Dienstag, 02. Juli


Billy


Das Problem ist, dass ich mir selbst mehr leid tue, als mir Jeremy leid tut. Ich gebe ihm die Schuld dafür, dass ich mich schuldig fühle.

„Ein bisschen hast du mich an ihn erinnert", sage ich, „Ich weiß nicht, wo Jeremy jetzt ist, aber er könnte an einem Ort wie diesem sein."

„Freiwillig oder unfreiwillig?"

„Ich glaube nicht, dass man diese Wörter noch definieren kann", sage ich.

„Glaubst du denn, er wäre hier glücklich?"

„Wer wäre hier schon glücklich? Entschuldige, wenn dich das beleidigt."

„Lass das", sagt Vincent, „Bitte um Entschuldigung, wenn du es wirklich so meinst, nicht wenn du damit nur Streit vermeiden willst!"

Ich nicke, um einen Streit zu vermeiden.

„Komm mit, ich will dich jemandem vorstellen", sagt Vincent und zerrt mich von meinem Wagen.

„Ich glaube nicht, dass das notwendig sein wird", erwidere ich, „Ich weiß nicht, ob ich hier bleiben will. Eigentlich bin ich schon viel zu lange hier. Ich sollte schon längst weg sein."

Ich halte ihm die Flasche unter die Nase und mit einem geschickten Griff entwindet er sie meiner Hand und entleert den Inhalt vor meine Füße.

„He!", rufe ich entsetzt.

„Ich habe gesagt, du sollst mitkommen! Und zwar auf deinen eigenen zwei Beinen!"

Also folge ich ihm und trotte zu einer der weniger verfallenen Hausruinen entlang der Straße, an deren Anfang Vincents Hütte steht.

„Billy wird dir gefallen. Aber sag ihm nicht, dass du Alkohol dabei hast. Es tut ihm nicht gut zu wissen, dass Alkohol in der Nähe ist, wenn du weißt, was ich meine."

„Schon gut."

Er appelliert an meine gute Erziehung und ich frage mich, was von meinem Verhalten auf Erziehung und was auf gesunden Menschenverstand zurückzuführen ist. Würde ich einem trockenen Alkoholiker ein Bier unter die Nase halten? Sicher nicht. Obwohl es mir nicht schaden würde. Aber es gehört sich einfach nicht, jemand anderen ins Unglück zu stürzen. Wenn man selbst nichts davon hat...

„Was?", fragt Vincent.

„Nichts", sage ich schnell.

„Ich gehe ihn jeden Morgen besuchen, weil er nur noch schlecht aus dem Haus kommt. Er freut sich immer über ein bisschen Gesellschaft. Wir kümmern uns hier alle umeinander und um Billy muss man sich besonders kümmern."

„Aha", sage ich.

„Er hat es nicht leicht gehabt. Als er hier ankam, war er schon halbtot. Wir wissen nicht, wie viel Zeit er noch hat, aber wir tun unser Bestes. Er hat kein schönes Leben gehabt, weißt du. Es gibt diese Menschen, die einfach durch's Raster fallen, weil sie nirgendwo dazu gehören. Aber jetzt gehört er zu uns." Es hört sich an wie eine Drohung, als Vincent „Und du bald auch!" hinzufügt.

„Ich weiß nicht, ob ich die Richtige bin, um Billy Gesellschaft zu leisten", sage ich.

„Ach Blödsinn! Du bist perfekt! Du bist der lebende Beweis dafür, dass man auch willentlich und wissentlich verloren gehen und es mit Würde und Überzeugung zustande bringen kann, vor die Hunde zu gehen."

„Na, herzlichen Dank!", sage ich.

„Gern geschehen."

Vincent kann die Tür von Billys Haus einfach öffnen. Sie ist nicht abgeschlossen. Jeder hätte hinein gehen und den armen Kerl ausrauben können, wo er doch angeblich so krank und hilflos sein soll.

Das Haus hat nur einen bewohnbaren Raum, scheint es. Dieser ist klein, eng, dunkel und zugestellt mit Krempel. Auf dem Boden liegt eine Matratze und darauf eine verkrüppelte, fast mumifizierte Gestalt. Ich weiß, dass sie nicht tot ist, denn die zittert, wie ein Katzenjunges, das zu lange von seiner Mutter getrennt war und nun langsam aber sicher zu Grunde gehen muss.

„Guten Morgen", sagt Billy.

Und „Guten Morgen", erwidert Vincent. Plötzlich wirkt er verantwortungsvoll und vertrauenswürdig. Billy dagegen ist das erbärmlichste Häufchen Mensch, das ich je zu Gesicht bekommen habe.

Es überkommt mich. Der Alkohol und die stickige Luft, dieser Anblick und der Gestank. Ich stürze nach draußen und übergebe mich.

Drinnen spricht Vincent ganz ruhig mit seinem Freund. Er stellt mich vor: „Das ist Liz. Sie ist neu. Ich führe sie herum. Sie ist gekommen, um dir Hallo zu sagen."

„Frag sie, ob sie vielleicht etwas zu trinken will", höre ich eine röchelnde Stimme. Das war zu viel für das Frühstück in meinem Magen.

„Ich hätte gerne etwas Wasser", sage ich höflich, als ich wieder hineinkommen kann. Ich reiße mich zusammen im Angesicht dieses armen Mannes. Er hat es verdient, dass man ihm ein gutes Beispiel ist. Er hat es verdient, dass man ein gutes Bild abgibt, obwohl sich vor meinem inneren Auge alles dreht.

Vincent holt das Wasser. Ich trinke es und es schmeckt faulig, aber ich würge es herunter.

„Willst du dich nicht setzen?", fragt mich Billy.

Ich sehe mich um. Es gibt weder Stuhl, noch Sessel oder Couch in dieser Rumpelkammer. Also setze ich mich auf den Boden. Vincent gesellt sich hinzu.

„Erzähl mir etwas von dir?", bittet Billy.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll", sage ich.

Jeremy war ein ruhiger Junge. Ich sage „Junge", weil ich ihn mir nie als Mann habe vorstellen können. Er muss Mitte 20 gewesen sein oder noch älter, aber für mich war er ein zu groß geratenes Kind. Jedenfalls kein richtiger Mann und ein Anlass für mich, darüber nachzudenken, was in meiner Vorstellung denn eigentlich ein Mann sein sollte.

Wie seltsam es ist, über vergangene Angelegenheiten nachzudenken, obwohl sie längst abgeschlossen sind. So fühlt es sich wahrscheinlich an, wenn die Rolling Stones ihre ersten Platten wieder hören. Alles wirkt unendlich weit weg, wie aus einer anderen Welt und die Protagonisten sind andere – nicht man selbst. Vielleicht kann man sich kaum noch entsinnen. Manche Details hielt man für so unnötig, dass man sie vergessen hat. Was würde man heute dafür geben, sich erinnern zu können? Wir gehen viel zu schludrig um mit unserem Erleben. Selbst wenn wir es aufschreiben, wenn wir Fotos machen oder Filme drehen, so reicht es uns, die Dinge abzuspeichern, verarbeitet sind sie deswegen noch lange nicht.

Wenn man zum Beispiel 25 ist und plötzlich und unerwartet stirbt ein enger Freund. Man trauert, aber dann geht das eigene Leben weiter und irgendwann ist man 65 Jahre und ein völlig anderer Mensch als 40 Jahre zuvor. Wie erinnert man da an die alten Geschichten? Peinlich berührt oder wehmütig? Fragt man sich, in welche Richtung sich die Freundschaft entwickelt hätte und was für ein Leben der Freund gehabt haben können? Oder blickt man zurück auf einen festgefrorenen Moment, dem man entwachsen ist und der einem fremd geworden ist wie der verlorene Freund. Kann Trauer verkrusten?

Wir gehen weiter, machen neue Alben, schreiben neue Gedichte über neue Erlebnisse, drehen neue Filme, träumen neue Träume und vergessen, dass der Mann, der damals mitten in der Nacht in Anzug und Krawatte gegärtnert hat, heute vielleicht in der Gosse liegt, verrückt geworden, verlassen und in den Dreck geworfen. All die kleinen Schnipsel, die wir wahrnehmen, gehören zu ihren eigenen großen Geschichten und auch wenn wir sie abgelegt haben, endeten sie für andere vielleicht niemals. Oder sie enden, während unsere einfach weiter geht. Leben verlaufen nicht parallel. Sie nähern sich an, kreuzen sich und laufen dann wieder auseinander und irgendwann enden sie.

Für mich hat Jeremys Geschichte geendet, ohne dass es für mich schmerzhaft gewesen ist. Wie er sich dabei gefühlt hat, interessierte mich nicht. Ich war grausam. Aber ich legte es ab, heftete es ein und hörte auf, darüber nachzudenken.

Er war zur falschen Zeit am falschen Ort und ich hatte furchtbare Angst, meinen Job zu verlieren, weil ich mich selbst als überflüssig empfand. Eine faule Entschuldigung, nichts weiter. Was ist schon eine Entschuldigung? Kann man uns je der Schuld entheben? Wer kann es? Wer sollte es? Das Opfer? Ein unabhängiges Gericht? Man sich selbst?

Jeremy war gut. Gescheit, witzig, kompetent, kreativ. Er hatte gute Ideen. Er war sympathisch. Er brachte die Kollegen zum Lachen und schaffte es Konflikten aus dem Weg zu gehen. Er war beliebt und man sagte ihm eine glänzende Karriere voraus.

Ich dagegen hatte Probleme. Meine Auffassungsgabe war nicht so schnell, mein Humor zu sperrig, mein Auftreten zu hölzern. Ich war blass und wenig charismatisch. Ich hatte Angst, den ich vergeblich als Respekt zu verkaufen versuchte. Das waren die ersten Wochen meines ersten Anstellungsverhältnisses in einer großen Anwaltskanzlei. Und ich fürchtete, meine Karriere würde nur von kurzer Dauer sein, war doch Jeremy drauf und dran mich in allen Belangen zu überflügeln.

Er hat mir nie etwas getan, außer dass er meine Existenz bedrohte. Und das musste er tun, weil es die Geschäftsordnung verlangte. Es gab keine Koexistenz der Charaktere. Es gab nur das Überleben des Stärkeren. Mein einziger Vorteil bestand darin, dass ich die Regeln dieses Spiels verstanden hatte, während er drauf und dran war, zu gewinnen, ohne zu wissen warum. Er hatte Glück und ich wollte mein Leben nicht von seinem Glück abhängig machen.

Ich folgte ihm, um ihn kennen zu lernen, um ihn auf eine Weise kennen zu lernen, wie er sich mir nie offenbart hätte. Ich wollte seine peinlichsten Geheimnisse erfahren. Ich wollte wissen, mit wem er verkehrte, wo er sich in seiner Freizeit herumtrieb, welche Beziehungen er pflegte, welchen Hobbies er nachging.

Und ich wurde fündig. Ich wurde belohnt für meine Hartnäckigkeit, für meine Kaltschnäuzigkeit und für meinen unbedingten Willen, der aus der Verzweiflung geboren wurde. Wie weit man zu gehen bereit ist, wenn man eigentlich nur bleiben will, wo man ist... in einem gemütlichen Job, unscheinbar, aber wenigstens nicht pervers!

„Wussten Sie eigentlich, in welchen Etablissements Mr. Adams sich herumtreibt? Was sagen Sie dazu? Könnte das nicht dem Ansehen unserer Kanzlei schaden, wenn es heraus käme? Meinen Sie nicht, dass sowas ganz und gar unangemessen ist?"

In etwas so habe ich mich ausgedrückt. Natürlich bin ich nicht stolz darauf. Natürlich wusste ich, dass es falsch war. Aber...

Oh, lassen wir das. Keine Rechtfertigungen dafür. Ich habe es getan wider besseres Wissen, wider mein Gewissen, wider jeder Faser Menschlichkeit, die ich besitzen sollte.

„Stellt euch nur vor, Jeremy verkehrt in diesen schmuddeligen Lokalen. Würde mich nicht wundern, wenn er sich dort etwas eingefangen hat."

Ich könnte zu meiner Verteidigung vorbringen, dass meine Eltern... Aber ich tue es nicht. Ich habe diese Worte ausgesprochen und ich kann sie nicht mehr zurücknehmen. In einer idealen Welt wäre mir danach die Zunge abgefault. Oder am besten schon vorher.

Gott hat den Virus gemacht, um die Sündhaften zu bestrafen.

„Könnt ihr euch das vorstellen? Jeremy mit einem Mann? Also ich habe gesehen, wie er einen aufgegabelt hat und dann..."

Ja, was hatte ich eigentlich gesehen? Und wie war es dazu gekommen, dass ich es gesehen habe? Niemand fragte danach. Sie waren alle zu sehr mit den Bilder in ihren Köpfen beschäftigt.

„Stellen Sie sich nur vor, was passiert, wenn er diese Seuche hier einschleppt!"

Ich wusste, dass ich ihn damit drankriegen würde, denn der Personalchef war Republikaner und mit Republikanern und ihren irrationalen Ängsten kannte ich mich aus. Und man muss dazu sagen, dass die Panik damals insbesondere in Kalifornien enorm war. Es gab ja noch nicht einmal einen wissenschaftlichen Namen dafür - außer „The 4H Disease", was ausdrücken sollte, dass vor allem Haitianer, Homosexuelle, Hämophile und Heroinsüchtige daran erkrankten. Aber wie und woher, wusste niemand. Jedes Händeschütteln mit einem Verdächtigen konnte also potenziell tödlich sein. Besser also, man vermied den Kontakt.

Und damit besiegelte ich Jeremys Schicksal und seine Karriere. Ein Geheimnis, das keines mehr ist, ist eine Bürde, ist ein Urteil.

Mag sein, dass es Hipster-Gruppen und Avantgardisten gibt, die Homosexualität als etwas Normales oder gar Cooles betrachten, aber das gilt nicht für die Geschäftswelt. Wenn du hier nicht bis zur Selbstzerfleischung angepasst bist, wirst du von den Kollegen zerfleischt.

Es fängt an mit einem Kichern hinter vorgehaltener Hand, aber es wächst, es beflügelt die Phantasie und es weckt Ängste. Männer, die sich nicht mehr zur Toilette trauen. Vorgesetzte, die bei persönlichen Gesprächen die Türen offen lassen. Frauen, die gespielte Beleidigung zur Schau tragen, bis aus dem Witz irgendwann erst Gleichgültigkeit, dann Desinteresse und schließlich echte Abneigung wird. Feiern und Besprechungen, zu denen man nicht mehr eingeladen wird, Memos und Informationen, die ganz zufällig den Weg ins persönliche Postfach nicht mehr finden. Fehler, die plötzlich auffallen und ausgewalzt werden. Kunden, vor denen man deswegen bloßgestellt wird. Spitze Bemerkungen, abschätzige Blicke. Kollegen, die plötzlich verstummen, wenn man den Raum betritt.

Wer hoch steigt, wird tief fallen. Ich glaubte wirklich, Jeremy hätte all das verdient, weil er es gewagt hatte, besser zu sein als ich. Ich war skrupellos.

Ich weiß, es klingt abgedroschen, aber was mich an der Sache am meisten wurmt, ist, dass ich, obwohl ich alle Jeremys Geheimnisse kannte, von ihm selbst fast nichts wusste und bis heute nichts weiß.

Es ist leicht, Menschen zu verletzen, die man nicht kennt, denn nachdem man sie verletzt hat, wird man sie auch nicht mehr kennen lernen und sie verlassen ganz schnell beinahe unbemerkt wieder die eigene Wahrnehmungssphäre. Der bissige Hund findet keine Freunde, aber er wird auch selbst nicht verletzt.

Es wäre müßig, mich immerzu mit der Frage abzuquälen, wo Jeremy heute ist und was er macht. Es ist auch völlig irrelevant, denn zumindest damals wäre sein Leben ohne mich bestimmt besser und angenehmer verlaufen und allein das ist wichtig für die Bewertung meiner Tat und meines Charakters. Ich bin eine Bürde für ihn gewesen, ein Fluch, eine Folter vielleicht und das hatte der zarte, feinfühlige Junge nicht verdient.

Ich blicke zu Billy herunter, der, obwohl ich auf dem Boden sitze, immer noch weit unter mir liegt. Die einzige Bewegung, zu der er fähig scheint, ist dieses unkontrollierte Zittern, das zumindest anzeigt, dass er noch nicht tot ist. Ist es das, was passiert, wenn Menschen fallen gelassen werden? Enden sie so?

„Was ist mit ihm?", frage ich Vincent.

„Er hat zu lange mit den falschen Substanzen herumexperimentiert", sagt Vincent knapp, „Er ist auf Entzug."

„Und wenn das mich nicht umbringt, dann diese verfluchte Krankheit!", keucht Billy und zeigt ein zahnloses Grinsen, als hätte er einen Witz gemacht.

Ich weiche zurück. Krankheit? Ist er etwa ansteckend? Aber ich besinne mich eines Besseren und überwinde den Reflex. Was macht es schon, wenn ich mich anstecke. Ich werde ohnehin nicht mehr lange genug leben, um zu erfahren, wie und ob die Krankheit ausbricht, falls ich sie mir einfange. Ja, Billy sollte optimistisch sein. Er ist zumindest nicht derjenige, der hier als erster stirbt.

„Möchtest du etwas essen?", fragt Vincent Billy, aber dieser winkt ab.

„Gib lieber der jungen Frau etwas. Mir scheint, sie hat sich allem entledigt, was sie in letzter Zeit zu sich genommen hat."

Aber auch ich winke dankend ab. Mir ist immer noch flau im Magen und ich fühle mich unendlich müde uns schwach. Ich glaube nicht, dass mein Körper es noch auf die Reihe bekommt, etwas zu verdauen. Er will einfach nur seine Ruhe haben.

„Als ich hier her kam, ging es mir wie dir", erzählt Billy, „Ich dachte, das hier sei ein guter Platz zum Sterben."

Ich hinterfrage nicht, wie er darauf kommt. Er muss es mir angesehen haben. Sterbende erkennen Sterbende, so wie Schwangere andere Schwangere erkennen.

„Ich dachte, ich müsste mich nur ausreichend vergiften und dann hätte dieses ganze Elend hier ein Ende. Aber sieh mich jetzt an! Vincent lässt mich einfach nicht gehen! Er schleppt mich von Tag zu Tag. Inzwischen zögert er das Unvermeidliche so lange hinaus, dass ich fast glaube, dass es nicht mehr unvermeidlich ist."

„Du wirst sehen, Billy, eines Tages wirst du wieder ganz gesund", sagt Vincent aufmunternd „Und dann wirst du über deine makabren Sprüche lachen."

„Ach, das kann ich auch jetzt schon. Wem nichts mehr als Galgenhumor bleibt, der lacht über fast alles ehrlich und aufrichtig. Aber ich kann dich gut verstehen, junge Dame. Es gibt Menschen, die ertragen nicht, was die Welt ihnen zustoßen lässt. Du kennst sicher dieses Sprichwort, das besagt, dass Gott uns nur das zumuten, was wir auch überstehen können. Du und ich, wir beide sind so stark, dass er uns sogar den Tod zumutet. Wir sollten stolz darauf sein. Die Menschheit haben wir nicht überlebt, aber Gottes Wille umgesetzt."

„Haben wir das? Werden wir das?", frage ich, „Was ist Gottes Wille?"

„Dass wir gut zueinander sind", sagt Billy, „Und uns nicht gegenseitig das Leben schwer machen. Ich höre auf Vincent das Leben schwer zu machen und du hörst auf, dir selbst das Leben schwer zu machen. Hört sich für mich an, wie ein sinnvoller Lebensentwurf."

Ich glaube, er redet im Delirium. Oder ich rede im Delirium.

„Ich möchte nicht nach dem Willen eines Gottes handeln", sage ich.

„Meinst du, du hast eine Wahl?", fragt Billy.

„Ich schätze schon. Ich kann mich entscheiden, ob ich Gutes oder Böses tue. Ich habe wenig Einfluss auf das, was daraus entsteht, ob das, was ich gut gemeint habe, am Ende auch Gutes bewirkt, aber ich habe die Wahl zwischen einer guten Absicht und einer schlechten."

„Du hast die Wahl zwischen Gottes Willen und dem des Teufels."

„Ich glaube weder an den einen, noch an den anderen", sage ich trotzig.

„Ob etwas existiert oder nicht, ist nicht an den Glauben gebunden", meint Billy, „Die Frage ist, wer hat den Weg geebnet, dem du folgst?"

„Aber was ist mit der Schuld?", frage ich, „Wer trägt sie? Der, der den Weg ebnet, oder der, der ihn geht?"

„Derjenige, der die Schuld für sich annimmt, nehme ich an", sagt Billy, „der muss sie tragen."

„Das heißt, ich könnte sie auch zurückweisen?"

„Tun das Leute nicht ständig? Auf andere verweisen, oder auf die Umstände? Drehen sie nicht ständig Opfer- und Täterschaft um, damit sie nur ja unbehelligt aus ihren Prozessen entlassen werden? Ist die Wahrheit nicht ohnehin unscharf?"

„Nach dieser Theorie wäre es dumm, Reue zu empfinden", sage ich.

„Ist es das nicht? Leben wir nicht in einer Welt, in der Reue mit Zeitverschwendung gleichgesetzt wird? Und Zeit, meine Liebe, ist Geld. Was ist schon Schuld?", fragt Billy, „Und was ist Strafe? Es werden so viele Menschen bestraft, die nichts Schlimmes getan haben. Wer kann da dieses Konzept noch ernst nehmen. Du musst dich von dem Gedanken verabschieden, es gäbe so etwas wie Gerechtigkeit. Schlimmer noch, dem Gedanken, Gerechtigkeit könnte hergestellt werden. Sieh mich an, ich habe zu viel gewollt, da wurde mir alles genommen. Zynisch, nicht wahr?"

„Ich mag keine Passivkonstruktionen", sage ich, „Sie lässt den Urheber einer Begebenheit im Unklaren. Es ist nicht mal eine geschickte Formulierung. Es ist plump. Wer hat dir alles genommen? Und wo ist es jetzt? Wer hat es jetzt?"

„Was? Mein Leben und meine Gesundheit?", fragte Billy und zeigt mir wieder sein Zahnfleischgrinsen, „Niemand hat es. Es ist verpufft. Niemand hielt es je in der Hand und sagte, „Jetzt zerquetsche ich alles, was ihm lieb und teuer ist!" So funktioniert die Welt nicht. Meinst du nicht, es ist ein wenig eingebildet, zu glauben, das Unglück anderer voll und ganz alleine zu verantworten? Du bist nicht Jesus und selbst der hat es ein wenig übertrieben mit seiner Vergebung der Sünden. Das ist zu einfach, Schätzchen, und es ist zu schwer für einen einzelnen Menschen."

„Das ist nett von dir", stammele ich hervor, aber ich kann ihm nicht glauben.

Aber Billy ist sehr feinfühlig, er merkt sofort, dass es mir unangenehm ist, wenn er versucht, mich zu trösten. Deshalb fügt er hinzu: „Manchmal sind wir alle Opfer unserer Triebe. Sie sind nichts Anderes als Süchte. Wir fürchten uns vor dem Verlust von Annehmlichkeiten, davor allein in der Kälte zu sein. Die Angst lässt uns Dinge tun, die wir eigentlich nicht wollen. Manche von uns glauben, dass sie rational handeln und deshalb besonders gut oder besonders böse sind, aber das stimmt nicht. Wir alle handeln aus Angst vor Verlust und aus Gier nach Sicherheit und Wohlbefinden. Niemand ist nur gut oder nur schlecht, Mädchen, und keine Handlung ist nur selbstlos oder nur selbstsüchtig. Niedertracht hat eine Vorgeschichte, die man nicht ignorieren darf. Urteile nicht vorschnell über dich. Halte dich nicht für mehr als für einen Menschen. Akzeptiere deine Fehler und geh weiter. Manchmal muss man Dinge zurück lassen. Manchmal muss man Geschichten vergessen. Aufzuhören, weil man sich davor fürchtet, besser werden oder etwas gutmachen zu müssen, ist feige. Sieh mich an. Und diesmal wirklich. Glaubst du, ich habe im Leben alles richtig gemacht? Glaubst du, ich habe im Leben alles falsch gemacht? Glaubst du, ich hätte nichts anders machen können? Und glaubst du, dass ich mit meinem heutigen Wissen nichts anders machen würde? Ich bin kein Vorbild. Aber wer ist das schon? Jeder hat sein Päckchen zu tragen, aber wenn du hin und wieder etwas davon abwirfst, wird dich dafür niemand verurteilen, so lange du nur menschlich bleibst. Was manche Leute als Stärke missdeuten, ist in Wirklichkeit die Unfähigkeit, vor sich selbst zuzugeben, dass sie selbst nicht wissen, wo es lang geht, oder dass sie Annahmen als gegeben voraussetzen, die noch zu diskutieren sind. Sie versuchen mit Arroganz ihre Angst zu überspielen und sammeln so - ganz Nebenbei - eine Gefolgschaft, die darauf hereinfällt, die ihre eigenen Sorgen, Ängste und Nöte glauben, abwälzen zu können. Und ab diesem Punkt wird es schwierig. Wie soll man das Übel, das durch eine solche Dynamik unweigerlich entsteht, be- und verurteilen? Kommt es darauf an, dass die Unfähigkeit auf Nicht-erkennen oder Nicht-erkennen-wollen beruht? Wissentlicher Selbstbetrug gegen unwissentlichen Selbstbetrug. Kann man Opfer seiner eigenen Engstirnigkeit werden?"

Vincent schweigt und ich schlucke. Der Morgen bringt nun nicht nur das Licht, sondern auch die Hitze zurück. Das Zimmer hat sich unnatürlich schnell aufgeheizt und ich habe das Gefühl, dass kaum noch Sauerstoff hier drin ist. Mir wird schon wieder übel und ich stürze erneut nach draußen. Dort falle ich vorn über auf den steinigen Boden und schlage mir das Knie ab. Ich schluchze hemmungslos. Nicht, weil etwas von mir abgefallen ist, sondern weil etwas von dem ich geglaubt habe, dass es da ist, etwas, an dem ich mich festgehalten habe, etwas von dem ich geglaubt habe, das es mich definiert, nie da war. Es war mehr als Schuld, die mich belastet hat, es war die Überzeugung meiner Niedertracht gewesen, die mich aufrecht erhalten hat. Bis jetzt. Jetzt bin ich mir unsicher darüber, was ich bin. Erleichtert? Verwirrt.

Ich bin süchtig nach Sicherheit und es ist mir dabei egal, ob es die Sicherheit eines friedlichen Umfeldes oder die Sicherheit meiner Boshaftigkeit ist. Ich brauche diese Wahrheiten, um zu wissen, was ich tun muss, wohin ich gehen muss. Ich brauche nicht Trost oder Psychologie, ich brauche etwas, das ich wissen kann, etwas, das nicht wegdiskutiert wird von einem halbvermoderten Heroinjunkie.

Was ist das für ein Ort? Was sind das für Menschen? Wohin wollen sie mich treiben? In den Wahnsinn? Oder zurück ins Leben? Trost ist verlogen, der minderwertige Kitt, der die Reste einer Ruine zusammenhält, die längst hätte zusammenstürzen müssen. Er zögert das Unvermeidliche hinaus, sowie Vincent, der einen Todgeweihten quält, indem er ihn durch seine Pflege am Leben erhält. Ich möchte nicht so enden. Ich brauche meinen Alkohol. Zum Teufel mit dem Wasser, dieser Betrügerflüssigkeit, die einem vorgaukelt, es gäbe so etwas wie „Wohlbefinden" und „Gesundheit". Der Normalzustand des Menschen ist „Sterbend", nicht „Lebend".

Ich laufe zurück zu meinem alten, zuverlässigen Ford, schnappe mir die dritte Wodka-Flasche und hänge sie mir an den Hals. Es brennt, aber es tut gut. Es dauert eine Weile, bis der Schwindel einsetzt und ich mich auf den Boden setzen muss. Ich warte. Ich sitze und warte. Allein. So wie ich mir das hier vorgestellt habe. Niemand hat mir etwas zu sagen. Niemand muss mich darüber belehren, was ich zu tun, zu lassen und zu empfinden habe!

Ich sitze und warte und trinke und starre in die Ferne. Die Schotterstraße liegt vor mir in all ihrer Trostlosigkeit. Der Trost ist hier. Da draußen ist die Verheerung. Was davon brauche ich? Was davon verdiene ich?

Zeit vergeht. Die Schatten werden erst kürzer, dann länger. Die Flasche leert sich. Ich liege im Sand und wimmere.

„Ich war nie glücklich in meinem Job", sage ich zu Vincent, „Es war kein schlechter Beruf, das nicht. Aber ich war nicht glücklich, mit dem, was von mir erwartet wurde. Verstehst du? Ich hatte ein gutes Ansehen, aber ich mochte mich selbst nicht, weil ich wusste, wie es hinter diesem Ansehen aussieht, was wirklich abgeht, wie viel Dreck sich hinter einem blütenweißen Hemd und einer Krawatte verbergen kann. Ich habe jedem Lächeln misstraut."

„Schon gut", sagt Vincent, „Das ist vorbei."

„Für mich, ja. Aber für die anderen geht es immer weiter. Ich wünschte, ich hätte irgendetwas Sinnvolles tun können, aber es ging immer nur um Geld, darum, wie man noch zehn Dollar sparen und vor der Steuer verbergen konnte."

„Wo hast du gearbeitet?", fragt Vincent.

„In einer Rechtsanwaltskanzlei. Schwerpunkt Wirtschaftsrecht. Ich habe den ganzen Tag nur Verträge gelesen, geschrieben, umgeschrieben, ausgewertet und nach Schwachstellen untersucht."

Vincent nickt: „Davon verstehe ich nichts."

„Nein, niemand tut das. Niemand versteht irgendwas von diesem Quatsch. Deshalb streitet man sich ja andauernd. Jeder interpretiert die Paragraphen anders. Welchen Sinn haben solche Richtlinien, frage ich dich?"

„Sie erhalten viele Menschen in Lohn und Brot", sagt Vincent.

„Und treiben sie in den Wahnsinn."

„Ist es das, wovor du geflohen bist?"

„Ein bisschen", sage ich, „Zum Teil. Weißt du, im Recht ist es anders als im echten Leben: Wenn man lügt und damit durchkommt, ist das ein Erfolg und alle sind stolz auf dich. Du bekommst eine Prämie und ein Schulterklopfen. Niemand ist dir böse, wenn du dich auf die Seite der Widerlinge stellst. Sie sehen es als Herausforderung. Ich war am Ende ganz gut darin, schmutzige Westen weiß zu argumentieren."

„Aber dann hast du es nicht mehr ertragen", stellt Vincent fest.

„Naja", sage ich, „Im Grunde ist nichts gegen den Beruf des Anwalts zu sagen. Es gibt viele gute Sachen, um die man kämpfen kann. Umweltschutz zum Beispiel. Das Problem war, dass wir meist auf der anderen Seite standen."

„Komm mit", sagt Vincent, „Ich bringe dich auf andere Gedanken. Du musst Eugene und Alfred kennen lernen, bevor die Sonne untergeht. Und ich brauche noch etwas für uns beide zu Essen für heute Abend."

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