Mittwoch, 03. Juli


Justice


Ich fürchte mich vor nichts und niemandem. Soll dieser Frank doch kommen. Was wäre das Schlimmste, das er mir antun kann? Ich bin nicht hier, um ihn um Asyl anzubetteln. Ich bin auf niemanden hier angewiesen. Ich kann hier sterben oder woanders hingehen und dort sterben. Frank hat keine Macht über mich. Er bestimmt nicht über mein Schicksal.

Ich nehme einen Schluck Wodka, um mir damit den Mund auszuspülen, aber ich spucke ihn nicht aus, sondern schlucke ihn hinunter.

„Glaubst du, es interessiert mich, was irgendjemand hier über mich denkt oder zu mir sagt?", frage ich Vincent.

„Glaubst du, irgendjemand hier interessiert sich dafür, was du denkst oder sagst?", gibt er zurück.

„Hmm. Also ist deine Höflichkeit nur aufgesetzt."

„Oder dein abweisendes Verhalten ist es."

Ich habe keine Lust, mit ihm zu diskutieren. Es geht ihn gar nichts an, warum ich hier bin.

„Was suchst du hier wirklich?", fragt Vincent.

Ich zucke mit den Schultern.

„Wenn wir nicht wissen, was du brauchst, können wir dir nicht helfen."

„Ich brauche nichts", sage ich, „und ich suche nichts."

„Du brauchst Hilfe", sagt Vincent, „Aber wie soll die aussehen? Dies kann ein Ort der Strafe sein, aber auch ein Ort des Trostes, ein Ort der Gnade, ein Ort der Vergebung und ein Ort der Gerechtigkeit."

„Ich suche einen Ort der Ruhe", sage ich, „Ich will mich weder erklären, noch rechtfertigen müssen. Ich will einfach, dass alle akzeptieren. Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Worte können nicht ungesagt und Taten nicht rückgängig gemacht werden."

„Aber können sie totgeschwiegen werden?"

„Traust du mir nicht zu, dass ich mich selbst damit auseinandersetze? Was ist das mit dir, Vincent? Pathologische Neugier oder ein Helfersyndrom?"

„Verantwortungsbewusstsein", sagt Vincent.

„Du musst dich nicht für mich verantwortlich fühlen", sage ich.

„Wenn du dich nicht für dich verantwortlich fühlst, wer soll es sonst tun?"

„Du unterstellst mir Dinge, die nicht wahr sind", erwidere ich und nehme noch einen Schluck Wodka, „Aber ich vergebe dir, denn dies ist ein Ort der Vergebung." Ich male ein Kreuzzeichen in die Luft.

In diesem Moment kommt Mercedes zu uns zurück gestapft.

„Er war nicht da!", ruft sie uns entgegen, „Nur sein blöder Köter!"

Und ich bemerke, dass sie sich etwas schneller und nervöser bewegt, als es ihre Coolness erlauben sollte. Ich grinse in mich hinein, bis ich bemerke, warum Mercedes sich so beeilt: Hinter ihr trottet ein großer, gefährlich aussehender, schwarzer Hund, der die Zähne fletscht und der Welt und dem Universum ganz generell nichts als ein Knurren entgegen bringt.

„Vincent, Herrgott, mach, dass dieses Vieh verschwindet!", ruft Mercedes uns entgegen, „Alfred will mir keine Kugeln besorgen, aber dieses Scheißköter rennt hier einfach frei herum mit seinen Zähnen und Klauen und wahrscheinlich ist er auch noch tollwütig oder sowas! Los verschwinde!"

Aber der Hund verschwindet nicht, er läuft hinter ihr her wie ein bedrohlicher Schatten. Bei meinem Wagen angekommen bleibt er stehen und beschnüffelt erst Vincent, dann die Reifen des Ford und dann mich. Er schaut auf, blickt mich vorwurfsvoll an und knurrt.

„Frank hat ihn Justice genannt. Er ist eines Tages hier aufgetaucht", sagt Vincent.

„Nicht mal dieses Höllenvieh konnte er wegschickten!", beschwert sich Mercedes, „Frank ist ein richtiger Schlappschwanz."

„Sie hat Angst vor Hunden", erklärt Vincent.

„Sie hat keine Angst, sie hält es für unnötig, dass wir hier Hunde halten. Sieh ihn an, er ist unberechenbar. Und er hört auf niemanden. Und er läuft frei herum. Wie soll man sich in dieser Stadt sicher fühlen, wenn an jeder Ecke diese Bestie auf einen lauern kann? Wenn ich nur eine Kugel hätte, dann würde das Mistvieh längt über einem Lagerfeuer garen, das könnt ihr mir glauben!", sagt Mercedes.

„Um ehrlich zu sein, fühle ich mich auch nicht recht wohl mit ihm", gestehe ich, „Könnte man ihn nicht wenigstens anleinen?"

„Frank ist nicht so sehr fürs Anleinen", sagt Mercedes, „Jedenfalls nicht für unfreiwilliges."

„Aber er ist bissig!", sage ich, „Zum Schutz aller..."

„Vorbeugende Strafe. Hältst du das für gerecht?", fragt Vincent.

„Hältst du es für gerecht, alle Leute hier der Gefahr von Bisswunden auszusetzen?"

„Ich bin kein Richter", sagt Vincent.

„Ich ebenfalls nicht, aber ich habe ein persönliches Interesse."

Ich weiche vor Justice zurück und überlege einen Augenblick, zurück ins Auto zu steigen, aber die Blöße gebe ich mir vor Mercedes nicht.

„Ich hab Bar gesagt, sie soll Frank sagen, dass er herkommen soll", sagt Mercedes.

„Und was hat Bar gesagt?", fragt Vincent.

„Irgendwas hat sie gesagt. Wer versteht schon, was die Schlampe so sagt. Hält sich für super schlau wie immer."

„Wer ist Bar?", frage ich.

„Eine ehrenwerte, ältere Dame", sagt Vincent.

„Du bist ein dreckiger Lügner, Vince, und glaubst, dass dich das sympathisch macht. Aber um ehrlich zu sein, finde ich es ein bisschen ekelerregend", sagt Mercedes und an mich gewandt: „Jetzt mach schon dieses verdammte Auto auf, Schlampe! Oder willst du dich hier draußen in Fetzen reißen lassen?"

Ich zeige Mercedes mein strahlendstes Lächeln. Ihre Angst amüsiert mich und ich lasse sie noch eine Weile zappeln, indem ich mich dazu überwinde, dem knurrenden Justice den Kopf zu tätscheln.

„Ich weiß gar nicht, wo dein Problem ist", sage ich.

„Vielleicht ist dein Tod ja bedeutungsvoll und logisch, sodass du ihm gelassen oder gar freudig entgegenblicken kannst, aber mein Tod durch diese Bestie wäre absurd und sinnlos und ich möchte ihn vermeiden! Als mach das Scheiß-Auto auf und lass uns drinnen warten!"

Ich tue wie geheißen, wir steigen ein und sitzen nun zu dritt in meinem Wagen. Ich komme mir ein bisschen lächerlich vor und kann ein Lachen nun nicht mehr unterdrücken. Um uns herum schleicht dieser womöglich aggressive Hund, dem irgendein Witzbold den Namen „Gerechtigkeit" gegeben hat.

„Wie in diesem Buch von Stephen King", sage ich.

„Dein Geschmack ist widerlich", sagt Mercedes.

„Du kannst gerne aussteigen."

„Du kannst gerne die Klappe halten!"

Ich nehme es Mercedes nicht übel. So etwas ist schnell daher gesagt und man denkt sich nichts dabei. Trotzdem klappt mein Mund beinahe automatisch zu. Wie oft wurde mir geraten, mitgeteilt, befohlen, ich solle still sein, die anderen reden lassen, nicht so vorlaut sein, mich zurückhalten. So oft, dass es mir in Fleisch und Blut übergegangen ist.

Was sagt man darauf auch? Was antwortet man einem Menschen, der deutlich gemacht hat, dass er nichts auf das gibt, was du zu sagen hast? Es ist das ultimative Totschlagargument.

Wer still ist, der blamiert sich nicht. Wer schweigt, ist mysteriös und interessant. Wer beobachtet und nicht am Geschehen teilnimmt, läuft nicht Gefahr, ordinär zu wirken. Es gibt so viele gute Gründe, nicht zu reden, Dinge geschehen zu lassen, Dinge unwidersprochen stehen zu lassen. Und sie alle sind egoistisch. Sie alle drohen. Sie alle arbeiten mit Angst.

Ich wurde unter Androhung von Strafe zu einer Egoistin erzogen, mit dem Ergebnis, dass ich mich heute nicht mehr traue, meinem Willen Ausdruck zu verleihen. Es ist absurd.

Seien wir ehrlich, meine Eltern waren Idioten, die sich selbst nicht zu helfen wussten und deshalb schwiegen, zuhörten und vor allem glaubten. Sie glaubten allen möglichen Schwachsinn, nur damit sie nicht selber denken und entscheiden mussten.

Nun ist Glauben nicht unbedingt immer schädlich. Es stirbt zum Beispiel niemand, wenn er regelmäßig das Horoskop in irgendeiner Zeitschrift liest. Daran festzuhalten ist zwar dämlich, aber nicht im medizinischen Sinne ungesund. Solche Spleens hat jeder zu einem gewissen Maße und ich halte sie für menschlich und verzeihlich. Und wenn jemand Hoffnung aus dem Glauben schöpft und danach sein Leben wieder auf die Reihe kriegt, wer bin ich, ihn zu verurteilen?

Nein, es geht um die andere Art von Glauben, die, die eher Hindernis als Triebfeder ist, die, die Regeln aufstellt, wo Fortschritt geboten ist. Die Art von Glauben, die man anderen aufzwingt, weil man um ihre Seele fürchtet, wenn sie nicht genau das selbe denken, sagen und fühlen wie man selbst. Dieser Glaube ist phantasie- und empathielos, denn er gesteht anderen keine Perspektive zu und das ist der Nährboden für Kriege und Konflikte jeder Art.

Kurz: Religion birgt das Potenzial zur Festigung und zur Zerrüttung zwischenmenschlicher Verhältnisse.

Meine Eltern hingen dem verrückten Glauben an, Gott lege Wert auf Gebete, Gesänge, verschwendete Sonntage und Hände über der Bettdecke. Ihrer Ansicht nach war jeder Mensch entweder ein Opfer oder ein Werkzeug Gottes und wir alle hatten die Wahl, was wir sein wollten.

„Die Hölle ist voll mit Leuten, die ihre Eltern belügen", bekam ich des Öfteren zu hören. Auch liebten sie es, über „gerechte Strafen" zu schwadronieren, darüber, wie wenig Mitleid sie aufbrachten.

Es ist eine müßige Argumentation. Wenn wir dem Menschen Verantwortung und einen freien Willen zugestehen, können wir ihn auch verantwortlich machen. Es ist also nicht nur jeder seines Glückes Schmied, sondern jeder schaufelt auch sein eigenes Grab. Es ist, als wären sie die Hälfte es Weges mit den Existenzialisten mitgegangen und dann an der entscheidenden Kreuzung falsch abgebogen. Denn während die Existenzialisten auch die Verantwortung betonen, die man für andere übernehmen muss, sagten meine Eltern: „Damit du nicht auf Abwege gerätst, musst du deine Entscheidungsfreiheit abgeben!"

Und weil sie am besten wussten, was am besten für mich war, entschieden sie, welche Kleidung und wie ich meine Haare tragen durfte, welche Bücher ich las, welche Musik ich hörte. Sie organisierten meine Interessen und strichen alles aus meinem Leben, das ihnen suspekt erschien oder das sie nicht kannten.

Ich durfte im Kirchenchor singen, aber keine Rockmusik hören. Ich durfte in der Bibel lesen, aber kein Buch von Simone de Beauvoir. Ich sollte wie ein Mädchen gekleidet sein, aber die Röcke mussten mindestens bis übers Knie reichen.

Heute glaube ich, dass meine Großeltern dahintersteckten. Wo sie bei ihrer eigenen Tochter versagt hatten, wollten sie ihrer Enkelin mit besonderer Strenge begegnen. Dabei lief ich damals kein bisschen Gefahr, das Schicksal meiner Mutter zu teilen. Die Jungen in meiner Schule hielten mich für völlig durchgeknallt, geradezu furchteinflößend. Ich sah aus wie eine Psychopathin im Gewand einer Klosterschülerin. Der Stoff, aus dem Horrorfilme sind...

Es wäre eine Lüge, würde ich schreiben, dass diese Erziehung bis zu jenem gewissen Zeitpunkt gut ging. Sie lief von Anfang an in die falsche Richtung und war zum Scheitern verurteilt. Eines dieser Systeme, die nicht zu reformieren, sondern nur zu revolutionieren sind...

Es knirschte oft, aber ich erkannte lange nicht, wo das Problem lag. Ich merkte sehr wohl, dass ich es nicht schaffte, meinen Willen durchzusetzen, aber meine Eltern und Großeltern schienen für ihre Ablehnung immer gute, sinnvolle, erwachsene Gründe zu haben, sodass ich mit dem Eindruck zurückblieb, meine Unerfahrenheit stelle eine Gefahr für mich dar und ich müsse beschützt werden, weil ich offensichtlich zu falschen Entscheidungen neigte. Oh, sie erzogen mir die Angst vor mir selbst an. Wie perfide, wenn man darüber nachdenkt... Am Ende war ich dankbar dafür, dass ich nicht bekam, was ich wollte.

Aber eine solche Lügenspirale kann nur in ihrem eigenen Kollaps enden und irgendwann wurde sogar ich alt und erfahren genug, um hinter all den vielen Einzelverboten das Fundament zu suchen. Was ich fand, war ein Zusammenhang: Gott. Die Begründung, warum ich nicht sein durfte wie die anderen, lief immer auf den Willen Gottes hinaus und es wunderte mich, dass ausgerechnet meine Eltern so genau wissen sollten, was Gott wollte, während anderen Leuten dieses Wissen offenbar verborgen blieb. Wie groß soll diese Hölle eigentlich sein, wenn alle außer uns sündig waren? Wie einsam würde es im Himmel sein und wie glücklich konnte ich dort werden, wenn ich da auch wieder nur mit meinen Eltern und Großeltern zusammen sein würde? Musste ich mich etwa im Himmel auch an all diese Regeln halten? Gab es keine Rockmusik da oben? Wieso sollte jemand an einem solchen Ort leben wollen? Sogar bis in alle Ewigkeit...

Ich gab mich einigen harten Gedanken hin und entschied mich schließlich, dass ich das ewige Leben mehr fürchtete als die Strafen Gottes. Ewiges Leben bedeutete ewige Langeweile. Ich lebte jetzt schon ein angeblich gottgefälliges Leben und war, wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, nicht glücklich. Was mich aufrecht erhalten sollte, war die Hoffnung auf ein ewiges Dasein, das sich, nach allem, was meine Eltern mir erzählten, nicht so sehr von dem unterschied, was ich jetzt schon hatte. Dann lieber Verdammnis.

Aber wieso eigentlich Verdammnis? Wenn Gott gnädig war, wenn er die Menschen liebte, dass musste er auch lieben, was sie taten, was sie schufen und was sie liebten. Und wenn Gott nicht gnädig war, wieso sollte man sich ihm anbiedern? Was muss ein Gott überhaupt für ein Jammerlappen sein, wenn er beleidigt ist, wenn man ihn nicht andauern lobpreist und sich ihm als sein Werkzeugt anbietet?

Wenn ich an einen Gott glaubte, dann sollte es ein cooler Gott sein, der verstand, was ich empfand und der mir nicht vorschrieb, was ich zu empfinden hatte. Ich konnte ja schließlich nichts dafür.

Wenn ich auf etwas hoffte, dann auf etwas, das meine persönlichen Wünsche erfüllte und nicht die, die irgendjemand anderes für mich bereithielt.

Wenn ich für etwas betete, dann war es meine Angelegenheit, ob ich meine Bitte für angemessen hielt.

Tatsächlich aber hielt ich es schließlich für ziemlich unwahrscheinlich, dass ein Gott überhaupt existiert. Und selbst wenn, war er nichts weiter als das Werkzeug von Menschen, die Macht über andere ausüben wollten.

Schließlich überwand ich mich also und sprach aus, was die Spirale zum Einsturz bringen sollte. Es war unvermeidlich gewesen. Sie hätten es wissen müssen. Ich hätte ein gesundes Verhältnis zur Religion haben können, aber sie trauten es mir nicht zu, also musste ich abtrünnig werden, um nicht auf alle Ewigkeit in ihrem Fahrwasser herum dümpeln zu müssen.

Zu meinen Großeltern sagte ich: „Woher wisst ihr eigentlich, dass ihr Recht habt und nicht eine der anderen tausend Religionen? Wie könnt ihr euch sicher sein, das Richtige zu tun? Was, wenn Gott nun ein Rolling Stones-Fan ist? Immerhin hat er auch Mick Jagger gemacht und ihn mit diesem gewissen Talent ausgestattet. Wenn Gott einen Plan hat, wieso soll dann ausgerechnet die Rockmusik dagegen verstoßen?"

Und sie sagten: „Kind, Gott stattet uns mit allen möglichen Talenten aus, aber wir entscheiden, was wir damit machen, ob wir den Pfad der Tugend oder den Pfad der Sünde gehen."

Und dann sagte ich: „Ich habe den Eindruck, dass man auf dem Pfad der Sünde mehr Spaß hat."

Und sie: „Natürlich sieht das Werk des Teufels attraktiv aus. Auch das Netz der Spinne wirkt anziehend auf die Fliege."

Ich würde jederzeit ein Spinnennetz einem Scheißhaufen vorziehen, dachte ich und war für den Schoß der Kirche für immer verloren.

Meine Eltern reagierten weniger metaphernreich. Sie erklärten mir klipp und klar, wie gottlos und verdorben ich war und dass sie mich nicht retten könnten, wenn das jüngste Gericht – vermutlich jeden Augenblick – über uns hereinbrechen würde.

Und ich sagte zu ihnen: „Bevor sie mich holen, holen sie andere. Wer ist schon unschuldig? Stammt der Spruch nicht von eurem Herrn Jesus? Ich habe es immer geglaubt und bin nachsichtig gewesen, wollte nicht richten, weil es mir nicht zusteht, wollte keine ungerechten Urteile sprechen, nicht schlecht über Menschen denken, aber die Wahrheit ist: Wer immer das Beste von anderen annimmt, nimmt von sich das Schlechteste an. Wer den anderen immer nachgibt, hat selbst das Nachsehen, muss zurückstecken, hinter jenen die sich im Bewusstsein von Gottes Gnade nehmen, was sie glauben, das ihnen zusteht. Für sich selbst nehmen sie Gnade, Vergebung und Recht in Anspruch, wir anderen sollen in Furcht und Demut leben. Ich glaube, es sollten die gleichen Regeln für alle gelten und diese Regeln sollten wir festlegen, denn wer kann schon bezeugen, dass es wirklich Gottes Wille ist, was irgendwer behauptet, das er sei?"

Egal ob ich eine Antwort bekam oder nicht und egal welche es war, der Bruch war vollzogen. Die Enttäuschung überwand die elterliche Liebe und kühlte das Familienleben ab bis zu dem Tag, als ich meinen Mann heiratete. Ich legte die Weichen, es war meine Entscheidung. Ich musste damit leben und ich musste eine Lösung finden. Ich muss dafür gerade stehen und ich schäme mich nicht. Was würde es auch nutzen?

Gut, die meisten Menschen würden diesen Bruch mit der Religion nicht für eine große Sache halten, aber es war das erste Mal, dass ich meinen Mund aufmachte und keine Angst vor Widerspruch hatte, weil ich zuvor nachgedacht und zu einem Schluss gekommen war, weil ich eine Erfahrung gemacht hatte, die mich erwachsener werden ließ. Es war ein emanzipatorischer Akt und damit ein Dorn im Auge all derer, denen es besser gefallen hätte, wenn ich unmündig geblieben wäre. Aber das ist in Ordnung. Ich habe sie hinter mir gelassen und entschieden, dass es mir nichts ausmacht.

Ich habe nicht gelogen, sondern nur nach meinem Gewissen gehandelt. Sollte ich einen Fehler gemacht haben, so soll Gott mich bestrafen und nicht seine weltliche Armee. Ich erwarte ihn und ich habe ein paar gute Argumente.

„Was ist los, Schlampe?", Mercedes stößt mich von der Seite an, „Warum so schweigsam? Hab ich einen wunden Punkt erwischt?"

„Würde es dir leid tun, wenn es so wäre?", frage ich.

Sie schnaubt.

„Schon gut. Wieso sollte mich etwas verletzen, wenn es dir nicht mal leid tut? Willst du einen Schluck Wodka?"

Natürlich sagte Mercedes nicht nein. Nur Vincent blickte uns strafend, aber machtlos an.

„Schweigen, wenn man reden sollte, ist gefährlich", sage ich.

„Reden, wenn man aufstehen sollte, ist gefährlicher", sagt Mercedes.

Ich lächele und schweige.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top