emotionen legen", erwidere ich.
„Aber du bist keine Realistin. Niemand ist das. Wir sind alle Opfer unserer Hoffnungen und Ängste", sagt Vincent, „Selbst die Aufgeklärtesten unter uns, wir alle, suchen nach Zeichen und Omen. Es ist die Natur des Menschen. Die Schicksalsgläubigkeit ist in unseren Genen eingebrannt. Zufälle sind zu profan. Alles muss eine Bedeutung haben. Alles muss zusammenhängen."
„Wie der Pinguin und ich", werfe ich ein und wie auf Knopfdruck beginnt Mercedes, zu prusten. Wir sind jetzt Verbündete. Also erzähle ich die Geschichte: „Als ich in die Vorschule kam und mir ein Haken für meinen Turnbeutel zugewiesen wurde, bekam ich statt eines Namensschildes oder einer Nummer, die ich noch nicht hätte lesen können, das Symbolbild eines Pinguins zugeteilt und seit dem frage ich mich, was das wohl zu bedeuten hat. Was habe ich mit dem Pinguin gemeinsam? Ist der Pinguin mein Spirit-Animal, mein tierischer Schutzengel? Bin ich in einem früheren Leben ein Pinguin gewesen? Oder werde ich als solcher widergeboren werden? Diese Fragen beschäftigen mich schon fast mein ganzes Leben lang."
„Im Ernst?", ruft Mercedes dazwischen, „Das beschäftigt dich? Du denkst dein ganzes Leben über so etwas nach? Kein Wunder, dass du hier gelandet bist. Muss ja schrecklich aufregend gewesen sein, dein Leben..."
„Ich mag nicht mal Fisch und fühle mich bei Kälte nicht wohl", erzähle ich unbeirrt weiter, „Ich glaube, es gibt kein Tier, das ich mehr hasse, als den Pinguin."
Und das ist das höchste Maß an Aufgeklärtheit und Rebellion gegen das Schicksal, zu dem ich fähig bin.
„Ach, scheiß auf den Pinguin", sagt Mercedes, „Es gibt kein Tier, das ich mehr hasse als diesen Köter da draußen!"
„Auch er hat eine Seele und Empfindungen", sagt Vincent.
„Ja, die Empfindung, dass er uns die Kehlen aufreißen muss für sein Seelenheil."
Nach einer Weile, als ich wieder etwas nüchterner bin, sage ich zu Mercedes: „Dass sie uns Schlampen nennen, ist schmutzige Kriegsführung. Sie reden uns ein schlechtes Gewissen ein und wir merken es nicht einmal."
„Wer?", fragt sie.
„Na, alle. Die Männer. Die Frauen, die den Männern gefallen wollen. Die Männer sehen uns als Gefahr und die anderen Frauen als Konkurrentinnen. Das führt zu einem Klima des Misstrauens und wir nennen uns eher gegenseitig „Schlampe", als uns zu solidarisieren."
„Und jetzt?", fragt Mercedes, „Willst du dich mit mir gegen Vince verbünden? Vergiss das mal ganz schnell. Ich spiele nicht die Fürsprecherin für dich, nur weil wir hier zusammen festsitzen."
Und so geht der magische Moment dahin. Wir schweigen und ich spüre, dass Mercedes wie ich sich Gedanken darüber macht, ob wir uns nicht zu sehr verbrüdert – verschwestert – haben. Konnten wir einander trauen? Welchen Grund sollten wir dafür haben? Welche Vorteile konnten wir dadurch erreichen?
Wir starren eine Weile nach draußen in die Ferne. Die Wüste scheint in ihrer Unendlichkeit trostlos und in ihrer Trostlosigkeit unendlich. Wie kann hier überhaupt etwas überleben, frage ich mich. Hier liegt alles brach. Die Gedanken, die Zeit, die Seele. Gefundenes Fressen.
„Wir werden deine Seele fressen", das steht auf dem Schild vor der Stadt. Wie die Kojoten stürzen sie sich darauf.
Ich nutze die Zeit, eine Liste von Dingen zu erstellen, die einem die Seele auffressen, wenn man nicht aufpasst:
1. Schuld
2. Feigheit
3. Käuflichkeit
4. Heuchelei
5. Gleichgültigkeit
6. Grausamkeit
7. Gier
8. Macht
9. Hass
Ich hake die Nummern Eins, Zwei, Drei, Sechs, Sieben und Neun vor meinem geistigen Auge ab. Genug für einen Ausflug in die ewige Verdammnis, schätze ich.
Wie es sich wohl anfühlt, frage ich mich, ein Leben ohne Seele. Taub? Bewusstlos? Gleichgültig? Habe ich sie jetzt in diesem Moment noch, meine Seele? Wer wird sie fressen? Der Hund? Wie schmeckt sie? Und dann? Welches Schicksal könnte schlimmer sein, als mit Leib und Seele verdammt zu sein? Nur mit dem Leib verdammt zu sein, erscheint mir dagegen fast wie ein Wellnessurlaub. Und wenn es hart auf hart kommt, kann man so einen Leib recht einfach loswerden. Womit versuchen sie mir Angst zu machen? Was ist so eine Seele eigentlich wert? Wofür ist sie gut? Steht sie einem nicht eher im Weg? In etwa so wie die Jungfräulichkeit, die eher ein theoretisches, kulturelles Konzept ist, aber trotzdem beschützt werden muss, auch wenn sie keinen Sinn erfüllt und absolut nichts aussagt? Wieso ist den Menschen der Glaube an übernatürliche Konzepte und Interpretationen so wichtig, dass sie ihr Leben danach ausrichten und Entscheidungen damit begründen?
Von mir aus sollen sie meine Seele haben. Meine Weisheit, meine Libido, mein Selbstwertgefühl und meinen Schmerz können sie gratis dazu bekommen, wenn sie wollen. Ist am Ende sowieso alles eine Sauce.
Manchmal gelingt es mir, etwas zu sehen, ohne es wahrzunehmen. Ich kann mit offenen Augen schlafen und deshalb erschrecke ich fürchterlich, als plötzlich eine sehr dicke, sehr wütende Frau vor dem Auto steht und den Hund mit einem Teppichklopfer auf Distanz zu halten versucht. Ich habe keine Ahnung, wo sie hergekommen ist und ich bin mir sicher, dass ich sie noch nie zuvor in meinem Leben gesehen habe. Sie ist so real wie dieser Augenblick.
„Was macht ihr hier? Versteckt euch in einem schrottreifen Geländewagen und sauft! Das gefällt euch wohl so!"
Wenn sie die Mutter von irgendwem ist, kann man diesen jemand nur bedauern. Ich kurbele die Fensterscheibe herunter und sage: „Guten Tag."
„Und du bist?", fragt sie.
„Liz."
„Dann bist du also die stinkende Weiße, die Mercy erwähnt hat. Was willst du hier?"
„Nichts mehr", sage ich, „Ich habe schon verstanden, dass ich nicht willkommen bin."
„Aber das ist doch nicht wahr", wirft Vincent ein.
„Ja, den Kerlen passt es natürlich gut, wenn eine neues Weibchen in die Gruppe kommt", die Frau spuckt vor uns auf den Boden.
„Das ist Bar", erklärt Mercedes, „Sie verbringt hier ihren Ruhestand und Lebensabend."
„So alt sieht sie gar nicht aus", flüstere ich ihr zu.
„In ihrer Branche altert man schneller."
„Oh", ich frage nicht weiter.
„Was ist? Was starrst du so, Mädel? Hab ich irgendwas an mir? Ekelst du dich vor mir? Bist ein bisschen etepetete, was?"
„Nein, entschuldige. Es ist nur..."
„Wieso bist du hergekommen. Das hier ist kein Ort, durch den man einfach durchfahren kann. Das hier ist eine Endstation. Von hier kommt niemand mehr weg, hörst du? Es gibt kein Zurück. Wer einmal hier ist, hat alles aufgegeben. Du siehst nicht aus, als hättest du kein Geld und keine Perspektive, Schätzchen, als was ist dein Problem? Wirst du verfolgt? Sind dir die Cops auf der Spur? Gott steh dir bei, wenn du die Cops hergeführt hast!"
„Ehrlich gesagt, hört sich Endstation genau danach an, wonach ich suche", sage ich, „Ich würde einfach gerne irgendwo ankommen, nicht mehr ständig in Bewegung sein, nicht mehr ständig suchen", sage ich.
„Suchen? Wonach lohnt es sich schon zu suchen?"
„Glück?"
Sie verpasst Justice einen Schlag auf die Schnauze, als er sich ihr wieder zu nähern versucht: „Wenn du danach suchst, ist es kein Wunder, dass du nicht zur Ruhe kommst."
„Was gibt es stattdessen?", frage ich.
Bar verweist mit einer umfassenden Bewegung auf die Wüste um uns her: „Das hier und unser Solace."
Der Trost in der Wüste. Irgendwie trügerisch, finde ich. Fast wie eine Fata-Morgana.
„Also, wenn ich du wäre, Schätzchen, würde ich davon laufen, nicht auf etwas zu, von dem du nicht weißt, ob es eine Falle ist", sagt Bar.
„Ist das hier denn eine Falle?", frage ich.
„Was glaubst du? Dass wir hier leben, weil das Klima uns so gut gefällt? Etwas zu suchen, bedeutet immer Enttäuschung, aber vor etwas fliehen, bedeutet ein Erfolgserlebnis mit jedem Schritt, bei dem du nicht erwischt wirst."
„Sie hält sich für weise", kommentiert Mercedes, „Aber selber hat sie es nie geschafft, etwas zu widerstehen. Sieht man ja."
Der Teppichklopfer klatscht auf die Windschutzscheibe: „Komm du mir da raus, Mercy. Willst du eine damit hinter die Ohren? Ich hab schon ganz andere Leute verprügelt. Solche vorlauten Gören wie dich verspeise ich zum Frühstück! Mein Leben ist vielleicht vorbei, aber du wirst noch viele, viele Jahre diesen Sand hier fressen."
„Wo ist Frank?", fragt Mercedes, ohne auf Bars Drohungen einzugehen.
„Weiß der Teufel. Was hängst du eigentlich so an ihm? Glaubst du, wir können ohne ihn keine Entscheidungen treffen? Hast du Angst allein? Ohne deine Pistole? Mercy, du enttäuschst mich!"
„Wenn Frank nicht entscheidet, wer soll es stattdessen tun? Vincent hier? Der spielt sich schon viel zu sehr auf mit seinem Gutmenschengetue. Hält sich für achso heilig."
„Und du hältst dich für achso tough", wirft Vincent ein.
„Worüber wollt ihr überhaupt ständig entscheiden?", frage ich, „Ich habe doch gar nicht vor, zu bleiben. Und außerdem finde ich es ziemlich respektlos, wenn man mir keine Stimme bei dieser Sache zugesteht."
„Hast du denn eine Stimme verdient? Oder hast du sie nicht längst verwirkt?", fragt Bar, „Du kommst her und stellst sofort Ansprüche. Du gefällst mir, Missy."
„Ich habe gelernt, dass, wer keine Ansprüche stellt, keine Zugeständnisse bekommt", erkläre ich.
„Und ich habe gelernt, dass, wer Ansprüche stellt, vor allem enttäuscht wird", erwidert Bar, „Mach dich davon und nicht von anderen abhängig. Das ist mein Rat an dich."
Ich mag Bar, auch wenn sie überheblich mit mir redet und mich vermutlich verachtet.
Tugenden, sind Dinge, die man Kindern beizubringen versucht, damit man weniger Arbeit mit ihnen hat. Im Zentrum meiner Erziehung stand dabei einerseits die Bescheidenheit und andererseits die Beständigkeit. Wer schätzt schon ein anmaßendes, flatterhaftes Mädchen? Und was wurde aus solchen?
Bescheidenheit bedeutet die eigenen Bedürfnisse hinten anzustellen und Beständigkeit, das Leid zu ertragen, wenn man seine Bedürfnisse abgeschrieben hat. Ich bin nicht sehr leidensfähig, wie es scheint und fügte so einem Jungen namens Walter Leid zu, das er vermutlich nicht verdient hatte.
Es war das erste Mal, dass ich erkannte, dass unterschiedliche Maßstäbe für Mädchen und Jungen angelegt wurden und weibliche Tugenden sich signifikant von männlichen unterschieden. Statt bescheiden, sollten die Jungen hartnäckig sein und statt beständig ehrgeizig. Aggression wurde ihnen eher nachgesehen und Feigheit nicht als Vorsicht belohnt, sondern als Schwäche gebrandmarkt. Während wir leise sein und Harmonie verbreiten sollten, sollten Jungen eine klare Rangordnung unter sich ausmachen, die zwar unausgesprochen blieb, die aber immer irgendwie in der Luft lag.
So kommt es auch, dass Leid unterschiedlich bewertet wird. Ein Mädchen hat Zurückweisung mit Würde und Verständnis hinzunehmen, ein Junge muss dagegen nicht damit umzugehen wissen. Er hat das Recht, Zurückweisung zurückzuweisen.
Es ist nicht so, dass dieses Verhalten naturgegeben ist, es wird uns anerzogen. Ich weiß, dass es so ist, denn von Natur aus ertrage ich Zurückweisung nur sehr schlecht, erwarte aber Akzeptanz für meine Entscheidungen. Zumindest weiß ich es heute, da ich die ungeschriebenen Regeln der Gesellschaft durchblickt und für mich abgelehnt habe.
Anders verhielt es sich damals, als Walter und ich an diese unsichtbaren Verhaltensrichtlinien vorstießen.
Es war eine recht einfache Geschichte. Er war in mich verliebt, ich war in ihn verliebt. Dann merkte ich, dass ich doch nicht mehr in ihn verliebt war, aber er teilte diese Meinung nicht.
Ich weiß nicht, wieso diese Dinge immer so eine bedeutende Rolle in den Biographien von Frauen spielen. Die Lebensgeschichte einer Frau scheint die Geschichte ihrer Männer zu sein, während die Lebensgeschichte eines Mannes, seine Lebensgeschichte ist. Niemand kommt auf die Idee, bei einem bedeutenden Mann, erstmal alle seine Affären aufzuzählen, während es bei einer Frau schon fast erstaunlich ist, wenn neben ihren Männern noch irgendwas Erwähnenswertes passiert ist. Liebeskummer ist angemessen für Frauen, Männer hingegen belächelt man dafür. Wer seine Freundin nicht halten kann, ist ein Schwächling. Wer verlassen wird, bringt es einfach nicht. Es ist peinlich, nicht schmerzhaft für ihn.
Die Frau ist auf den Mann angewiesen, der Mann kann sich auf sich selbst verlassen. Also ist es ungehörig und undankbar, wenn die Frau ihn verlässt. Ich weiß nicht, in wie fern Walter sich dieser Strukturen bewusst war, aber er ertrug es nicht, dass ich ihn verließ. Er wollte mich nicht, ich wollte ihn nicht, aber er wollte, dass ich ihn wollte, um sich geschmeichelt zu fühlen und sich dann darüber beschweren zu können, wie schwierig es wäre, mich loszuwerden.
Die Lebensgeschichte einer Frau ist die Geschichte, wie sie sich von lästigen Verehrern befreit. Die Pflanze unserer Persönlichkeit wächst in der Asche und dem Staub unserer Beziehungen.
Was Walt nicht verstand, war, dass die Asche einer Beziehung nicht die Asche einer Person war. Er fühlte sich eher beleidigt als verletzt, gedemütigt und lächerlich gemacht. Seine Eitelkeit galt – im Gegensatz zu meiner – nicht als Charakterfehler, sondern als Resultat eines gesunden Selbstvertrauens und so begann er, mich zu terrorisieren mit Briefen und Telefonaten. Meiner Mutter erzählte er, wie eiskalt ich ihn abserviert hätte, meinem Vater machte er Vorwürfe, weil ich kein schlechtes Gewissen hatte. Er beteuerte, wie sehr er mich hasste, wie sehr er mich nicht vermisste und wie sehr ich es bedauern würde, ihn in den Wind geschossen zu haben. Er klingelte nachts an meiner Haustür und warf einen Stein durch unser Kellerfenster, um in unsere Waschküche einzubrechen. Dort stahl er meine Unterwäsche und gab sie nie zurück.
Seinen Freunden riet er, dass sie besser nichts mit mir anfangen sollten, da ich ein Flittchen sei. In der Stadt ging daraufhin kurzzeitig das Gerücht herum, ich hätte meinen Körper für Geld verkauft, woraufhin meine Mutter einschritt und die Sache schließlich ein für alle Mal klarstellte, indem sie mir Hausarrest erteilte, bis die Wogen sich geglättet hatten.
Als ich Walt schließlich zur Rede stellte und versuchte, ihm zu erklären, dass er einfach nicht der Richtige für mich sei, sagte er: „Du rammst mir einen Pfahl ins Herz. Du bist schuld, wenn ich eines Tages durchdrehe!"
Ich hatte Visionen von Blutbädern und Hinterhalten, von denen aus er mir auflauerte. Ich schlief nicht mehr, weil ich fürchtete, er könnte durchs Fenster in mein Zimmer einsteigen. Aber vor allem fürchtete ich, zur Rechenschaft gezogen zu werden, wenn Walt tatsächlich durchdrehte. Würde es nicht heißen, dass er aus unerwiderter Liebe gehandelt hätte? Er, der Liebende, ich, die Abblockende. Sie würden es ein Drama nennen, als wäre es unvermeidlich gewesen, nicht eine Gewalttat, ein Verbrechen oder Hass. Sie würden es romantisieren, weil die Emotionen eines Mannes involviert waren. Die Emotionen einer Frau taugen allerhöchstens, um sich darüber lustig zu machen.
Also wurde ich kalt.
Und ich akzeptierte, dass ich Männer dazu bringen konnte, durchzudrehen, dass ich die Macht besaß, die in den Wahnsinn zu treiben, dass ich sie verletzte durch meine pure Existenz. Ich ließ mich hassen, weil es das ist, wofür Frauen offensichtlich geboren werden. Sie sind die Sündenböcke der Gesellschaft, die Strippenzieher im Hintergrund, diejenigen, die der männlichen Rationalität im Weg stehen. Wir verhindern das Utopia und die Männer machen uns für ihre Unfähigkeit verantwortlich.
Ich schämte mich meiner, obwohl ich nicht wusste, was ich falsch gemacht hatte, was ich wie hätte anders machen können. Was wurde von mir erwartet? Bescheidenheit und Beständigkeit, aber auch Anstand und Ehrlichkeit. Die universellen Tugenden. Empathie und Selbstlosigkeit. Die falschen Freunde.
Konnte es sein, dass ich brutal, böse und ungerecht gehandelt hatte? Habe ich ihn wirklich abservieren müssen? Habe ich etwas Falsches gesagt? Hätte ich zu seinen Gunsten zurückstecken müssen? Hatte er es nicht doch verdient, mit mir zusammen zu sein, wenn er das wollte?
Dabei war Walt ein eher unscheinbarer Typ und deswegen sicher frustriert. Allerdings hätte man ihm vermutlich keinen solchen Terror zugetraut, wie er ihn mir zumutete. Und allein das war ein Kriterium, mir zu misstrauen. Er war ein guter Junge, kämpfte für die Liebe, schenkte mir Aufmerksamkeit, während ich sie undankbar ignorierte.
Ich weiß nicht, was Walt heute tut, wo er ist und was das Leben für ihn bereit gehalten hat. Ich weiß nicht, ob sein Ego immer noch angekratzt ist, ob er mich vergessen hat oder ob er mir immer noch grollt. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich ihm noch böse sein soll. Bin ich es je gewesen? Wäre er nicht so penetrant gewesen, hätte ich ihn längst vergessen. Immerhin darin hatte er Erfolg...
Wahrscheinlich hält er sein damaliges Verhalten heute für kindisch, nicht aber für falsch. Typen wie er, halten sich im Nachhinein nicht für schuldig, sondern für naiv. Nur Frauen wie ich, geben sich mit der Erklärung „Naivität" nicht ab und fragen fortwährend, ob sie nicht vielleicht doch ein bisschen schuld gewesen sind und die Walters dieser Welt nehmen diese Unsicherheit dankbar an, um ihr eigenes Gewissen rein zu halten. So ein ganz kleines bisschen, hält Walter sich bestimmt immer noch für ein Opfer. Ein bisschen Hass ist das immer noch. Seine Ansprüche haben sich nicht geändert, er hält sich heute nur für großzüger, milder oder wählerischer. Wahrscheinlich meint er sogar, eine Frau müsste ihm dankbar sein, wenn er sie nicht belästigt, obwohl er es könnte und wenn er sie belästigt, müsste sie ihm erst recht die Füße küssen, denn wer sonst soll sie beachten?
Walter, wo immer du bist, ich trinke auf dein Wohl und darauf, dass dir deine Erbärmlichkeit irgendwann bewusst wird und du dich bis ans Ende deiner Tage für dein vertanes Leben schämst!
Bar sagt: „Ihr kennt diese Romane, in denen diese Typen selbstmitleidig von ihren Lebenskrisen erzählen, die sie vergeblich zu bewältigen versuchen, indem sie mit jeder Menge zweifelhafter Dirnen schlafen? Ihr seid jede einzelne dieser Frauen. Ihr seid seine Erkenntnis, dass jedermann in dieser Welt völlig allein um auf sich gestellt ist, dass niemand ernsthaft an seinen Problemen interessiert ist, niemand ihm je helfen wird und niemand überhaupt auch nur versucht, ihn zu verstehen. Ihr seid die Teilnahmslosigkeit, die Gleichgültigkeit, die Kälte, die ihm entgegen schlägt. Ihr seid die äußere Leere, die seine innere Leere nicht füllen kann und die ihm zeigt, dass er nicht besser, anders oder besonders ist, sondern auch nur die Hure für irgendwen anders, der ebenso versucht, mit seinem Leben klarzukommen."
„Wir werden gehasst, weil wir ihnen die Augen öffnen?", frage ich.
„Niemand mag es, aufzuwachen, wenn er gerade schön geträumt hat", sagt Bar.
„Aber ist es dann nicht ein Zeichen von Hilflosigkeit, wenn sie die Schuld bei anderen suchen, statt nach Wegen hinaus aus der Situation zu suchen?"
„Natürlich, aber willst du jemanden für seine Hilflosigkeit verurteilen? Da kannst du auch einem Beinamputierten vorwerfen, dass er nicht laufen kann", sagt Bar.
„Sie hat keine große Meinung von Männern", erklärt Mercedes.
„Alles Schwächlinge", sagt Bar, „Anwesende ausgenommen."
Vincent winkt ab: „Kein Einspruch."
„Alle Romane lügen", sage ich, „Dickens zum Beispiel belügt uns mit seinen Geschichten darüber, wie jemand, der ein furchtbares Leben führt, zu einer Erkenntnis kommt und daraufhin augenblicklich zu einem besseren Menschen wird. Ich hatte in meinem Leben, glaube ich, nur eine einzige Erkenntnis und das war im Alter von fünf Jahren. Dass es eine Erkenntnis von lebensbestimmendem Ausmaß war, verstand ich aber erst viel später. Dass es vielleicht sogar eine universelle Wahrheit, ein Rezept für ein gutes und erfülltes Leben ist, darüber konnte ich bisher noch nicht nachdenken."
„Na, dann klär und mal auf, Liz", sagt Mercedes, „Was ist deine universelle Erkenntnis?"
„Also: Ich war fünf Jahre alt und stellte mir vor, der Fernsehsessel meiner Mutter sei ein Raumschiff. Aber bevor ich loslegen und Abenteuer im Weltall erleben konnte, musste ich erst Vorräte und Gepäck aufladen und so verbrachte ich den ganzen Tag damit, Krimskrams auf mein Raumschiff zu laden, den ich nicht vermissen wollte, wenn ich erstmal da oben sein würde. Bis ich einigermaßen zufrieden mit einem Hausstand war, war die Sonne untergangen und ich musste ins Bett. Ich hatte kein einziges Abenteuer erlebt aus Angst, etwas zurück zu lassen, aus Gier, aus Furcht, etwas zu vergessen. Heute sitze ich in einem Auto auf einer verdorrten Wiese, um mich herum verfällt eine ganze Stadt. Ich starre in den strahlend blauen Himmel und... ja um ehrlich zu sein, könnte ich gerade nicht glücklicher sein. Ich besitze nichts, ich kann nichts vergessen oder verlieren. Ich muss mich von nichts trennen. Alles wird irgendwann so enden, wie dieser Ort. Es ist unausweichlich und es ist überhaupt nicht schlimm. Die Welt verkraftet den Tod. In der Welt gibt es keine Verluste nur Umwandlung. Diese Erkenntnis brauchte Jahre, um in mir zu reifen, um mich dazu zu bringen, zuzugeben, dass ich einen Teil meines Lebens vergeudet habe. Es ist nicht so leicht, wie in einem Dickens-Roman. Es tut weh, es kostet Überwindung, Kraft und harte Verhandlungen mit sich selbst. Erkenntnisse sind harte Arbeit. Sie fallen nicht vom Himmel, egal wie blau, strahlend, klar und wahrhaftig er ist."
„Halten wir also fest, dass Loslassen uns allen guttut", sagt Mercedes, „Aber Männer ertragen das nicht, weil sie fürchten, nichts mehr zu haben und nichts mehr zu sein, wenn sie nicht fortwährend nach irgendwas grapschen, das anderen gehört."
„Sie definieren sich nur über das, was sie sich aneignen", bestätigt Bar.
„Und worüber definieren sich Frauen?", fragt Vincent.
„Gar nicht", sage ich schnell, „Ich muss mich nicht zwanghaft definieren, von anderen abgrenzen oder mich in eine Gruppe einordnen."
„Man kann auch wachsen, ohne jemand anderem etwas wegzunehmen", sagt Bar.
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