Dienstag, 02. Juli
Eugene
Eugene lebt in einem ehemaligen Hotel, von dem nur noch wenig mehr als die Fassade steht. Über die Stellen, an denen das Dach fehlt, hat er Planen gespannt. Darunter steht die Hitze und der Wind weht Sand herein.
Vincent begrüßt, den kleinen, nagetierhaften Mann mit Handschlag. Eugene geht etwas gebeugt, als verspüre er jederzeit das Bedürfnis, sich unterwerfen zu müssen. Der geborene Omega-Wolf.
Es gibt diese Menschen, bei denen man nicht erklären kann, wieso man eine Abneigung gegen sie empfindet. Sie sind weder gefährlich, noch gehen sie einem auf die Nerven und dennoch löst ihre Anwesenheit Unbehagen aus. Eugene ist so ein Mensch. Seine offensiv zur Schau gestellte Schwäche, bereitete mir Gänsehaut. Dieser Mann bedeutet Scherereien, undankbare Scherereien.
Seine Begrüßung ist servil, beinahe unterwürfig, als wüsste er, dass er in der Rangordnung hinter mir kommt. Seine natürliche Position ist die Hintere. Ängstlich und scheu um die Ecke lugend, niemals ein Wort sagend, wenn er nicht angesprochen wird. Kurz: Er ekelt mich an.
„Herzlich Willkommen", sagt er und ich murmele etwas, das wie ein Dankeschön klingen soll, sich aber wohl eher nach „Lass mich bloß in Frieden!" anhört.
„Das ist nicht der schlechteste Ort, weißt du. Es gibt Schlimmeres."
„Aha.", sage ich, damit er merkt, dass es mich nicht interessiert und dass ich schnellstmöglich von hier weg will.
„Er kennt sich aus", sagt Vincent freundlich, um das Gespräch in Gang zu halten.
„Oh ja, das stimmt", sagt Eugene, „Dieses Land ist voller Möglichkeiten, aber es kann auch grausam sein."
„Manche Menschen sind eben nicht für Möglichkeiten geschaffen", sage ich mürrisch.
„Und manche Möglichkeiten sind nicht für alle Menschen geschaffen", erwidert Eugene und lächelt, „Aber was nutzt es, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Was hätte sein können, ist das, was nicht ist. Und das, was nicht ist, ist nicht wert, darüber zu spekulieren."
„Gesunde Einstellung", sage ich.
„Eugene ist noch nicht lange hier, aber er hat sich schon gut eingelebt", sagt Vincent, „Als er hier ankam, glaubte er auch, sein Leben sei zu Ende."
Langsam zweifele ich daran, hier meinen Plan umsetzen zu können. Offensichtlich setzt Vincent alles daran, die Leute hier von ihren Vorhaben abzuhalten. Warum? Um Gesellschaft zu haben? Wer von uns beiden ist jetzt bitte grausam?
„Das war es auch", sagt Eugene, „Es war zu Ende, sodass ich hier neu beginnen konnte. Ich bin ein völlig neuer Mensch."
„Wird er die Stadt je wieder verlassen können?", frage ich Vincent so leise, dass Eugene es nicht verstehen kann.
„Nein, aber das muss er auch nicht. Er will es auch nicht", flüstert Vincent zurück. Lauter sagt er: „Wir sind ein Asyl für alle Gestrandeten und bieten Hilfe für alle, die glauben, keine Hilfe zu benötigen oder in Anspruch nehmen zu dürfen."
„Ist das euer Wahlspruch?", frage ich, „Ist das hier so eine Art betreutes Wohnen für Gescheiterte?"
Plötzlich fühle ich mich allem hier sehr fremd. Ich bin falsch hier, denn ich bin nicht gescheitert, ich habe lediglich mein Schicksal selbst in die Hand genommen. Wer immer behauptet, Selbstmord sei nur ein Hilferuf, hat keine Ahnung. Da mag der Wunsch der Vater des Gedanken sein. Menschen wie Vincent glauben, labile Menschen führen zu können und damit etwas Gutes zu tun. Aber das tun sie nicht. Sie entheben ihre Schützlinge ihrer Entscheidungsfreiheit und versetzen sie in einen Zustand der Abhängigkeit. Vincent gefällt sich in der Rolle des Kümmerers, das fällt mir schon auf, seit ich ihn heute Morgen getroffen habe. Aber ich bin nicht wie Eugene und lasse mir das gefallen. Ich will nicht in die Rolle eines Kindes zurückgeworfen werden.
Die Kindheit ist für mich keine Zeit der Sorglosigkeit und Unbeschwertheit gewesen und ich glaube, dass das gut so war. Heute hänge ich diesen Trugbildern nicht nach, wünsche mir nicht, noch mal an den Weihnachtsmann glauben zu können. Kinder aus intakten Familien neigen dazu, behäbig und satt zu sein. Sie neigen zu einer Anspruchhaltung und zu Enttäuschung. Ihnen fehlt der klare, messerscharfe, analytische Blick des Zynikers.
„Es ist ein Platz für die, die keinen Platz mehr haben", sagt Eugene, „Auch Menschen wie wir, haben ein Recht auf Existenz."
Aber doch bitte nicht in meinem Blickfeld, denke ich und beiße mir auf die Zunge. Dieser Mann macht mich aggressiv. Er ist ein Opfer. Von der Evolution in jeder Hinsicht benachteiligt. Geistig und körperlich.
Ich habe Männer wie ihn schon öfter gesehen. Es ist ihnen nicht peinlich, in der Öffentlichkeit zu weinen. Sie geraten ständig an irgendwelche persönlichen Grenzen, brauchen ständig Hilfe, sind überfordert mit ihrem ganzen Leben. Eigentlich müssten sie einem leidtun, aber Eugene hier widert mich einfach nur an.
Ich sage: „Ich gehöre nicht hier her. Ich bin kein Mensch wie du!"
„Sind Sie also eine Außerirdische?", fragte Eugene und glaubt, einen Scherz gemacht zu haben. Außer Vincent lacht niemand.
„Nein, ich bin nur nicht so...", ich will nicht „erbärmlich" sagen, sage es aber dann doch. Eugene ist es bestimmt gewohnt, was soll es also?
„Wenn es nicht deine Erbärmlichkeit ist, was führt dich denn sonst hier her?", fragt Eugene und ich glaube, mehr Mut hat er in seinem ganzen Leben nicht aufgebracht. Meine Provokation hat ihn aus der Reserve gelockt und er beginnt zu schwitzen. Ihm ist es peinlich, mich zu konfrontieren, ich lechze danach.
„Würde", sage ich, „Ich beanspruche einen würdevollen Abgang für mich. Allein. Nach meinen Regeln. Ich werde hier nicht bleiben und ich würde sagen, dass es mich gefreut hat, dich kennen zu lernen, aber ich habe auch nicht mehr vor, so kurz von meinem Ende zur Lügnerin zu werden."
Vincent blickt mich überrascht an: „Ich hätte alles von dir erwartet, aber nicht, dass du keine Lügnerin bist."
„Und ich hätte alles hier erwartet, außer einer Gemeinschaft von Versagern, die in der Wüste Gruppentherapie spielen."
„Sie ist noch ein bisschen schüchtern", sagt Vincent, „Sie muss sich erst noch akklimatisieren."
Langsam geht er mich auf die Nerven. „Ich glaube, du hast mich falsch verstanden, aber ich werde hier nicht bleiben!"
„Wohin willst du gehen? Ins Gefängnis? Ins Irrenhaus? Willst du in der Wüste verdursten?", fragt Eugene.
„Was ist dieser Ort denn anderes als ein Gefängnis für Irre, die langsam aber sicher zu Grunde gehen?", frage ich.
„Langsam", sagt Eugene, „das ist der Unterschied. Hier geht es langsamer und schmerzloser als drüben in der Stadt. Hier ist man nicht einfach nur eine Nummer oder jemand, der durchs Raster gefallen ist, eine statistisch vernachlässigbare Ausnahme. Hier ist man jemand. Man hat einen Namen und man wird wertgeschätzt, so wie man ist. Ja, wir gehen zu Grunde. Wir alle tun das. Aber hier können wir den Prozess verlangsamen."
„Ich habe kein Interesse an Schmerzlosigkeit", sage ich, „Ich muss nichts betäuben, ich komme sehr gut zurecht. Ich halte das Leben aus. Ich halte auch den Tod aus."
„Wenn du das Leben aushalten würdest, wieso würdest du dann den Tod wählen?", fragt Eugene.
„Weil ich nicht feige bin", sage ich.
„So? Du hältst also die Lebenden für feige?", fragt Vincent.
Ich halte inne, bevor ich etwas Unüberlegtes sage.
„Feigheit ist ein leichtfertiges Argument", sagt Eugene, „Ich habe es schon so oft gehört. Sei nicht so zögerlich! Geh mal ein Risiko ein! Mach mal was aus deinem Leben! Es ist sehr einfach, so etwas zu sagen, weil es nichts kostet und weil man so einen dankbaren Schuldigen gefunden hat. Aber es ist nicht immer Feigheit, die einen in die Misere bringt. Es sind die Risiken, die andere auf deinem Rücken eingehen."
Es ist genau dieses Gejammer, das ich nicht ertrage. Immer sind die anderen schuld. Nie hat man selbst etwas versäumt. Als wäre es so schlimm, das zuzugeben! Jeder macht doch Fehler. Es ist nichts Verwerfliches, aber Leute wie Eugene suchen zuerst nach einem Schuldigen und dann nicht mehr nach einer Lösung und das ist der Grund, warum sie abrutschen. Sie handeln problem- und nicht lösungsorientiert.
Ich muss mir das nicht anhören. Ich will mir das nicht anhören. Ich will viel lieber davon laufen. Gesichter wie das von Eugene regen mich auf. Sie blicken einen von unten herauf an, können kaum die Tränen verbergen und man sieht ihnen an der Stirn an, dass sie nicht die geringste Ahnung habe, was sie tun sollen. Sie brauchen immer jemanden, der sie anleitet, der ihnen sagt, was sie tun sollen. Dabei war es genau diese Haltung, die sie überhaupt erst in die Bredouille gebracht hat.
In meinem Job nannten wir solche Leute „Hasenfüße", leichtgläubige, sicherlich aufrichtige, ehrliche Menschen, die sich über den Tisch ziehen ließen, damit wir dann für sie die Kuh von Eis holten. Sie sind die Lieblinge der Medien, die Angesprochenen in jeder wohlklingenden Wahlkampfrede der Demokraten. Dabei werden sie auch von denen nur benutzt und verarscht.
Da lob ich mir den die Ehrlichkeit derer, die nicht zu verstecken versuchen, dass sie in diesem Spiel die Rolle des Unsympathen spielen. Auf euch, ihr multinationalen Konzerne mit euren ausbeuterischen Geschäftspraktiken! Zumindest schafft ihr es, euch souverän in den Untiefen des Kapitalismus zu bewegen!
„Geld ist keine eigenständige Intelligenz", sagt Eugene plötzlich, „Obwohl gerne so getan wird. Der Markt ist keine handelnde Person und auch die Händler sind nicht unbedingt intelligent. Es reicht, wenn sie skrupellos sind. Skrupellosigkeit wird oft mit Geschäftstüchtigkeit verwechselt."
„Und Unwissen oft mit Schuldlosigkeit", sage ich.
Vincent spürt, dass ich drauf und dran bin, abzuhauen und greift zur Sicherheit nach meiner Hand. Er hält mich fest, als wollte er sagen: „Und das hörst du dir jetzt an!" Es ist ein vorwurfsvoller Griff, einer der weiß, was in mir vorgeht und es nicht durchgehen lässt. Ich finde es unverschämt. Ich schulde diesen Menschen nichts. Nicht meine Anwesenheit und nicht meine Aufmerksamkeit. Nicht einmal mein Mitgefühl.
„Ich bin nicht immer so gewesen, weißt du", sagt Eugene, „Ich war mal jemand. Niemand Bedeutendes, aber ich hatte alles, was ich brauchte, um glücklich zu sein. Ein kleines Häuschen, eine Frau, zwei Kinder, einen guten Wagen und einen Job, mit dem ich unser Leben finanzieren konnte. Ich gehörte zu denen, die man gemeinhin als das Rückgrat dieser Gesellschaft bezeichnet."
Ich bin jetzt schon gelangweilt. Das wird so eine herzzerreißende Absteigergeschichte, bei der man am Ende auf das System und auf die Politik schimpft. Mir ist das jedoch zu einfach. Das System ist zum Beispiel nicht dazu da, deine Eheprobleme zu lösen.
„Meine Frau hat mich verlassen, nachdem sie damit drohten, das Haus zu pfänden", erzählt Eugene. Was dazwischen passiert ist, lässt er aus, aber ich kenne die Geschichten.
Ich habe diese und ähnliche Schicksale schon häufiger mit angesehen. Um genau zu sein 18.585 Mal. Das ist die Anzahl der Familien, die um ihre Geldanlagen geprellt wurden und gegen die unsere Kanzlei eine Investmentfirma verteidigen musste.
Die Medien zeigten jeden Tag Familien mit großen, tränendurchwirkten Kulleraugen, um davon abzulenken, dass diese Menschen erwachsen genug hätten sein müssen, um Verträge, die sie nicht verstanden, nicht zu unterschreiben. Mein Mitleid für Gier gepaart mit Unwissenheit hält sich in engen Grenzen.
Die Geschichte ging so: Diese zugegebenermaßen windige Investmentfirma kaufte Anteile von irgendwelchen Forderungen und erhoffte sich, über die Zinsen enorme Profite generieren zu können. Die Kunden konnten in dieses Geschäft investieren und hoffen, ihren Anteil des Profits absahnen zu können. Nun stellte sich aber heraus, dass es sich bei diesem Geschäftsmodell weniger um eine Geldanlage, als um ein riesiges Schneeballsystem handelte. Die Forderungen, die im Zentrum des Geschäfts standen, waren so faul, dass sie nichts einbrachten und die Auszahlungen der Anleger mit den Einzahlungen neuer Kunden beglichen werden mussten. Das ging natürlich nur eine begrenzte Zeit lang gut und wer seine gesamten Ersparnisse in der Hoffnung auf fette Rendite angelegt hatte, der konnte seinem Geld nur noch hinterher winken, sah es aber nie wieder.
Die Sache war groß genug, um die Medien auf den Plan zu rufen und es kam zu einer Welle der Empörung. Jeder, der sich als armes Opfer profilieren wollte, bekam seine Chance. Niemandem schien es peinlich zu sein, zuzugeben, über den Tisch gezogen worden zu sein. Alle Hemmungen fielen, aber von Mitleid kann man seine Hypotheken nicht bedienen und so verloren nicht wenige dieser 18.585 Personen ihr Heim.
Was für ein verlogenes System: Man verliert, muss einen Seelenstriptease vollführen und bleibt dennoch auf der Verliererseite. Im Fernsehen in Tränen auszubrechen nutzt rein gar nichts.
Ich lernte damals, dass man von niemandem Hilfe erwarten konnte. Die Firmen wollen nur dein Geld und die Medien nur deine Emotionen. Niemand interessiert sich wirklich für dich. 18.585 Menschen standen vor dem Ruin und alles, was sie bekamen, war die moralische Unterstützung der Gaffer.
Dabei stellt sich durchaus die Frage, wer hier seiner Gier hemmungslos nachgegeben hat. Jeder weiß, dass Investitionen, die abnorm hohe Renditen versprechen risikobehaftet sind. Trotzdem haben sie ihr Geld dort eingezahlt. Jeder weiß, dass man Dingen, die man nicht versteht, misstrauen sollte. Trotzdem haben sie alle ihre Unterschriften gemacht. Sein ganzes Geld zu verlieren, ist kein Schicksalsschlag, es geht meist mit einem freiwillig getätigten Federstrich einher.
Ich will nicht glauben, dass ich hier, mitten in der Wüste nun ausgerechnet einen dieser 18.585 Menschen vorfinde, Eugene kann auch auf eine völlig andere Masche hereingefallen sein, aber es berührt einen Nerv in mir.
Ich sage: „Vielleicht hast du dich einfach überschätzt."
„In was für einer Welt würden wir leben, wenn wir immer davon ausgehen müssten, belogen zu werden?", fragte er mich.
„In einer realistischen."
„Du findest also, man trägt die Schuld auch dann, wenn man belogen und betrogen wird? Man hätte es einkalkulieren müssen?"
Ich sage nichts. Ich bin es leid. Es ist mir egal, wer schuld daran ist, dass Eugene pleite ist. Ich bin es nicht. Ich habe ihm sein Geld nicht gestohlen. Warum also hält er mir diese Moralpredigt?
„Gier nach ein bisschen Glück. Ist es verwerflich, ein paar kleine Träume zu haben? Eine Absicherung im Alter. Das Eigenheim abbezahlen. Den Kindern die Ausbildung finanzieren. Ist es falsch, diese Dinge zu wollen und zu glauben, dass andere einem dabei helfen, sie zu erreichen? Es ist keine Verschwendung, in die Zukunft seiner Familie zu investieren. Jeder Politiker wird dir das bestätigen. Ist es schändlich, zu wollen, was andere einem vorleben, was andere bewerben als eine gute, sinnvolle Sache?"
„Es ist naiv zu glaube, dass jemand einem hilft", sage ich.
„Das ist die Gier nach Macht", sagt Eugene.
„Ach, komm schon. Man muss es auch nicht überdramatisieren", sage ich.
„Doch", besteht er, „Macht, denn Geld brauchen dieser Leute nicht. Körperschaften haben auch keine Träume und keine Kinder. Sie gehen nicht in den Ruhestand und haben keine Lebensführungskosten. Es geht ihnen darum, zu bestimmen, andere zu überlisten, ihnen etwas abzuluchsen. Gier kann Lust sein, Freude am Leben. Oder Zerstörung und Geringschätzung. Es kommt drauf an, ob man bereit ist, andere zu schröpfen, um sich selbst etwas Gutes zu tun."
„Und du glaubst, dass du niemanden schröpfst?", frage ich, „Wer hat deine Kleidung zusammengenäht? Wer hat den Mais angebaut, den du isst? Wer hat das Haus gebaut und verlassen, das du jetzt bewohnst? Glaubst du, du profitierst nicht vom Leid anderer? Wie selbstgefällig!"
„Und zweimal Unrecht ergibt Recht?", fragt Vincent dazwischen.
„Nein", sage ich, „aber zweimal Unmoral ergibt auch nicht Moral."
„Ich hielt dich für eine Person, die Moral eher verlogen findet", sagt Vincent.
„Ich finde nicht wichtig, wofür du mich hältst", sage ich.
„Der Nihilismus der verhinderten Selbstmörderin. Du machst es dir sehr einfach, Liz", sagt Vincent, „Du kommst nicht drum herum zu existieren, das hast du vielleicht noch nicht verstanden. Selbst wenn du tot bist, wirst du Leute und Ereignisse beeinflusst haben und weiter beeinflussen. Du kannst die Erinnerungen anderer nicht auslöschen. All deine Sünden sind nicht verschwunden, nur weil du nicht mehr lebst. Du machst dich damit nicht rückgängig, du nimmst dir nur die Chance und Notwendigkeit, dich den Konsequenzen deiner Taten zu stellen."
„Du glaubst, ich finde Moral verlogen und doch appellierst du an mein Gewissen", bemerke ich.
„Ich appelliere an deinen gesunden Menschenverstand."
„So etwas besitze ich nicht", behaupte ich.
„Jeder besitzt so etwas", sagt Eugene und klingt plötzlich mitleidig mit mir. Etwas, was mich noch mehr auf die Palme bringt.
„Du musst es ja wissen", schnappe ich zurück.
„Das Problem ist, dass es dir zu weh tut, zu erkennen, dass du die Welt zu schnell in Gut und Böse einteilst. Du willst dir nicht eingestehen, dass du Fehler machen könntest und du willst nicht verstehen, dass Gut und Böse komplexer sind als dein Urteil. Wovor hast du Angst? Davor ertappt zu werden? Davor Reue zu zeigen? Schwäche?"
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen", sage ich.
Was ist das hier? Ein Trip zurück zu allen Verfehlungen meines Lebens? Ich habe doch schon zugegeben, dass ich bei Jeremy einen Fehler gemacht habe! Wieso jetzt diese Gardinenpredigt? Wem kann man es verdenken, wenn er den Rahmen des Gesetzes ausreizt, um im Sinne unseres Wirtschaftssystems erfolgreich zu sein?
„Oh, ich habe dir nie etwas unterstellt", sagt Eugene in einem entschuldigenden Ton, für den ich ihm eine Ohrfeige verpassen will.
„Ich wünschte, du hättest es", sage ich.
„Dann müsstest du dir die Vorwürfe nicht selbst machen", stellt Vincent fest, „Du bist besser im Angriff auf andere als in der Verteidigung deiner selbst. Nein, Liz, du kennst überhaupt nur den Angriff. Entweder du greifst andere an oder dich selbst. Hör dir nur mal an, wie dünn deine Rechtfertigungen sind. Du glaubst sie ja selbst nicht!"
„Glauben ist in jeder Hinsicht ungesund", sage ich.
„Die Welt wäre eine bessere, wenn es etwas gäbe, auf das man vertrauen kann", sagt Eugene, „und wenn es nicht Gott ist, so müssen es die Menschen sein. Man darf sich von schlechten Erfahrungen nicht die Hoffnung darauf vermiesen lassen."
„Hoffnung ist ein nutzloses Wort", sage ich, „Wo führt es uns schon hin, außer in die Irre."
„Zu einem besseren Selbst und einer besseren Gesellschaft", sagt Vincent, „Es mag Rückschläge geben und Niederlagen, aber man darf das Ziel nicht aus dem Blick verlieren."
„Ich hatte ein Ziel, als ich hier her kam", sage ich, „Aber du versuchst, es mir auszureden."
„Nein, du hast dein Ziel verloren und bist deshalb mutlos stehen geblieben, in der Hoffnung die Zeit und die Erde würde es dir gleich tun. Aber sowohl die Uhr als auch dieser Planet drehen sich weiter und wenn du nicht aktiv daran teilnimmst, deine Zeit und deine Umgebung zu gestalten, wird alles gegen deinen Willen geschehen."
„Vincent, warum spielst du dich hier so auf?", frage ich, „Was geht es dich an? Es könnte dir egal sein, ob ich lebe oder sterbe. Bis vor ein paar Stunden wusstest du nicht einmal, dass ich existiere."
„Aber jetzt weiß ich es und das macht den Unterschied. Ich bin nun mit verantwortlich für dein Leben wie du auch mitverantwortlich bist für das meine, das von Billy und das von Eugene. Siehst du nicht, was ich versuche zu tun? Ich gebe dir Gründe zum Weiterleben. Mag sein, dass du allein und abgekoppelt von der Welt warst, als du keinen Sinn mehr darin sahst, weiterzuleben, aber jetzt hast du neue Beziehungen, Freunde, Menschen, die sich Sorgen machen, die dich nicht verurteilen. Trost bedeutet Akzeptanz. Ich bin nicht dein Gegner, ich bin derjenige, der dir hilft, dich zu reinigen."
„Vielleicht will ich ja schmutzig bleiben. Vielleicht finde ich es unerhört, sich reinzuwaschen von Sünden, die man begangen hat und nicht mehr rückgängig machen kann", sage ich, „Eugene und seinesgleichen machen es mir schwer, meine eigene Entscheidung zu akzeptieren, weil sie sich entscheiden, weiterzuleben."
„Sie lassen dich schäbig wirken", sagt Vincent.
Es ist meine Art, immer das letzte Wort haben zu müssen, aber es fällt mir einfach nichts ein, das ich kontern könnte. Stattdessen kann ich die Tränen erneut nicht mehr zurückhalten. Ich ertrage das alles nicht ohne Alkohol. Diese Konfrontation, diese Erinnerungen, diese Leuterung. Ich fürchte mich davor, was noch kommen könnte. Kurz vor dem Tod, heißt es, sieht man sein Leben wie in einem Film an einem vorbei ziehen. Ist es das, was hier gerade passiert? Und wenn es so ist, was wartet am Ende auf mich? Ich bin vor etwas geflüchtet, nicht um in der Wüste diesen Dämonen wieder zu begegnen, damit diese mir dann Absolution erteilen.
Ich bin nicht schlechter dran als die 18.858 Familien. Ich habe es nicht verdient, dass sie mit mir Mitleid haben.
„Wer sich aus dem Staub macht, ist schäbig. Aber du bist ja jetzt hier, das ist sehr mutig von dir", sagt Eugene versöhnlich, „Ich wünschte, meine Frau wäre so mutig gewesen."
„Wenn sie ihr Leben in die eigenen Hände genommen hat, ist sie mutig gewesen", gebe ich zurück.
„Hat sie das? Hat sie sich nicht eher an unsinnige Konventionen gekettet? Den Partner zu verlassen, wenn der ins Straucheln gerät. Ist das nicht eher verletzter Stolz?"
„Ich frage mich, wessen Stolz verletzt ist", sage ich.
„Du hast Recht. Vorwürfe sind schlechte Verhandlungsargumente. Schweigen wir davon. Sie wird ihre Gründe gehabt habe, so wie wir alle unsere Gründe haben."
„Und sie sind zu respektieren", sage ich mit Blick auf Vincent.
„Sind sie das? Soll man nicht eingreifen, wenn man jemanden in sein Verderben rennen sieht?"
„Kommt drauf an, wie man „Verderben" definiert", sage ich.
„Für mich hat es unter anderem die Form eine Wodka-Flasche", sagt Vincent, „Komm mit, lass uns zu Alfred gehen, vielleicht hat er etwas Angemesseneres vorrätig. Eine schöne Flasche Rotwein zum Abendessen? Was sagst du, Liz? Nach so einem anstrengenden Tag?"
Ich bin zu schwach, um abzulehnen. Also verabschieden wir uns von Eugene und ziehen weiter zum nächsten Haus der Siedlung.
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