Mittwoch, 03. Juli
Mercedes
Ich wache davon aus, dass das Morgenlicht durch meine Lider schimmert und als ich die Augen öffne, starre ich direkt auf den Lauf einer 44er Magnum. Ich blinzele, um das Bild scharf zu stellen und wäre beinahe erschrocken zurückgewichen. Aber ich bleibe cool, ich will ja niemanden reizen.
Hinter der Pistole steht eine Frau mit wutverzerrtem, entschlossenem Gesicht. Wir blicken uns gegenseitig in die Augen. Ich blinzele als erste, was sie zum Anlass nimmt, das Gespräch zu eröffnen: „Mach, dass du weg kommst!", krächzt sie, „Wir brauchen keine abgefuckte Weißbrot-Schlampe hier, egal was dir der Jammerlappen hier erzählt hat!"
Sie weist auf Vincents Hütte: „Er spricht nicht für uns, auch wenn er das vielleicht behauptet hat. Hier kann nicht einfach jeder herkommen und sich niederlassen. Also verschwinde. Geh zurück in dein rosa Traumhaus, Barbie, oder stürz dich von einer Brücke. Ist mir egal, aber wir sind nicht dafür zuständig, deine Probleme zu lösen!"
„Äh...", sage ich.
„Schwer von Begriff?", fragt sie.
„Ich hatte gar nicht vor, zu bleiben", sage ich.
„Wunderbar, also krieg denen Arsch hoch und verpiss dich!"
Sie senkt die Pistole und grient. Ich grinse zurück, reiche ihr die Hand und stelle mich vor: „Liz."
Sie nimmt die Hand nicht, nennt aber ihren Namen: „Mercedes. Und jetzt weg hier!"
„Wieso?", frage ich. Auch wenn ich ihrem Wunsch nachkommen will, lasse ich mir nichts befehlen.
„Wenn hier jeder einmarschieren und bleiben könnte, wären wir dann noch eine abgeschiedene, unabhängige Gemeinschaft?"
„Was sind denn die Kriterien, um hier aufgenommen zu werden?", frage ich.
Mercedes überlegt: „Du musst etwas beitragen können." Sie zeigt auf ihre Pistole: „Das ist mein Beitrag."
„Und was ist Billys Beitrag?", frage ich. Ich weiß, es ist eine Frechheit, aber Mercedes scheint man so begegnen zu müssen, um ihren Respekt zu gewinnen.
„Hätten wir ihn in der Wüste verrecken lassen sollen? Er ist hergekommen, hätte es aber nicht mehr zurück geschafft. Aber du bist jung und gesund. Du brauchst uns nicht!"
„Du bist auch jung und gesund", sage ich, „Was brauchst du hier?"
Sie hält mir wieder die Pistole vor die Nase: „Das geht dich einen feuchten Haufen Scheiße an, Missy!"
Jetzt weiche ich doch zur Seite aus. Diese Frau ist vielleicht nicht geisteskrank, aber skrupellos. Bestimmt ist sie hier, um sich vor der Polizei zu verstecken. Wahrscheinlich hat sie jemanden ermordet. Oder mehrere. Mit dieser Waffe. Und ich bin sicher, dass sie es wieder tun würde. Und hier würde sie niemand dafür verurteilen. Meine Leiche würde verschwinden. Niemand würde sie je hier suchen. War es nicht das, was ich wollte?
Aber ich wollte es selbst tun. Bevor ich ermordet werde, will ich weiterleben. Bevor ich versklavt werde, will ich mich selbst töten.
„Mercy, Mercy!", ruft Vincent, als er aus dem Haus stolpert. Er ist barfuß und nicht gekämmt. „Nicht die Nerven verlieren. Sie ist in Ordnung. Sie kann bleiben!"
„Und das entscheidest du?", fragt Mercedes, „Seit wann? Hast du schon mit Frank darüber geredet? Was sagt Frank dazu?"
„Nein", sagt Vincent, „ich habe noch nicht mit ihm geredet, aber was soll er schon dagegen haben? Er hat noch nie jemanden abgelehnt."
„Ihr seid ein verdammter Haufen Weicheier!", schreit Mercedes, „Was bedeutet schon eine exklusive Gemeinschaft, wenn jeder einfach Mitglied werden kann?"
„Wir haben auch dich aufgenommen. Erinnere dich daran, wie sehr du es wolltest", sagt Vincent.
„Ihr braucht mich, deshalb durfte ich bleiben. Von euch ist nämlich keiner fähig, die Stadt zu verteidigen."
„Du hast Frank die Waffe an die Schläfe gehalten, als er nicht sofort ja gesagt hat."
„Und es hat ihn überzeugt", sagt Mercedes.
„Sie war nicht mal geladen."
„Aber die hat doch eine Wirkung."
Ich muss unwillkürlich lachen: „Sie ist nicht geladen?"
„Alfred weigert sich, ihr Munition zu besorgen", erklärt Vincent.
„Und ich kann nicht selber gehen, weil die Schweine mich sofort hopps nehmen würden."
„Was ist denn mit ihr?", frage ich Vincent.
„Sie", sagt Mercedes betont genervt, „hatte mal eine geladene Pistole und sie hat sie auch benutzt. Reicht das als Erklärung? Diese Dinger werden nicht dafür gebaut, um auf Dosen zu schießen, verstehst du? Wer so was trägt, nimmt es in Kauf, Menschen zu töten. Wer sowas trägt, findet es richtig, in bestimmten Situationen, Menschen zu töten."
„Und du findest das richtig?", frage ich.
„Manche Menschen verdienen es nicht zu leben", sagt sie und blickt mich scharf an, „Wer das Leben nicht wertschätzt, der versteht nicht, worum es hierbei geht", sie zeigt wieder auf ihre Knarre, „Es ist ein Lebensgefühl, im wahrsten Sinne des Wortes. Du hast den Tod immer bei dir. Er erinnert dich ständig daran, dass du am Leben bist und wie viel Glück du hast. Und er beschützt dich. Der Tod der anderen beschützt dein Leben. Ich ertrage diese Verzagtheit nicht, mit der Leute ihr Leben für selbstverständlich halten. Diese Verdrossenheit, dieses deprimierende Dasein, das alles Schlimme ignoriert und damit blind für alles Schöne wird."
„Eine Philosophie der Waffe", spotte ich.
„Eine Philosophie des Lebens", sagt Mercedes.
„Philosophie ist Wortverdrehung. Etwas Konkretes kommt dabei nie heraus. Leute schreiben Bücher, aber die Welt verändern sie damit nicht, auch wenn sie es glauben."
„Aber die hier verändert die Welt", sagt Mercedes wieder im Bezug auf ihre Pistole.
„Die hier verändert gar nichts", sagt Vincent.
„Immerhin könnte ich dir damit den Schädel einschlagen", sagt Mercedes, „Und sie hat etwas verändert. Die Schlampe hier hatte für einen Augenblick Respekt vor mir, bis du es kaputt gemacht hast."
„Ich muss nicht bedroht werden, um Menschen zu respektieren", protestiere ich.
„Ach ja? Da habe ich aber andere Erfahrungen mit deinesgleichen gemacht", sagt Mercedes.
„Meinesgleichen?"
„Weiße Collage-Schlampen", erklärt Mercedes.
„Das ist Rassismus", befinde ich.
„Ach ja? Beweis mir, dass du keine Rassistin bist!", fordert sie, „Was hast du gedacht, als du in diese Fresse geblickt hast?", sie zeigt mit dem Finger auf ihr eigenes Gesicht, „Ich sag dir, was du gedacht hast: „Die da ist bestimmt auf der Flucht. Die da hat bestimmt einen umgebracht. Die da ist bestimmt in einer Gang!" Das denkt ihr nämlich alle, wenn ihr eine wie mich seht. Sie ist nicht weiß, also ist sie ein Gangster. Und die Schwarzen denken: Sie ist nicht schwarz, also ist sie eine Verräterin. Sag mir, wer in dieser Gesellschaft ist kein Rassist? Absolut niemand kann etwas zu seiner Verteidigung vortragen, so lange er Eigenschaften an Hautfarben fest macht!"
Ich überlege. Dann sage ich: „Ich hatte mal was mit einem gemischtrassigen Bisexuellen."
„Ach wie niedlich. Sie hat ihren Körper für einen Halbneger geöffnet und hält sich jetzt nicht mehr für eine Rassisten-Schlampe!"
Obwohl Mercedes es abwertet, ist es eine meiner schönsten Erinnerungen. Ein Triumph. Nicht Liebe oder Frieden, aber ein Sieg in dieser endlosen Schlacht, die sich Leben nennt. Ich habe weder ein schlechtes Gewissen, noch bin ich stolz, aber es beruhigt mich. Nicht jeder Mensch ist nur gut oder nur schlecht. Auch ich habe hin und wieder das Richtige getan – oder zumindest etwas, das ich nicht bereue.
Meine Hochzeit gehört nicht dazu – oder zumindest nur indirekt.
In meinem Leben war so viel schief gelaufen und ich hatte das starke, beinahe überwältigende Gefühl, viele falsche Entscheidungen getroffen zu haben. Ich dachte, ich sei mein Leben lang in die falsche Richtung gerannt, hätte nicht erkannt, dass die Wände, die ich einreißen wollte, mich in Wirklichkeit schützten. Ich wurde nicht glücklich in der Rebellion. Im Gegenteil: Sie laugte mich aus. Und so kroch ich in einem schwachen Moment zu Kreuze und versuchte es noch einmal mit den Regeln meiner Eltern und Großeltern.
Sie geben dir Sicherheit, meinten sie. Sie geben dir Halt. Sie weisen dir den Weg. Sie haben sich bewährt, haben uns geholfen, durchzuhalten.
Und das Leben ist nichts weiter als Durchhalten und was immer einen dabei unterstützt, ist ein Wert, den es zu bewahren gilt. Nun, hier am Ende meines Lebens, nachdem ich die Entscheidung getroffen habe, nicht mehr durchhalten zu wollen, kann ich neutral darauf zurückblicken und erkenne, nur Verzweiflung und nicht Freude im Festhalten an den Traditionen.
Ich heiratete also einen Mann, mit dem ich zur Ruhe kommen wollte. Ich benutzte ihn, für meine eigenen Zwecke. Als Halt, als Führung, als jemanden zu dem ich aufblicken wollte, weil es nichts gab, das ich respektieren konnte und ich glaubte, dass dieses Loch in meinem Herzen gestopft werden müsste. Jeder braucht jemanden, der eine Schutzmauer zwischen ihm und der Leere ist, dachte ich.
Ich wählte meinen Mann aus, indem ich alles, was ich war, ins Gegenteil verkehrte. Ich hasste mich so sehr, dass ich glaubte, nur jemand, der mir ganz und gar unähnlich war, könnte mich noch retten und auf den rechten Weg zurück bringen.
Er war groß, breit, behaart und Republikaner. Meine Eltern und meine Großeltern liebten ihn. Sie wussten gar nicht, dass man so einen echten Mann im verweichlichten Kalifornien aufgabeln konnte. Ich liebte ihn nicht, aber das machte nichts, denn er liebte auch niemanden außer sich selbst. Mich betrachtete er als Trophäe, etwas das man vorzeigen kann, wenn man sich selbst als Mann profilieren muss. Seht her, so eine Frau kann ich an mich binden! Der Schönheit der Frau definiert den Rang des Mannes in seiner Gruppe.
Mit dem Vorzeigbar-sein kannte ich mich aus. Ich konnte lächeln, Makeup auflegen und mir die Haare angemessen zurecht legen. Mehr erwartete er nicht von mir und ich glaubte, es wäre eine Erleichterung, wenn man sich um nichts sonst mehr Sorgen machen muss. Ankommen, dachte ich, hätte etwas mit dem Ablegen von Gewichten zu tun, die man mit sich herumträgt, so lange man noch auf der Suche nach sich selbst ist.
Ich dachte, ich wäre bereit, mich selbst aufzugeben, nur um diese Gewichte loszuwerden. Ich wollte so gerne ankommen. Egal wo. Aber ich blieb auf der Strecke.
Es dauerte nicht lange, da langweilte ich mich zu Tode. Aber was hatte ich erwartet, dass mein altes Ich einfach so verschwindet, wenn ich den Namen meines Vaters gegen den meines Mannes eintausche? Dass ich von einem Tag auf den anderen eine andere sein würde, dass ich plötzlich wüsste und verstünde, was Glück ist? Dass ein Wunder passiert? Dass ich taub würde, nichts mehr fühlen, kein Schmerzen, kein Verlangen, keine Wut und keine Verzweiflung mehr wahrnehmen würde. Dass das Makeup mein Gesicht verstecken und meine Tränen zurückhalten würde? Dass ich mich in Plastik verwandeln und dass die Hohlheit in meinem Kopf mich befriedigen würde? Dass ich einfach so verstummen könnte, weil ich nichts mehr zu sagen hätte? Dass ich zufrieden wäre mit einer Existenz als Dekorationsgegenstands?
Kinder sind die Produkte ihrer Eltern, heißt es. Töchter heiraten ihre Väter. Egal wie sehr ein Kind rebelliert, am Ende sehnt es sich nach dem zurück, was es in seiner Kindheit erfahren hat. Das würde bedeuten, dass jede Erziehung richtig ist. Oder bedeutet es, dass jede Erziehung die Gehirne der Kinder so programmiert, dass sie gut finden, was sie erleben? Oder ist ganz einfach das Erwachsenenleben so grauenvoll, dass man sich – egal wie traumatisierend die Kindheit war – immer dorthin zurück sehnt? Bis man 16 ist, geht es bergauf und dann geradewegs bergab für den Rest deines Lebens! Wenn man also Glück hat ist man mit 16 relativ weit oben, sodass der Fall länger dauert. Wenn du aber mit 16 schon unten bist, wo wirst du dann mit 30 sein?
Ich war viel zu jung, um unten zu sein und das machte mir Angst. Wie viel weiter runter konnte es gehen? Wann war man endlich am Boden? Wann war man endlich am Ende? Wann kam endlich etwas, mit dem man sich arrangieren konnte?
Die Antwort ist: Niemals. Man kann sich nie arrangieren. Man muss immer rebellieren. Man muss immer kämpfen.
Aber mein Mann war jähzornig und mir körperlich deutlich überlegen. Er stellte Anforderungen an mich und ich traute mich nicht, mich ihnen offen zu widersetzen. Hätte ich einmal keinen Lippenstift aufgelegt, wenn seine Freunde zu Besuch kamen, wäre es vermutlich zum Streit gekommen und ich fürchtete die direkte Auseinandersetzung mit ihm.
Sicher, ich hätte langsam aber stetig sein Essen vergiften können, um ihn loszuwerden. Aber irgendwie wollte ich doch, dass er merkte, was das Problem war. Er sollte leiden. Er sollte diese Leere empfinden. Er sollte das Gefühl kennen lernen, nicht gut genug zu sein und zurückgewiesen zu werden. Ich wollte Selbstzweifel in ihm sähen.
Es fing ganz harmlos damit an, dass ich zwanglos zu einer Veranstaltung der demokratischen Partei ging. Ich hörte einer Rede zu und dann stellten Leute aus dem Publikum fragen. Ich verstand nicht viel davon, traute mich auch nicht, selbst etwas zu sagen. Ich empfand den Abend als angenehm. Niemand kannte mich. Niemand drängte mich. Ich konnte einfach da sitzen und zuhören. Ich war allein in einer großen Gruppe, fühlte mich aber nicht beobachtet.
In den folgenden Wochen ging ich immer wieder zu solchen Veranstaltungen. Irgendeine Wahl stand an, aber das interessierte mich nicht. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie an einer Wahl teilgenommen und ich würde auch diesmal nicht meine Stimme abgeben. Politik hielt ich für etwas, das abseits von der Lebenswirklichkeit der normalen Menschen passierte. Es hatte nichts mit mir zu tun. Niemand von diesen Idioten in Washington tat etwas für mich. Nichts von dem, was sie sagten, berührte mein Dasein oder löste gar meine Probleme. Ich vertraute schon nicht den Menschen in meinem unmittelbaren Umfeld, wie sollte ich also Politikern vertrauen?
Irgendwann begannen die Leute bei den Podiumsdiskussionen mich zu grüßen. Jemand sagte „Hallo", nichts weiter, aber es gab mir das Gefühl, willkommen zu sein. Ich erwiderte sein „Hallo" und erlebte wie diese kleine Berührung zweier Worte mich anhob, meine Laune verbesserte, mich wieder mit der Welt in Verbindung brachte. Ich spürte, dass mir der Kontakt zu Menschen abhanden gekommen war und dass ich ihn zurückerlangen konnte, wenn ich die mir dargereichten Hände nur ergriff.
Mein Mann hielt mir seine Hand nie entgegen. Er spürte nicht, dass ich ein Bedürfnis danach hatte. Er war ein eher körperlicher Mensch, ich hingegen hasste alles Körperliche.
Man wird geboren mit einem instinktiven Gefühl von Würde. Daran glaube ich. Jedes Kind weiß, was Zärtlichkeit und Verständnis ist, wie man andere berührt und wie man sich berühren lässt. Je älter wir werden, desto härter werden wir, desto dicker wird unsere Schale. Sobald wir mit Zynismus in Kontakt kommen, sobald wir zum ersten Mal verletzt werden, beginnen wir, unsere Instinkte zu unterdrücken und am Ende verlieren wir sie ganz. Sie bröckeln ab wie alter Putz und hinterlassen den Rohbau unserer Seelen, wenn denn da noch eine ist.
Sich die Würde zu erhalten und die Würde anderer zu achten, das bedeutet ein erfülltest Leben, das ist Befriedigung, Zufriedenheit, das ist Güte. Es ist seltsam, dass ich das so genau weiß, dass ich es sogar definieren, aber nicht umsetzen kann. Zu viele Menschen haben auf meiner Würde herum getrampelt, als dass ich noch dazu fähig wäre, ihnen Respekt entgegenzubringen. Nicht einmal Mitleid kann ich noch in mir finden. Da ist nur Wut. Wut, die Tränen hervorquellen lässt, die meine Nase verstopft, die mich nachts nicht schlafen lässt, die mich herumlaufen lässt, wie in Watte gepackt, die mich entkoppelt von der Welt, von der Normalität. Ich weiß nicht, was ich noch fühlen soll außer Wut. Ich weiß nicht, wie ich noch irgendetwas berühren soll, ohne dass es in Flammen aufgeht. Ich fürchte, selbst zu verbrennen, wenn ich zurück denke.
Jeder Tag war ein Kampf gegen die Wolken über mir und es regnete Steine und Felsbrocken jeden Tag. Jede Nacht fürchtete ich zu ersticken, zerquetscht zu werden, zwischen den Wänden und meinem Mann, der auch nichts anderes als eine Wand oder ein Hindernis war. Wenn ich nicht in die Dunkelheit starrte, fesselten mich Träume von Unbeweglichkeit und Folter. Ich starb tausend Tode bevor ich hierher kam. Ich betete jeden Abend, es möge kein Morgen geben. Es sollte alles enden. Für immer. Jeder Morgen war eine Enttäuschung, jeder Lichtstrahl der aufgehenden Sonne ein Hohn.
Wie kann es wahr sein, fragte ich mich jeden Tag. Wie kann das alles wahr sein? Wo habe ich den entscheidenden Fehler meines Lebens gemacht? Wo bin ich falsch abgebogen und wo hätte ich hinfahren sollen? Hatte ich meine Würde verscherbelt? War sie mir entrissen worden? Wieso war niemand da, der sie mir wieder gab, der mich ihrer versicherte? War ich es nicht wert, wertgeschätzt zu werden? Wurde ich übergangen oder bestraft? Ignoriert oder übersehen? Waren sie schuldig oder nur unaufmerksam? Egal, sie ließen mich verwahrlosen und ich verwahrloste. Sie ließen mich im Sumpf zurück und ich versank ganz langsam.
Das ist also die Institution Ehe. Das ist also Gottes heiligste Gemeinschaft. Wie kann er so etwas zulassen? Wie kann er die Menschen so strafen? Wieso lässt er sie etwas ersehnen, das ihnen die Seele raubt? Wieso begehrt niemand sonst dagegen auf? Spüren sie den Schmerz nicht? Oder halten sie ihn aus? Bin ich zu zimperlich? Will oder erwarte ich zu viel? Bin ich gierig und unmäßig? Nehme ich mir zu viel heraus? Wer hoch fliegt, wird tief fallen. Bei großen Erwartungen sind Enttäuschungen vorprogrammiert. Deshalb gilt Bescheidenheit als eine Tugend. Deshalb krallen wir uns daran fest, zumindest tugendhaft zu sein, wenn wir nicht weinen. Aber nicht einmal das ertrage ich.
Die Ehe fühlte sich so an, als wäre man an etwas gekettet, das einen davon abhält, zu fliehen, obwohl man sich in akuter Lebensgefahr befindet. Immer unter Spannung. Immer nahe am Wahnsinn. Ich schwitzte viel damals. Die Nähe, die Ferne, der wenige Sauerstoff in der Luft. Er war nicht da. Er war ein Nichts. Ein übermächtiges, allgegenwärtiges Nichts. Kein Mensch. Nicht mal eine Kreatur. Er lebte nicht. Er saugte Leben aus wie ein Vampir.
An den Wänden in unserer Wohnung hingen keine Bilder. Ich hatte keine Kraft, die Räume wohnlich zu gestalten und ihn interessierte es nicht. Ich weiß nicht, was er sah, wenn er an die Wand starrte. Vielleicht gar nichts. Vielleicht konnte er sein Denken irgendwie abschalten. Aber ich sah Möglichkeiten, die nun unerreichbar waren. Ich sah Geschichten, die nie erzählt, nie erlebt wurden. Ich sah Welten, die dahinter liegen mochten, Landschaften, Himmel, Meere. Aber keine Lebewesen. In meinen Visionen lebte nichts mehr. Gedankenwüsten. Geisterwelten. Sie waren irgendwie erstarrt.
Aber ein kleines, unpersönliches „Hallo" hatte eine so bahnbrechende Wirkung auf mich, dass ich beinahe an Ort und Stelle zusammenbrach. Mit der Wucht eines Tsunamis stürzte die Realität auf mich an. Sie rührte sich wieder. Der Film lief weiter. Es wuselte und tummelte um mich herum. Die Geräusche, der Lärm, die Gerüche, die Farben kehrten zurück. Ich erwachte wie aus einen Dornröschenschlaf.
Freundliche Worte sind eine Entgiftungskur für den Geist. Sie ergriffen die Scherben, die mein Herz waren und setzten sie zu etwas zusammen, das Wärme durch meinen Körper pumpen konnte. Und mit der Wärme kamen die Bedürfnisse zurück. Was hätte aus mir werden können, wenn man als Kind meine Fähigkeit, Würde wertzuschätzen gefördert hätte? Was hätte ich alles empfinden können? Welche Tiefen und welche Höhen? Welche Geborgenheit? Welche Freiheit?
Es sind alles nur Nervenimpulse. Schmerz und Wohlbefinden liegen nicht weit auseinander. Manchmal kann das Hirn sie auch gar nicht unterscheiden. Und dann wird alles zu Schmerz, sogar eine Umarmung. Oder nichts mehr, dann fühlt es sich sogar gut an, zu sterben. Ich weiß bis heute nicht, was schlimmer oder besser wäre.
Das kleine „Hallo", beflügelte mich dermaßen, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben öffentlich eine Frage stellte: „Was wollen Sie tun, um die Waldbrände zu stoppen?", fragte ich, denn es war Sommer und es schien, als stünde mal wieder der halbe Staat in Flammen.
Man war dankbar für meine Frage. Es war eine dankbare Frage. Emotional und gleichzeitig etwas, wo man sich klar positionieren konnte, denn wer die Frage der Waldbrände ernst nahm, der zeigte, dass ihm die Belange der Bürger wichtig waren, dass er ihren Besitz und ihre Heimat schützen wollte. Die Antwort, die ich bekam, interessierte mich nicht, aber mir gefiel, wie meine Stimme durch ein Mikrophon klang und dass ich Applaus bekam.
Nach Ende der Veranstaltung traf ich den jungen Mann wieder, der mich zuvor begrüßt hatte. Ob es Zufall war oder nicht, weiß ich nicht. Er befand: „Ihnen liegen unsere Wälder also am Herzen?"
Und ich sagte: „Natürlich. Sie sind der Reichtum dieses Landes."
Und er sagte: „Wie heißen Sie?"
Und ich sagte es ihm.
Sein Name war Paul und ich mochte es, ihn auszusprechen.
Er lud mich zum Essen ein. Ich versuchte, mich im Vorfeld über Umweltschutzthemen zu informieren. Ich las heimlich die New York Times.
Es ist leicht, eine Affäre zu beginnen, wenn man gut vorbereitet ist und genau weiß, was man will. Und ich wollte nicht unbedingt Paul, nicht ihn als Menschen, sondern ihn als Identität: Ein liberaler, mindestens gemischtrassiger, offen bisexueller Demokrat. Er war perfekt.
Mir war klar, dass diese Rache Konsequenzen für mich haben würde, dass es unangenehm werden würde und ich den ein oder anderen blauen Fleck zurückbehalten würde. Mein Mann würde seinen Schmerz an mir auslassen. Aber das war mir egal. Hautsache, er hatte Schmerzen. Es sollte ihn verletzen. Diese Ehe war ein Krieg und jetzt ging ich in die Offensive. Man sollte seinen Gegner nie unterschätzen und ich hatte so viel erlebt, dass ich zu noch mehr fähig war.
Ich verspüre keine Freude an Sex, aber ich verstehe, was andere unter Befriedigung verstehen. Das Leid des anderen, der eigene Triumph. Es ist archaisch, es ist ein Spiel mit Träumen, Macht- und Unterwerfungsphantasien. Man kann mit den Erwartungen und Wünschen der anderen spielen, wenn man sie bedient oder verweigert. Man kann das Selbstwertgefühl des anderen angreifen, sein Ego kränken. Hat er sich so sehr in mir getäuscht? Zeig bloß keine Reue, verwirr ihn mit deinem Selbstbewusstsein! Lass ihn in seiner Verwirrung allein, lass ihn zweifeln, lass ihn in Panik geraten. Gib niemals einen Fehler zu. Krieche nicht zu Kreuze. Bestehe auf deinem Recht. Fühle nichts.
Ich kam mit einem blauen Auge davon und es kostete mich einen lockeren Zahn. Ich grinse zu viel, meinte er. Ich schulde ihm eine Erklärung und eine Entschuldigung. Ich schulde ihm eine Entschuldigung... Ich konnte nicht anders und lachte ihn aus. Ich lag auf dem Boden vor Lachen. Ich trommelte in den Fäusten auf den Boden und wischte mir die Tränen aus dem Augen, so sehr musste ich lachen. Noch zwei Tage später tat mir der Bauch weh vor lauter Gelächter.
„Vielleicht schulde ich Paul eine Entschuldigung", sage ich zu Mercedes, „Weil ich ihn benutzt habe und es mir egal war, ob er verliebt in mich war oder nicht. Aber ich schätze, er wird darüber hinweg kommen. Wie viele Leute verlieben und trennen sich? Es ist Alltag. Ich habe kein schlechtes Gewissen."
„Das ist typisch", sagt sie und zieht eine Schnute, „Aber was erwartet man für Menschen hier in diesem Drecksloch?"
„Sag du es mir", fordere ich, „Du lebst hier. Ich nicht."
„Du versuchst mich zu beleidigen? Dass ich nicht lache!"
„Eigentlich...", sage ich, halte mich dann aber zurück. Mercedes hatte es in ihrem Leben sicher auch nicht leicht. Wenn es nicht so herablassend wäre, würde ich ihr vergeben. Ich entscheide mich, sie zu akzeptieren und schweige.
„Frank wird entscheiden, was mit dir passiert!", schnappt Mercedes, „Nicht du und nicht Vincent! Frank wird herkommen und dir sagen, dass du dich verpissen sollst!"
Sie stapft davon und ich steige aus dem Auto aus. Vincent hält mir einen Teller mit Rühreiern hin.
„Hier, iss!"
„Nein, danke. Ich bin nicht hungrig. Ich werde mich ab jetzt strikt an meinen Ernährungsplan halten", sage ich und verweise auf meine Wodka-Vorräte, „Wer ist Frank?"
„Er wohnt da drüben neben der Kirche", erklärt Vincent, „Er ist sowas wie unser Sprecher."
„Ach? Und ich dachte die ganze Zeit, dass du das bist?"
„Ich? Oh nein. Ich bin bloß eine Art Wächter. Jemand der Ausschau hält, verstehst du? Aber keine Angst, Frank hat ein gutes Herz. Du musst dich nicht vor ihm fürchten."
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