Dienstag, 02. Juli
Alfred
Ich habe gar nicht mitbekommen, wie der Tag verflogen ist. Wie lange war ich zwischendurch weggetreten? Habe ich geschlafen? Jedenfalls weicht die unerträgliche Hitze langsam einem kühleren Luftzug, der den Abend ankündigt.
Ich trotte hinter Vincent her und verliere völlig das Gefühl für Raum und Zeit. Kam mir dieser Ort zuvor wie eine kleine Ansammlung von Mauerresten vor, wirkt er nun auf mich weitläufig wie eine untergegangene Metropole. Es ist das Schweigen, die Kälte zwischen uns. Vincent möchte, dass ich nachdenke. Er glaubt, dass er mich beinahe so weit hat. Wie weit? Wo will er mich haben? Spielt er Schach mit mir?
Am Ende handelt jeder eigennützig. Jede Hilfe, die man anbietet, ist eine versteckte Erwartung, irgendwann eine Gegenleistung fordern zu können. Gute Taten sind Investitionen in die Zukunft. So sind wir konditioniert worden. Verluste müssen vermieden werden.
Wieso eigentlich? Es gibt Dinge, die ich sehr gerne loswerden würde, die aber an mir kleben wie Sirup oder der eigene Schatten. Was würde ich dafür geben, diesen Schatten loswerden zu können? Mein Leben bin ich bereit, zu geben, um jemand oder etwas anderes zu sein. Sich selbst zu töten, bedeutet auszuradieren, was man gewesen ist und wofür man sich schämt, sich zu distanzieren vom eigenen Selbst, sich abzuspalten von Erinnerungen, Motivationen, Wünschen und Geschichten. Kurz: Es bedeutet, sich vorsätzlich und kaltblütig selbst zu belügen und nur wer es schafft, seinen eigenen Lügen zu glauben, schafft es auch, seinem eigenen Schatten zu entkommen.
Ich will nicht enden wie diese Stadt. Sie soll mir lediglich ein Mahnmal sein. Es gibt nicht mehr viele solche Städte, aber es gibt viele Menschen wie mich. Die meisten verfaulen oder brechen nach und nach in sich zusammen. Wenn aus ihnen keine Museen gemacht werden, kümmert sich niemand mehr darum. Sie werden den Elementen preisgegeben und ihrem Schicksal überlassen. So werden ganze Familiengeschichten ausgelöscht. Durch aggressive Ignoranz. Sie ist die Triebfeder und der solide Boden, auf dem dieses Land aufgebaut wurde und noch immer besteht. In Amerika bauen wir mit Holz, um sicher zu stellen, dass nichts davon die Zeit überdauert, weil wir tief in unserem Herzen wissen: Es ist besser, wenn vergessen wird. Es ist besser, nach vorne zu schauen, denn hinter uns... hinter jedem von uns liegt nichts weiter als ein Gemetzel, Enttäuschung, Wut, Verzweiflung, Verlust, Niederlage. Wir sind nicht wie die Iren, deren Geisterstädte für die Ewigkeit als steinerne Zeugen des eigenen Scheiterns die Reinheit der Natur besudeln.
Was also? Gehen oder bleiben?
Wieso sollte man irgendwohin reisen, wenn man nicht dort bleiben will? Wieso sollte man irgendwo bleiben, wo man nicht sein will?
Mein Körper ist aus Holz, aber meine Seele ist aus Stein. Meine Gedanken sind aus Metall, aber mein Leben nur aus Schnee.
Man sollte meinen, dass es für einen Menschen aus Schnee allein in der Wüste einfach sein würde, zu sterben. Aber ich schleppe mich immer noch durch die unsichtbar gewordenen Straßen dieser verlorenen Stadt. Bevor meine Geschichte zu etwas wird, das man in einem Museum ausstellt, muss ich sie zerstören. Ich muss vergessen, nicht erinnern. Je weniger an mich erinnert, umso weniger Schaden werde ich auf lange Frist angerichtet haben. Leute wie ich können nur zu Helden werden, wenn sie vergessen werden, denn nur unsere Uneitelkeit bewahrt andere davor, uns zu verfallen.
Die Welt liebt romantische Helden, weil sie glaubt ihnen etwas zu schulden. In der echten Welt, sind sie es nämlich, die als erste untergehen und unter unserer Grausamkeit zu leiden haben. Wir, die wir keinen Funken Romantik in uns tragen, aber die Welt lenken und glauben, dass unsere Perspektive die einzig rationale und richtige ist. Wir verdammen das Träumen, die Ideale, die Prinzipien, die Schönheit, weil sie uns unwirklich vorkommen. So verdorben sind wir. Und deshalb haben wir es nicht verdient, zu verweilen. Wir sind zu unmenschlich geworden.
In meinen Träumen ziehe ich umher, treffe Menschen, die mir nichts bedeuten und deren Gesichter ich nicht erinnern kann. Sie schicken mich von einem Ort zum nächsten, aber ich komme nie an. Ich komme immer nur fort. Es kümmert mich nicht, denn auf der Flucht fühle ich mich sicherer, als irgendwo sonst, irgendwo, wo man mich kennen lernen und ich Teil einer Gruppe werden könnte. Ich habe Geheimnisse und Geheimnisse sind eine Bürde, sind Verantwortung. Das Konzept des Geheimnisses fasziniert mich, seit ich ein Kind war. Etwas, das nur man selbst weiß und versteht, etwas, das einem ganz allein gehört. Ein Gefühl, eine Geschichte, eine Überzeugung, ein Name, ein Gesicht... Mit der Zeit wird man süchtig nach Geheimnissen und wie jede Sucht treiben sie einen in die Einsamkeit und in Verzweiflung.
Ich kann nicht atmen, ohne den Gedanken, dass das, was ich in meinen Körper aufnehme, um weiterleben zu können, vielleicht von jemand anderem ausgestoßen wurde, der danach nicht mehr eingeatmet hat. Ich stehle ihm den Sauerstoff und ich sehe ihre vorwurfsvollen Augen überall. Sie starren mich an aus dem verdorrten Gestrüpp, hinter geschlossenen, abgedunkelten Fenstern, in den Schatten, am Rande meines Spiegelbildes. Es ist, als hätte ich sie alle selbst erstickt. Manchmal glaube ich, sie sind im Wind und versuchen, mir die Luft aus den Lungen zu ziehen. Manchmal glaube ich, sie warten unter Wasser auf mich, um mich hinab zu ziehen. Ist es nicht albern, sich für den Tod aller Menschen verantwortlich zu fühlen. Ist man schuldig, weil man nicht selbst betroffen ist?
Dein Gesicht im Sand der Wüste, dein Körper tot und schlaff aufgehängt am letzten Baum vor der Todeszone, irgendwo weit draußen, wo nur ich dich finden konnte. Dein Blick im Spiegel. Deine Stimme im Wind. Dein Geruch hat sich in den Sitzen des Autos festgesetzt. Dann wieder dein Gesicht, diesmal auf einem Werbeplakat für Coca Cola, eingebrannt, eingerostet. Etwas von dir treibt den Fluss hinab. Etwas von dir vermodert im Wald. Etwas von dir verweht der Wind. Etwas von dir wartet am Boden jeder Flasche und in der Asche jeder Zigarette.
Ich übergebe mich erneut, falle vorn über und keuche. Vincent bleib stehen und wartet, als wäre meine Reaktion nichts Ungewöhnliches.
„Geht es wieder?", fragt er nach einer Weile. Inzwischen können Jahrhunderte vergangen sein.
„Ich bin nur etwas müde", sage ich, als müsste ich mich rechtfertigen oder gar um Entschuldigung bitten.
Menschen rauschen an mir vorbei wie gestern die Landschaft entlang des Highway. Ihre Namen lauten alle gleich. Ihre Gesichter sind nur verschwommene Farbkleckse und ihre Existenz ein kurzes Zucken in der Ewigkeit.
Wo ich aufgewachsen bin, gab es einen Baum, der mitten auf einem Feld stand. Um ihn herum gab es nur Gras und Gestrüpp, aber keine anderen Bäume. Dadurch hatte er Platz, groß und auslandend zu wachsen. Er wuchst symmetrisch und da das menschliche Auge Symmetrie schätzt, nach Meinung derselben: schön. Ich fragte mich damals, ob der Baum nicht einsam sei. Die Bäume im Wald jedenfalls wuchsen unförmig, schützten sich aber dafür gegenseitig vor dem Wind. Sie konkurrierten um Nährstoffe und Licht, aber sie befruchteten sich auch gegenseitig. Ich fragte mich, ob schöne Wesen immer einsam sind, oder ob einsame Wesen immer schön sind. Muss man für ein Leben ohne Rücksichtnahme den Preis der Einsamkeit zahlen oder benötigt man all diese Eitelkeiten, Schönheit, ein sicheres Nährstoffangebot, Entfaltungsfreiheit nur, wenn man durch keine Gemeinschaft geschützt ist?
„Wer bist du?", frage ich Vincent verzweifelt, „Wer bist du, gottverdammt noch mal?"
„Namen lenken nur vom Wesentlichen ab", sagt Vincent, „Du kennst mich und du weißt, dass ich nicht das Problem bin."
Doch du bist es! Du bist es! Du lässt mich nicht in Ruhe, du zerrst mich herum, du lässt mich nicht sein, du redest auf mich ein, obwohl ich das nicht will. Du bist übergriffig! Es ist mein Recht, mein gottgegebenes Recht, hier zu Grunde zu gehen!
Da ist plötzlich der Geruch von fauligem Fallobst, der die ersten kühlen Nächte ankündigt. Die verschwitzte, klebrige Feuchtigkeit in den Wäldern und das bedrohliche Summen der Insekten, die bereits ahnen, dass ihre Tage gezählt sind. Das ist zu Hause, aber es ist auch eine fremde Welt, in der ich nie richtig überleben konnte. Wie ein Fisch an Land. Es fehlte immer irgendetwas. Oder es war von etwas zu viel da.
Da ist plötzlich das grünliche Licht eines schweren Sommerabends. In den Gärten hört man Kinder lachen und Hunde bellen. Rauch steigt auf von den Feuerstellen, auf denen saftiges Barbecue zubereitet wird. Männer trinken Bier. Frauen trinken Limonade.
Irgendwo läuten die Kirchenglocken. Es läuten immer irgendwo Kirchenglocken. Vielleicht ist ja heute noch mal Chorprobe. Musik gehört zum Lebensgefühl der Menschen hier. Sie atmen, arbeiten, reden, leben und lieben in einem seltsamen Rhythmus.
Das drückende Wetter macht mich müde, aber ich genieße die Langsamkeit allenthalben. Ich döse weg, hinüber in einen Traum. Damals konnte ich das noch.
Die Welt ist unwirklich geworden, seit du nicht mehr da bist. Blasser und grauer und irgendwie fremdartig, feindlich. Du fehlst und erst jetzt frage ich mich, welche Rolle du in ihr eingenommen hast und welcher Part jetzt nicht mehr besetzt ist.
Wer hat das gesagt? Und über wen? Die Glocken läuten. Eine Beerdigung? Eine Taufe? Beinahe das selbe.
„Jeder Abschied wird irgendwann bereut", sagt Vincent, „Das liegt in unserer Natur. Ich bin ein Freund, Liz. Ein Freund ohne Hintergedanken."
„Heißt das, es ist besser, sich nie zu bewegen, nur um das Bild nicht zu zerstören?", frage ich, „Wo wären wir, wenn niemand jemals aus dem Rahmen gefallen wäre? Weiße Flecken, leere Flächen, das sind die Möglichkeiten, nicht das, was schon längst bepinselt und zig mal übermalt ist. Ist diese Welt wirklich eine Bühne, das Leben wirklich ein Theaterstück? Werden uns unsere Rollen zugeteilt? Wer führt Regie? Wer ist der Protagonist? Um wen dreht sich das alles? Was ist die Moral der Geschichte? Was können wir vom Leben lernen und wieso sollten wir? Am Ende sind wir alle allein in unserem Kopf. Wir sind umgeben von Ja-Sagern. Wenn wir fragen: „Soll ich meinen Job hinschmeißen und meinen Leidenschaften folgen?" werden all unsere sogenannten Freude uns Mut zu sprechen, denn es kostet sie nichts und es bereitet ihnen keine Arbeit. Aber sie fürchten sich davor, uns auszubremsen. Sollten wir jedoch scheitern, so sind sie fein raus, indem sie behaupten können, dass es ganz allein unsere Entscheidung und unsere Verantwortung gewesen ist. Wir wollten es ja nicht anders. Wir haben es nie anders gewollt. Es wird stillschweigend vorausgesetzt, dass wir unsere Entscheidungen bereits getroffen haben, wenn wir um Rat fragen. Es wird angenommen, wir wollen kein Nein und man müsse uns immer geben, was wir wollten, denn sonst könnten wir unleidlich werden. Das ist Freundschaft. Eine verlogene Gemeinschaft aus verängstigten Opportunisten, die sich mehr davor fürchten, in einen Streit zu geraten, als den eigenen Verstand zu bemühen."
Vincent reicht mir die Hand, zieht mich zurück auf die Beine und sagt: „Ein Problem wird nicht dadurch gelöst, dass man einen Schuldigen sucht und auch nicht dadurch, dass man ein Opfer benennt. Ein Problem wird nicht dadurch gelöst, dass das Opfer passiv bleibt und zusieht, wie andere es bemitleiden und sich anstrengen, ihm den Hintern abzuwischen und es wird auch nicht dadurch gelöst, dass man Sündenböcke dämonisiert, vertreibt, schlachtet und ausweidet. Ein Problem zu erkennen, bedeutet nicht, dass es bereits gelöst ist. Auch es zu benennen, reicht nicht. Es muss etwas getan werden. Jeder, der in der Lage ist, muss etwas tun. Wer nichts tut, obwohl er weiß, dass etwas getan werden müsste, läd Schuld auf sich, egal wie sehr er zuvor die Opferrolle für sich vereinnahmt hat. Manchen Opfern stehen keine Schuldigen gegenüber. Manche Probleme existieren einfach, ohne dass zuvor die Rollen verteilt wurden."
Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht: „Eine Verkettung ungünstiger Umstände."
„Eine Verkettung ungünstiger Umstände", bestätigt Vincent.
„Ich habe nie gelernt, andere zu respektieren", sage ich.
„So lange mal lebt, kann man dazu lernen", sagt Vincent, „Da vorne wohnt Alfred. Er versorgt uns mit Lebensmitteln und allem, was wir sonst so brauchen. Wenn du etwas brauchst, kannst du es einfach bei ihm bestellen. Er besorgt es dir. Er hat einen Lastwagen, mit dem er raus in die Stadt fährt."
„Er verlässt diesen Ort?", irgendwie habe ich geglaubt, dass all diese seltsamen Menschen hier wie Geister an diesen toten Ort gebunden sind. Einen wie Vincent kann ich mir kaum irgendwo anders vorstellen als hier. Er würde sofort untergehen. Er ist zu weich und zu zart für das echte Leben.
„Alfred ist Koch von Beruf", erzählt Vincent unbeirrt weiter, „Er kennt sich aus mit Lebensmitteln."
„Aber er arbeitet nicht mehr in seinem Beruf", werfe ich ein.
„Du doch auch nicht. Manchmal passieren Dinge und man muss sich umorientieren."
„Wieso ist er hergekommen?", frage ich, denn Alfred interessiert mich. Er scheint eine wirklich greifbare Person zu sein. Eine mit einer Vergangenheit, einer Vorgeschichte. Er hat einen Bruch in seinem Leben erlebt, aber er unternimmt hin und wieder Ausflüge in Realität.
Vincent, Eugene und Billy sind Feiglinge. Sie haben sich dazu entschieden, einfach nur zu sein, in der Gegenwart zu leben - als Sonderling, Taugenichts und Junkie. Eugene mag vielleicht einmal verheiratet gewesen sein, aber da war er noch ein anderer. Aus dieser Hülle hat er sich herausgeschält. Er ist jetzt voll und ganz aufgegangen in dieser Stadt. Er ist ein Geist geworden, weil genau das mit Feiglingen passiert.
Alfred, der diesen Ort hin und wieder verlässt, schein mir aus anderem Holz geschnitzt zu sein. Ich frage mich, ob es möglich ist, nur ein Teilzeit-Geist zu sein, oder ob das nicht doch nur die Definition für einen Heuchler ist.
Wir kommen an einen kleinen, improvisierten Laden. Die Tür ist geschlossen und Vincent klopft höflich. Es dauert eine Weile, bis uns Alfred öffnet. Ich bin enttäuscht. Er ist ein älterer Mann, der einmal sehr dick gewesen sein, in sehr kurzer Zeit aber viel an Gewicht verloren haben muss. Er sieht ein wenig ungepflegt aus. In der Brille, die er trägt, fehlt ein Glas. Mit dem entsprechenden Auge blinzelt er.
Sein Lächeln und seine Begrüßung sind verschlagen. Ich traue ihm nicht und plötzlich überkommt mich ein unerklärlicher Schauer.
Ursprünglich scheint dies ein Schuhladen oder eine Schuhmacherei gewesen zu sein, jetzt liegt in den Regalen allerlei unnützer – teils kaputter – Krimskrams. Alfred ist ein Sammler.
„Wir hätten gerne eine Flasche Wein", bittet Vincent.
„Gibt es etwas zu feiern?", fragt Alfred und seine Neugier stößt mich ab. Er kennt mich noch nicht einmal, interessiert sich aber schon für Gerüchte über mich.
„Es gibt immer etwas zu feiern", sagt Vincent, „Das Leben, den Tod, die Freiheit..."
„Wer ist die junge Dame?", fragt Alfred und zeigt mit dem Daumen auf mich. Es fühlt sich an wie eine unsittliche Berührung und ich weiche einen Schritt zurück.
Alfred hat Präsenz und ich sehe in ihm neben der Lebendigkeit auch die Gefahr, die in seiner Unberechenbarkeit liegt.
„Ihr Name ist Liz. Sie ist gestern Abend angekommen", erklärt Vincent. Dann sagt er zu mir: „Du musst Alfred sagen, welche Vorlieben du hast, damit er dir mitbringen kann, was du dir wünschst."
Ich zögere und frage dann: „Wie bezahlt er die Waren? Wie bezahlen wir den Wein?"
„Glaubst du wirklich an so etwas wie Geld?", fragt Alfred.
„Die ganze Welt glaubt daran", sage ich, „Was nutzt es also, wenn ich es ablehne?"
„Wenn du es ablehnst und ich es ablehne und Vincent es ablehnt, dann sind wir schon drei und wenn wir ein Feld bewirtschaften, sind wir unabhängig vom Glauben anderer Leute."
„Aber wir bewirtschaften kein Feld", sage ich.
„Es stört dich ernsthaft, dass wir unser Leben erhalten, auch wenn wir nicht bezahlen können, was wir brauchen?", fragt Alfred.
„Also stielst du?", frage ich.
„Ich nehme, was uns zusteht."
„Und wir?", frage ich Vincent.
„Bekommen, was wir wollen", antwortet er.
Ich fühle Beklommenheit, eine unbestimmte Enge in der Brust.
„Ich finde es nicht richtig, zu stehlen", sage ich schließlich.
„Wieso nicht?", fragte Alfred mitleidig, „Es ist nichts dabei. Überleg dir nur, was sie alles von dir genommen haben. Da kannst du dir ja wohl etwas zurückholen."
„Nur weil man selbst angeblich bestohlen wurde, bekommt man dadurch nicht automatisch einen Freibrief, selbst zum Dieb werden zu dürfen. Vincent, du hast selbst gesagt, dass zweimal Unrecht nicht Recht ergibt."
„Interessant, wie sehr du plötzlich auf die Moral eines gerechten Handels bestehst", sagt er mit einem süffisanten Grinsen auf den Lippen.
„Interessant, wie schnell du diese Moral über den Haufen wirfst", erwidere ich.
„Ach lasst doch diese Spitzen", versucht Alfred zu beschwichtigen, „Wie wäre es mit etwas Süßen, Liz? Ich habe Gummibärchen und..."
„Lakritzstangen", vervollständige ich den Satz. Jetzt bin ich vollständig davon überzeugt, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen vorgeht. Wie konnte Alfred davon wissen? Wieso ausgerechnet jetzt und hier: Gummibärchen und Lakritzstangen?
Ich war zwölf Jahre alt und meine Eltern hielten Zucker für das Heroin des Grundschulhofs. Ein Junge namens Bernie lebte etwas außerhalb der Stadt in einem Trailerpark und wenn es jemanden gibt, auf den Leute, die in windschiefen Holzhäusern leben, herabblicken, dann sind es Leute, die in Trailerparks wohnen. In Bernies Familie hielt man Heroin für den Zucker des Erwachsenenlebens und so schärften die verantwortungsbewussten Eltern ihren Kindern ein, nicht mit Bernie zu spielen, am besten gar nicht mit ihm zu reden und bloß nicht mit ihm nach Hause zu gehen. Darüber, dass man Bernie nicht bedrohen, verprügeln oder bestehlen sollte, sagten sie nichts.
Dass seine Kleidung immer schmutzig und aufgeschürft war, lag nicht daran, dass seine Eltern sich nicht um ihn kümmerten, sondern daran, dass Bernie jeden Morgen bereits auf dem Schulweg in den Dreck geschubst, geschlagen und getreten und am ihm herumgezerrt wurde. Die blauen Flecken und die Schürfwunden hatte er nicht von zu Hause, sondern von seinen Mitschülern mitbekommen.
Niemand hatte Mitleid mit ihm, denn wir hielten ihn für schwach. Wir sahen nicht, dass es ihm schlecht ging, denn wir glaubten, dass es uns allen schlecht ging und wenn wir schon kein Mitleid bekamen, hatte Bernie erst recht keins verdient. Wir waren wütend und unsere Wut entlud sich auf dem kleinsten, wehrlosesten Jungen, bei dem wir sicher sein konnten, dass die Eltern sich keine Gedanken über seinen Zustand machen würden. Kinder haben einen sehr ausgeprägten Sinn für Grausamkeit.
Das heißt, sie entwickeln einen solchen Sinn, wenn sie selbst zum Opfer von Grausamkeiten werden. Schläge ins Gesicht und auf den Hintern waren in fast jeden Haus an der Tagesordnung und der Psychoterror mit dem Tenor „Wir wollen nur das Beste für dich!", bohrte sich in unsere Schädel wie eine hartnäckige Lüge, die einfach nicht aufgibt, uns überzeugen zu wollen.
Neben vielen anderen Dingen, von denen meine Eltern glaubten, dass sie „das Beste für mich" seien, lautete ihr Grundsatz: Ein Kind sollte nicht verwöhnt werden, sonst wird es träge und widerspenstig. Das bedeutete in der Praxis: Was immer ich mir wünschte, bekam ich ganz grundsätzlich nicht. Wenn es nicht dazu diente, mich vorzeigbar zu halten, brauchte ich es nicht. Wenn ich Übermut oder Begeisterung zeigte, bekam ich es nicht. Wenn ich weinte, quengelte, jammerte, fluchte, bettelte, bekam ich es nicht. Ich sollte lernen, dass das Leben kein Zuckerschlecken ist und man sich mit dem arrangieren muss, was es einem zuteilt.
Ich war nicht zufrieden mit dem, was mir zugeteilt wurde, also beschloss ich, mir zu nehmen, was man mir verweigerte und weil ich es nicht von jemandem nehmen konnte, der stärker war, musste Bernie dran glauben. Wut gepaart mit Feigheit gepaart mit Neid. Bernie hatte Geld, um sein Mittagessen zu bezahlen, aber ein gezielter Schlag in die Magengrube reichte aus, damit er es mir aushändigte. Es waren nur ein paar Dollar, aber er blieb eine ganze Woche lang hungrig, während ich mir Gummibärchen und Lakritzstangen kaufte.
Ich kaufte und aß sie heimlich, gierig und ohne etwas zu schmecken. Geteilt hätte ich nicht einmal mit meiner besten Freundin. Ich stopfte mich voll, bis ich Bauchschmerzen bekam. Es war ein Racheakt gegen meine Eltern auf Bernies Kosten.
„Nein", sage ich, „Nein. Gibt mir den Wein stattdessen!"
Es ist eine billige Flasche mit Schraubverschluss, ich öffne sie und hänge sie mir an den Hals. Der Wein ist süß und klebrig. Ich werfe die Flasche auf den Boden und spucke aus, was ich noch im Mund habe. Der rote Saft versickert im Sand wie Blut und ich schnaube Vincent an: „Was wird hier gespielt?"
„Nichts", sagt er unschuldig, dann ernster, „Das hier ist kein Spiel. Wer das Leben als Spiel wahrnimmt, versteht nicht seinen Wert."
„Wert. Wert? Was ist schon ein Wert?", brülle ich, „Was ist schon eine Tugend? Eine Moral? Eine Gerechtigkeit? Es geht nur darum, wer der Stärkste ist. Wir befinden uns permanent in einem Wettbewerb und ich werde mich von dir nicht austricksen lassen!"
„Austricksen? Wer hat denn hier wen ausgetrickst?", fragt Alfred, „Ich bin nur ein Schauspieler, der auf Zuruf das improvisiert, was das Publikum verlangt. Vielleicht agiere ich manchmal eher plump, so wie ein Politiker, aber ich habe sicher nichts Böses im Sinn. Ich will dich nicht verführen. Nicht zu Zuneigung und nicht zu Hass. Du schreckst lediglich vor deinem eigenen Spiegelbild zurück. Schrecken ist heilsam. Erschrecken über andere ist ebenso gut wie der Erschrecken über sich selbst. Nur darf es nicht zu Scham verkommen oder dem Vertrauen auf Vergebung. Das wäre Selbsttäuschung. Es ist möglich ein besserer Mensch zu werden, auch wenn der Hass uns das nicht erkennen lässt. Hoffnungslosigkeit ist nicht unserer Befreiung."
„Ich dachte, du wärst ein Koch?", frage ich.
„Oh, wir sind alle zu allererst Schauspieler. Erst wenn wir das verstanden haben, können wir ehrlich sein."
„Du sprichst von Ehrlichkeit? Du bist ein Dieb!", sage ich.
„Ich bin noch mehr als das", sagt Alfred und zwinkert mir zu, „Ich bin ein Betrüger und vorbestraft wegen eines Verstoßes gegen die Hygienerichtlinien für Gastronomen im Staate Kalifornien. Du siehst, jeder Mensch steckt voller versteckter Fassetten."
Ich verziehe mein Gesicht zu einem Ausdruck von Ekel.
„Niemand ist krank geworden", versichert er mir, „Niemand ist gestorben. Aber sag mir, wäre es besser, gute Lebensmittel zu verschwenden? Was würden die Menschen dazu sagen, die in Ostafrika verhungern? Wäre es nicht undankbar?"
„Ich weiß nicht, wem ich dankbar sein sollte", sage ich.
„Na, unserem Vincent zum Beispiel. Dafür, dass er sich deiner annimmt."
„Dafür, dass er mich nicht gehen lässt?"
„Dafür, dass er dafür sorgt, dass du in Sicherheit bist."
„In einem Gefängnis ist man auch in Sicherheit", sage ich.
„Aber frei ist man auch im Tode nicht", sagt Vincent.
„Das ist eine nicht belegte Aussage."
„Wieso bist du so knauserig mit deinem Leben?", fragt Alfred, „Wieso willst du es mit niemandem teilen? Es ist doch genug davon da. Du bist jung und gesund. Geiz und Selbstsucht führen zu Einsamkeit."
„Vielleicht gefällt es mir so", sage ich.
„Würde es dir gefallen, wärst du nicht hier her gekommen", meint Vincent.
„Möchtest du also die Süßigkeiten?", fragt Alfred, bevor es zwischen Vincent und mir eskaliert, „Sie sind geschenkt."
„Gestohlen", murmele ich.
„Geschenkt", insistiert Alfred und drückt sie mir in die Hand, „Geschenkt und frisch. Weil ich dich mag und weil du dich hier wohlfühlen sollst. Ohne Hintergedanken. Einfach, weil es gütig ist, zu teilen."
Ich nehme die Gummibärchen und die Lakritze und ich akzeptiere Alfreds Lüge. Lügen sind so etwas wundervoll Reales, Entspannendes. Ich verzeihe sogar Vincent sein gluckenhaftes Verhalten, als er mich wieder bei der Hand nimmt und zurück zu seinem Häuschen führt.
„Es war ein bisschen viel heute. Das verstehe ich. Du kannst deine Süßigkeiten essen und dann schlafen, wenn du willst."
So eine Aussage sollte mich eigentlich sauer werden lassen, aber nichts habe ich mir als Kind mehr gewünscht als die Freiheit eines „du kannst, wenn du willst"-Satzes. Etwas zu dürfen, ist etwas völlig Neues für mich. Bisher „musste" ich immer oder musste mich über Verbote hinwegsetzen und Strafen in Kauf nehmen. Keine Angst und keinen Zwang zu verspüren, entspannt mich mehr als das Bewusstsein, dass ich es eigentlich nicht nötig habe, mir etwas absegnen zu lassen, mich alarmiert.
Ich verbringe die Nacht in meinem Auto, weil Vincent es mir erlaubt. Ich trinke nichts von meinem Wodka, weil Vincent meint, dass ich das heute nicht brauche. Ich schlafe, weil er sagt, dass ich es kann und ich träume, weil niemand es kontrollieren kann. Sicherheit ist ein falscher Freund, das weiß ich wohl, aber für eine Nacht, für einen Traum die Kontrolle aufzugeben, ist mein letztes Zugeständnis an meine Menschlichkeit. Wer weiß, was ich morgen sein werde? Eine Göttin oder ein Geist?
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top