4. Knochensammler
Schwerter empfingen uns, als wir über die Reling von Marres Schiff stiegen. Schief und zusammengesackt wie ein schlafender Trinker hing es in den sanften Wellen, Heck und Segel standen in Flammen. Männer und Frauen aller Rassen, in heruntergekommener Kleidung, geschmückt mit Knochen, die ich nicht nur als die von Tieren identifizierte, rissen uns die Waffen von den Leibern und stießen uns grob nach vorn. Sie erinnerten mich an Geschichten von Kannibalen, und ich betete zu allen Göttern, dass ich nicht unrühmlich in einem Kochtopf endete. Eine Goblinfrau keifte Befehle. Obwohl sie mir kaum bis zum Knie reichte, war das schartige Messer, der anscheinend in Blut getränkte Dreispitz und die fellfleckige, abgewetzte Weste aus Hundeleder genug, um mich von ihr fernhalten zu wollen. Die Piraten befolgten ihre Anweisungen ohne zu zögern, fesselten Marres Crew und gaben Waffen und Ladung weiter, die über Gangways zu dem feindlichen Schiff gebracht wurden. Am Großmast, über einem seltsam fächerförmigen, mit Streben verstärkten dunkelroten Segel, flatterte ein Banner mit Schädel über gekreuzten Knochen, doch die Flagge am Besanmast zeigte eine Laterne der Banshee statt des Totenkopfes.
Ein Mann, dessen sonnenverbrannte Haut mit blassen hellgrünen Schuppen übersät war, trat auf den Goblin zu. „Rotchcaft, Sir, wir haben noch ein paar dieser Grünsegler gefunden. Sie kamen aus dem Meer."
Die Frau wandte sich um, ihre gelben Augen verengten sich zu Schlitzen. Mit einem finsteren, haizähnigen Grinsen sah sie zu uns auf. Narben durchkreuzten ihr wettergegerbtes Gesicht. „Was für eine hässliche Überraschung. Marius, du siehst entsetzlich aus. Und die Gesellschaft, in der du dich befindest, war schon mal besser."
Farraday lächelte beinahe traurig und umklammerte seinen blutenden Arm. „Das gleiche kann ich von dir sagen, Rothcaft." Er sah sich um. „Du hast es weit gebracht, als Meuterer."
Rotchcaft warf sich in die schmale Brust. „Herrlich, nicht wahr? Erster Offizier unter den Knochensammlern. Aber ohne einen Captain, der einen ins Verderben führt, besessen von Seemannsgarn. Und bezahlen sie mit Gold und Beute statt mit Tod und wütenden Göttern." Sie warf einen selbstzufriedenen Blick auf die letzten Kisten, die aus Marres Schiff zu dem mit den roten Segeln getragen wurde. „Shivya! Grafa! Narrn! Nehmt diese Rattenbrut und schafft sie auf die Banshee's Wrath. Sperrt sie zu den anderen."
Ich warf einen fragenden Blick zu Farraday, doch er folgte noch immer mit den Augen dem Goblin, der die letzten Nachzügler auf das feindliche Schiff scheuchte. Er schien zugleich verletzt und wütend. Schließlich wandte er den Blick ab.
Der Mann mit den meergrünen Schuppen und zwei seiner Gehilfen trieben uns mit Bajonetten und Flüchen über den schmalen Wasserstreifen hinweg. Marres Crew blickte uns entgegen. Ich sah Verletzungen, Platzwunden und Schrammen, einige Hinkende, doch auch einen Mann, der beide Hände auf seinen blutigen Bauch presste, gestützt von zwei weiteren Wyrdail, während einer der Knochensammler eine gezahnte Peitsche knallen ließ, um sie zur Eile anzutreiben. Hoffnung flackerte kurz in ihren Augen auf, doch erlosch, als sie sahen, dass die Knochensammler auch unsere Hände mit Seilen fesselten.
Kaum betraten wir die erstaunlich sauberen Planken der Banshee's Wrath, verlor Marre die Geduld. Heftig befreite sie sich aus dem Griff der beiden Knochensammler, die ihre Arme hielten und mit einem Seil hantierten, und stürmte mit polternden Absätzen voran. „Ich verlange den Captain dieses Schiffes zu sprechen! Sofort!"
Rotchcaft wandte sich mit blitzenden gelben Augen um. „Der Captain spricht nur mit denen, die seine Zeit wert sind, Schätzchen. Und das bist du schon mal nicht", schnarrte sie. „Nehmt sie fest und stopft ihr das Maul. Ein bisschen plötzlich, wenn ich bitten darf, und nicht zu stümperhaft."
Erneut traten zwei Männer auf sie zu. Marre wich ihnen aus und packte den Goblin am Kragen. „Hast du nur die geringste Ahnung, wer ich bin, du elende Ratte?"
„Jemand, dessen Blut sehr schnell diese Planken tränken wird, wenn du mich nicht auf der Stelle loslässt!", fauchte der Goblin.
„Rotchcaft. Gemach, gemach." Die Stimme war ruhig, durchsetzt von einem Pfeifen, wie ich es von jenen kannte, die ihre Lungen mit gerauchten Rauschmitteln zerstört hatten. Schritte, langsam und gemächlich näherten sich, ein merkwürdiger Rhythmus zwischen einem beinahe unhörbaren Tappen und einem schweren, metallischen Klacken. „Raguza, wenn du meinen Ersten Offizier wieder auf die sicheren Planken lassen würdest, ich wäre dir unendlich dankbar."
Die Mauer der Knochensammler, die uns umringte, teilte sich. Ein Kitsune trat hervor, das edle Fuchsgesicht zur Hälfte verschwunden unter Metallplättchen, verwachsen mit seinem gräulich roten Fell. Weiteres Metall, Messing, Kupfer und Stahl, bildete sein linkes Bein und drei seiner Finger. Phiolen mit Seren, Schläuche und gläserne Gefäße blitzten zwischen dem Metall und verschmolzen mit seinem Körper. Sein mit silbernen Knochen besetzter Mantel klimperte bei jeder Bewegung.
Marre ließ Rotchcaft fallen, ohne sich um ihren wütenden Aufschrei zu kümmern, und trat energisch auf den Kitsune zu. „Du!", fauchte sie. „Wie kannst du es wagen, mein Schiff und meine Crew in Gewahrsam zu nehmen?"
Zwei Männer hielten sie auf, bevor sie den halbversehrten Captain erreichten und packten ihre Arme, einer von ihnen holte zum Schlag aus, doch der Kitsune hielt ihn zurück. „Nein. Sie darf vor mir stehen, sie hat jedes Recht dazu, mich zu hassen. Raguza, meine Liebe, ich habe dein Schiff erobert, weil es mein Recht ist. Ihr seid in den Gewässern der Knochensammler, und mit dem Untergang der Sonne ist euer Recht auf freie Passage erloschen. Und nun, meine Frage: wieso wagst du dich so nachlässig in unser Territorium, noch dazu so spät am Abend?" Er sprach langsam, mit vielen Pausen, als bereite ihm das Sprechen Schmerzen.
Wie Erraxa, dachte ich mit einem Anflug von Nervosität. Die Fesseln schabten über mein bloßes Handgelenk, und ich dachte mit Grauen daran, was wohl geschah, wenn die Knochensammler meine Waffen entdeckten. Sie waren ohne Zweifel teurer als alles, was sich im Bauch der beiden Schiffe befand, nicht nur deswegen, weil es entsetzlich blutig gewesen war, sie zu erringen. Dennoch war es besser, wenn sie sie in ihrer Gewalt hatten, als wenn sie auf den Grund des Ozeans sanken. Die Knochensammler konnte ich wenigstens bestehlen.
Marre zuckte zurück und schnappte nach Luft. „Das geht dich nichts an, Myazi." Sie wand sich im Griff der Männer, der kurze, unsichere Moment verging und ihr Zorn kehrte zurück. „Du hast wohl nicht vergessen, was du getan hast. Ich habe dich schon einmal verschont, und ich werde es kein zweites Mal tun."
Rotchcaft lachte unangenehm auf. „Große Worte für jemanden, umringt von Feinden und mit Messern an der Kehle, Schätzchen."
Marre fletschte die spitzen Zähne. „Du hast sie sterben lassen, Myazi! Ich hatte oft genug die Gelegenheit, es dir heimzuzahlen, und ich habe Gnade gezeigt für einen alten Mann, der mit Magie und Technik versucht, seine alte Größe herzustellen wie in einem Labor. Ich hätte dich töten sollen, in dieser verfluchten Schlacht, umgeben von deinem sinkenden Schiff, ich hätte wissen sollen, dass die Götter nicht grausam genug sind."
Myazi sah zur Seite, und ich erahnte echte Reue in seinen entstellten Zügen. „Raguza, es tut mir unendlich leid. Ich habe es dir bereits gesagt, ich sage es dir erneut. Doch ich hatte mit ihrem Tod nichts zu tun."
„Du bist Magier, Myazi. Du hättest sie heilen können!"
Myazi seufzte. „Ich hatte die Roben eines Lehrlings kaum verlassen. Ich musste mich entscheiden. Zwei meiner Kameraden waren bereits tot, darunter der Mann, der uns führte, und der Zwerg, der uns mit der Gnade seines Gottes beistehen sollte. Die dritte war vor Tagen von Chimären getötet worden, geschlagen durch die giftigen Stacheln der Bestien. Und Sinara... Sie wurde zerfleischt von den Dienern des Tempels. Ich wollte sie retten, doch meine Kraft reichte nur für meine eigenen Wunden, und so floh ich aus diesem verfluchten Tempel in Kasien, bevor der Tod auch mich fand."
„Du hättest mit ihnen sterben sollen", fauchte Marre.
„Dass sie noch immer wütend darüber ist", schnaubte Rotchcaft. „Eure Abenteuer in Kasien, Captain, und Euer Dienst für Rivbey ist seit ewigen Zeiten vorbei."
All dieses Gerede von Marres Schwester kümmerte mich wenig, doch wenn Marre verriet, warum wir hier waren, würde Myazi uns sicher nicht unbehelligt davon segeln lassen. Dafür war das Schwert zu bekannt. Still hoffte ich, Farraday würde uns aus all diesem Chaos wieder herausreden. Wie er es stets tat. Doch der Noxer schwieg beharrlich und beobachtete stumm das Geschehen.
„Rotchcaft." Eine Warnung schwang in den pfeifenden Worten Myazis mit, und der Goblin verstummte mit einem verächtlichen Blick. „Raguza, würdest du mit deiner Crew sterben, nur weil sie es ebenfalls müssen? Oder würdest du dich retten, wenn du es könntest?"
„Ich würde jeden von ihnen retten, wenn ich es könnte", zischte sie.
Rotchcaft kicherte. „Dafür ist es zu spät."
Marre starrte Myazi an, Hass flammte in ihren bernsteinfarbenen Augen auf. „Was hast du getan?", fragte sie eisig.
„Ich wollte wissen, was du hier tust. Hier, so weit fort von deinen Gewässern. So tief in meinen. So nahe an den Zähnen, von denen du aufgetaucht bist." Myazi verzog das Gesicht zu etwas, was wohl ein entschuldigendes Lächeln darstellen sollte. „Ich fragte vier deiner Männer, unter anderem deinen Ersten Offizier. Sie schwiegen."
„Ich habe sie gefragt, wie gut sie schwimmen können. Dann haben wir sie über Bord geworfen. Und damit sie dort unten auch nicht ertrinken, habe ich ihnen Kiemen gegeben." Rotchcaft strich über den Griff ihres Messers.
Ich dachte an die unzähligen Haie über Erraxas Gefängnis und schauderte. Die Piraten hatten nie lange genug überlebt, um zu ertrinken.
„Vielleicht solltest du mir sagen, warum du hier bist, Raguza." Myazis Tonfall wurde beinahe bittend. „Ich bin kein schlechter Mann. Ich will niemanden deiner Crew töten, und auch nicht dich. Das ist die Schuld, die ich bei deiner Schwester habe. Wenn ich die eine nicht retten kann, werde ich es bei der anderen versuchen."
Marre spuckte ihn an. „Was weißt du schon über Sinara", fauchte sie.
„Nur so viel, dass sie nicht gewollt hätte, dass ihre Schwester wegen eines Geheimnisses sterben sollte." Myazi wischte gleichmütig den Speichel von seinem Mantel.
„Sprich kein weiteres Wort mehr über sie", stieß Marre zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Nun, dann sag mir, warum wir dein Schiff an diesem ungewöhnlichen Ort finden, und noch dazu dich, Raguza, zusammen mit deinem elfischen Bluthund, einem Karr mit bemerkenswerter Technik am Körper und einem geradezu farblosen Menschen mit merkwürdigen blauen Adern und einem Haibiss aus dem Wasser fischen." Er seufzte, Blitze spielten um seine metallene Hand. „Bevor wir zu Gewalt greifen müssen."
Ich duckte mich hinter Farraday, doch der einäugige Blick des Kitsune fand mich dennoch. Vorsichtig schob ich mich hinter Vailornes schlanken Rücken. Er war zumindest ein wenig größer als ich.
„Captain, der Mensch ist Marius Farraday. Der Mann, dem ich es verdanke, dass ich in Eure Dienste gefunden habe", mischte Rotchcaft sich erneut ein. „Er war mein Captain, bis ich es für angebracht hielt, ihn von seinem Posten zu entfernen und in Triport auszusetzen, bevor er mich und den lächerlichen Rest meiner Crew ins Verderben stürzt. Ich habe bei allen Meeren gehofft, ihn nie wieder zu sehen, aber die See erfüllt keine Wünsche."
Farraday senkte den Blick. Ich sah, wie seine Kiefermuskeln sich anspannten.
„Marius Farraday", sagte Myazi langsam. „Du warst der, der Captain Rathes Schiff mit dessen eigener Crew übernommen hat. Ein Noxer", er trat näher auf ihn zu und entblößte eine Tätowierung auf Farradays schmaler Brust, „mit dem Zeichen der kaiserlichen Marine."
Einige der Piraten raunten, mehrere spuckten aus. Ich erkannte einige blutfleckige Mäntel und Waffen mit Insignien von Nox unter ihnen. Das Imperium war wahrlich beliebt.
„Rotchcaft hat eine Menge über dich erzählt. Vor allem über nicht gehaltene Versprechen. Über Wahnsinn. Und davon, dass du besessen bist, vom Schwert des Caligár." Er warf einen Blick zu Marre. „Und ich weiß auch, dass du, Raguza, das Schwert gesucht hast, noch bevor Marius Farraday zum ersten Mal den Boden von Hogarth betrat, bevor du ihm ein Schiff und eine Crew in die Hände drücktest und ihn die Segel setzen ließest."
Marre erwiderte trotzig seinen Blick. Farraday lächelte halb. „Mein Ruf eilt mir wohl voraus." Blut rann seinen Arm hinab und tropfte auf die Planken. Ich bemerkte Myazis tadelnden Blick.
Rotchcaft lachte auf. „Du hast Rathes Crew und den Rest von uns gegen diesen schmierigen, fetthaarigen Sohn einer stinkenden Hure benutzt und hättest uns um ein Haar ins Verderben von magischen Stürmen gestürzt. Alles nur für ein Messer mit bösen Geistern darin. Verdammt, dein Ruf ist weiter verbreitet als die Lustseuche in einem drittklassigen Bordell, Marius."
„Du suchst wieder nach dem Schwert, Raguza. Und so, wie es scheint, habt ihr nun Erraxa gefragt, wie man den Stürmen ihrer teuflischen Schwester entgeht. Ich habe nie geglaubt, dass sie wirklich existiert, doch da ihr nun hier seid, zusammen mit Farraday, muss sie dort unten gewesen sein." Myazi musterte uns. Ich wandte scheinbar unbeteiligt den Blick ab, doch das schien ihm zu reichen. Ein unheimliches Grinsen breitete sich auf seinen Lefzen aus, verzerrt durch metallene Klammern. „Und ihr seid fündig geworden. Es wundert mich, dass ihr noch lebt, nach allem, was man sich erzählt."
„Sie hatte einen Hang zum Dramatischen, doch den kann ich ihr nicht übel nehmen", warf ich ein.
Myazi überging mich. „Was hat sie euch verraten?"
„Wahrscheinlich, wie man Siarthys' Stürme überleben kann." Rotchcaft feilte sich mit ihrem Messer die Krallen. Ihre Augen unter der Hutkrempe schienen zu glühen.
Der Kitsune musterte uns. Mich, bemüht, unschuldig zu wirken. Farraday, der vor Schmerz nach Luft schnappte, noch immer mit seinem blutigen Arm. Die blauen Adern breiteten sich aus. Vailorne, kalt und unnahbar wie eh und je. Marre, vor Zorn kochend.
Myazi zischte ein Wort. Ich spürte das vertraute Kribbeln fremder Magie über mich hinweg flackern, und verbarg mich erneut hinter Vailornes Rücken vor Myazis stechenden Blick. Der Elf wurde mir immer sympathischer. Zumindest gab er eine recht passable Deckung ab.
Doch Myazi interessierte sich nicht für mich. Klirrend schritt er auf Farraday zu, der das faszinierte Funkeln in seinen Augen mit betontem Gleichmut quittierte. Die halb mechanische Hand schoss vor und packte seinen verletzten Arm, Farraday keuchte auf. „Dieser Biss könnte von einem Hai sein, und doch pulsiert er vor Magie", murmelte der Kitsune. „Was hat Erraxa getan?"
Farraday seufzte schicksalsergeben. „Sie gab mir einen Teil ihrer Macht. Dieser Biss wird mich vor Siarthys' Stürmen schützen. Mich und das Schiff, auf dem ich mich befinde."
Myazi betrachtete eingehend Farradays Blut an seiner mechanischen Hand. Langsam wandte er sich ab und blickte dorthin, wo der Himmel dunkelrot glühte. Marres Schiff sank knirschend und schmatzend tiefer. Der leichte Wind trocknete mein nasses Fell und ließ die Segel rascheln. Ich ahnte, was Farraday vorhatte. Es war egal, wer uns zu Caligárs Insel brachte. Nun, da Marres Schiff Erraxas Riff entgegen sank, brauchten wir ein neues. Und wahrscheinlich war auch Myazi gegen den Ruf des Schwerts nicht gefeit. Nicht, da er nun einen Weg hatte, Siarthys' Reich unbehelligt zu durchqueren.
Das Innehalten des Kitsune dauerte nur wenige Augenblicke. „Es heißt, du kennst den Kurs zu Caligárs Insel, Farraday."
„Aye, das tue ich."
„Ich weiß, dass sie nicht weit von hier ist." Myazi wandte sich um, sein Mantel klirrte. Heftig trat er auf Farraday zu und brachte sein entstelltes Gesicht dicht vor das des Menschen. „Beweise mir, dass du recht hast. Beweise mir, dass Erraxa dir ihre Macht gab. Wir segeln zu seiner Insel, und das Schwert des Caligár wird mein sein."
Farraday verzog keine Miene und nickte stumm. Marre stieß ein ersticktes Fauchen aus. Ich fletschte kurz die Zähne. Myazi schien nicht halb so stark wie Marre, doch ich hatte bereits mit Magiern zu tun gehabt. Oft. In seinem schmalen, versehrten Körper steckte die Kraft, ganze Schiffe in der Luft zu zerreißen. Ebenso erkannte ich einige Runen an seinen metallenen Körperteilen. Er nutzte sowohl sein eigenes Können als auch das von magischen Gegenständen, und es jagte mir gehörigen Respekt ein. Es würde keine leichte Aufgabe sein, ihm das Schwert zu stehlen. Unauffällig schlurfte ich weiter hinter Vailornes Rücken, der Elf schnaubte geringschätzig.
Rotchcaft stieß ein freudloses Kreischen aus, das wohl ein Lachen darstellen sollte. „Bei den eisernen Eiern des Mechanicus, Captain! Wir haben bereits einen Auftrag! Wenn wir nicht bald in Jade sind, werden wir aufgehängt! So, wie wir es mit Farraday und seiner Brut von Wyrdail tun sollten." Sie trat auf Myazi zu und packte ihn am Mantelsaum. „Dieses elende Schwert jagt alle in den Wahnsinn. Hört nicht auf ihn!"
„Rotchcaft, Rotchcaft." Myazi lächelte verzerrt. „Ich weiß, dass du schreckliche Erfahrungen gemacht hast mit Farraday und dem Schwert und Siarthys und ihren verfluchten Stürmen. Aber nun, da wir Erraxas Macht bei uns haben, wird uns nichts geschehen."
„Farraday könnte gelogen haben. Erraxa könnte gelogen haben." Rotchcaft fletschte die Zähne. „Ich werde nicht erneut in dieses von den Göttern verfluchte Gebiet segeln."
„Oh doch, das werden wir. Die Macht einer Göttin gegen die ihrer Schwester. Und am Ende wartet die Macht über eine Crew aus Dämonen." Myazis Augen flackerten. „Du magst gegen Farraday gemeutert haben, aber du wirst es nicht gegen mich tun, Rotchcaft."
Kurz fochten Kitsune und Goblin einen wortlosen Kampf aus, doch schließlich senkte Rotchcaft den Blick. Myazi lächelte beinahe entschuldigend. „Es tut mir leid, dass ich dich dazu zwingen muss, mit mir zu segeln. Aber bitte, verliere das Vertrauen in mich nicht. Außerdem liegt Caligárs Insel beinahe auf dem Weg nach Jade. Es wäre eine Schande, diese Chance verstreichen zu lassen."
„Jade?", mischte Marre sich ein. „Was, bei allen Höllen, willst du in Jade? Die Kaiserlichen zerreißen dich in der Luft, wenn sie dich in ihren Gewässern entdecken."
„Das werden wir nicht. Wir haben ein Geschenk für die Weiße Kaiserin. Und wir werden von großen Mächten beschützt", sagte Myazi rätselhaft. „Doch das ist nicht weiter von Bedeutung." Er sah zu Farraday. „Du kommst mit mir. Zeige mir den Kurs zu dieser Insel. Sperrt die anderen ein."
Rotchcaft stieß ein wütendes Zischen aus, doch begann erneut, Befehle zu rufen. Segel wurden gesetzt, die Knochensammler, die die Unterhaltungen belauscht hatten, bemannten ihre Posten. Die Männer, die uns zuvor auf die Banshee's Wrath gebracht hatten, trieben uns hinab in den Schiffsbauch zu den Zellen, wo Marres Crew auf uns wartete. Ich fragte mich, wie ein Mann wie Myazi, scheinbar der Gewalt abgewandt, feinsinnig und beinahe empfindsam, so bedacht auf die Meinung anderer, sich als Piratenkapitän halten konnte. Doch er war ein Magier. Ich durfte ihn nicht unterschätzen. Viele hatten diesen Fehler sicherlich gemacht und hatten unrühmliche Tode gefunden, durch Blitze, Feuerbälle und Haie.
Marre wand sich in ihren Fesseln, doch die Knoten hielten. Vailornes Handgelenke steckten in schweren, eisernen Schellen mit eingravierten Runen, versiegelt von Myazi selbst. Sie blockierten seine Magie, doch der Elf tat, als interessierten sie ihn nicht. Herrschaftlich trat er in seine Zelle, als beanspruchte er sie als sein neues Königreich, während Marres Hände voller Zorn zuckten. Sich vom Töten abzuhalten schien all ihre Beherrschung zu kosten.
Ich blickte den schmalen Gang zwischen den Zellen entlang. Eine von ihnen, am Ende des Gangs, war verkleidet mit Holz und verstärkt mit Metallbändern. Runen zogen sich über das dunkle Eisen. Die Tür war aus massivem Holz statt einer gewöhnlichen Gittertür, verschlossen mit mehreren Schlössern und Riegeln. Ein Querbalken versperrte sie zusätzlich.
Der Geschuppte stieß mich zu Vailorne in die Zelle. Knirschend drehte er den Schlüssel im Schloss um und wandte sich zum Gehen.
Ich hielt ihn auf. „Ihr habt wohl mächtig Angst vor eurem Gefangenen", bemerkte ich und wies auf die gesicherte Tür.
Der Pirat lachte kurz auf. „Wenn du wüsstest, was darin ist, hättest du auch Angst, Karr. Vielleicht nicht unbedingt, es sieht deiner hässlichen Visage äußerst ähnlich, und das, was man kennt, fürchtet man nicht."
Ich konnte ihm flüstern, dass dem nicht so war. Ich kannte viele, vor denen ich eine Menge Angst hatte. „Was ist denn in der Zelle?", fragte ich weiter.
„Das Geschenk für die Kaiserin. Wie genau es ihr Freude bringen soll, werde ich nie verstehen." Er zuckte mit den Schultern. „Nur der Captain und ein paar seiner Offiziere wissen genau, was es mit der Kaiserin zu tun hat." Er nickte mir geradezu freundlich zu. „Gute Nacht, Karr."
Der Boden war sauber und trocken, eine der saubersten Zellen, in denen ich je gesessen hatte, und ich ließ mich nieder. Im Schutz meines zerrissenen Hemdes spielte ich mit meinen Diebeswerkzeugen und dem Dolch, den ich erneut erfolgreich vor den Piraten versteckt hatte. Müde ließ ich den Blick schweifen. Marres zerschlagene Crew erwiderte ihn stumpf. „Und nun?", fragte ich in das bleierne Schweigen hinein.
„Wenn es nach mir ginge, würde ich diesem elenden Myazi mit bloßen Händen das Genick brechen, sein Schiff übernehmen und es zu dieser Insel steuern", murmelte Marre. „Doch wir sind in der Unterzahl. Wir würden sterben, noch ehe wir die Bilge verlassen hätten."
Ein wenig enttäuscht und doch erleichtert ließ ich die Werkzeuge los. „Was tun wir dann?"
„Wir warten, bis wir dort sind", sagte Marre. Etwas in ihrem Tonfall sagte mir, dass sie es hasste, das Wort an mich zu richten. „Und dann schlagen wir zu."
„Wird Farraday uns helfen?"
Sie zuckte mit den Schultern. „Zähle nicht darauf, Schatzjäger. Er will das Schwert, genauso wie ich und Myazi."
Und wie ich auch. Doch ich schwieg, rutschte in eine bequemere Position und fragte mich, wo meine Waffen und meine Ausrüstung waren.
Die Zeit verrann. In der Ferne hörte ich die Schritte der Piraten auf den Planken, das Wasser schlug gegen die Bordwand neben mir. Marre und Vailorne flüsterten miteinander, doch ich lauschte nicht. Stattdessen versuchte ich, einen eigenen Plan zu schmieden, wie ich das Schwert in meine Schmutzfinger bekommen konnte, doch mir wollte nichts Kluges einfallen. Ich würde es schaffen, redete ich mir ein. Ich brauchte keinen Plan. Ich brauchte nur das Schwert, und wenn ich es hatte, würde ich mit Myazis Schiff die Dragon's Pride finden und Arcaul aus Noxus retten.
Ein Scharren riss mich aus meinen Gedanken, ein Geräusch, als kratzte jemand mit langen Krallen an den Planken entlang. Das Knurren, das darauf folgte, klang wie ferner Donner. Ein paar der Gefangenen regten sich im Schlaf.
Vailorne und Marre sahen auf. „Was war das?", zischte sie.
Erneut erklang das Geräusch, begleitet von einem Keuchen. Etwas brüllte erstickt. Dumpf schlug etwas gegen Holz, als werfe sich jemand mit Wucht gegen die Bordwand. Ich erhaschte Worte in einer fremden Sprache, doch ich verstand sie nicht.
Ich erhob mich, trat zur Zellentür und versuchte, in die Richtung des Geräuschs zu sehen. Es kam aus der geschlossenen Zelle, erkannte ich. Der Querbalken und die Riegel klapperten bei jedem Geräusch. Etwas war darin eingesperrt, und es wollte offensichtlich heraus. Die Insassen der angrenzenden Zelle drückten sich ängstlich an die Gitterstäbe, die der bebenden, knirschenden Zellenwand gegenüber lag. Das Knirschen von Metall auf Holz, zusammen mit dem unterschwelligen, magischen Flüstern, das die Runen ausstrahlten, erinnerte mich unangenehm an Erraxas Gefängnis.
„Es kommt aus der Zelle", sagte ich nervös.
„Kann einer von euch erkennen, was es ist?", rief Marre leise. Ihre Crew antwortete mit ängstlichen, doch verneinenden Geräuschen, und sie musterte die Zelle misstrauisch. Schließlich wandte sie sich zu mir um. „Sieh nach, Herrera", befahl sie. Ich zögerte, doch sie duldete keinen Widerstand. „Du bist Schatzjäger. Beweise mir, wie gut du bist. Vielleicht können wir das, was wir dort finden, zu unseren Gunsten nutzen."
Ich warf ihr einen trotzigen Blick zu, doch fügte mich. Ich wollte ebenso wie sie wissen, was das Geschenk für die Kaiserin war. Aufmerksam lauschte ich in alle Richtungen, doch niemand schien sich uns zu nähern. Die Schritte auf den Decks über uns waren langsam und ohne Hast. Niemand schien das Brüllen bemerkt zu haben. Oder aber es kümmerte niemanden mehr.
Ich zückte meine Werkzeuge und knackte das Schloss meiner Zelle. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich alle Wyrdail befreien können, doch die Knochensammler hätten sie umgebracht. Einen nach dem anderen. Dessen war ich mir sicher.
Befangen schlich ich aus meiner Zelle, durch den Gang, auf die Zelle zu. Aus der Nähe war das Knurren und Kratzen so laut, dass ich bei jedem Geräusch zusammenzuckte. Vor der Zellentür blieb ich stehen und öffnete die Luke in der Tür, ein kaum handgroßes Loch, verdeckt von einer Metallplatte. Vorsichtig lugte ich hindurch.
Die Kreatur in der Zelle war ein Karr, ebenso wie ich, doch strotzte vor Muskeln. Sie zeichneten sich unter seinem struppigen Fell ab, durchkreuzt von dunkel orangefarben glühenden Symbolen, Runen, Schriftzeichen, als trüge das Wesen flüssiges Eisen auf der Haut. Bei jeder Bewegung wurden die Zeichen heller, bis sie beinahe weiß schienen. Überreste von zerrissener Kleidung hingen von seinem Körper. Er erinnerte mich an einen Werwolf, auf allen Vieren, doch mit den langen Beinen und kurzen Armen eines Humanoiden. Metallene Klauen, meinem Handschuh mit dem Hex-Core so ähnlich, schlugen tiefe Kerben in die Planken, doch jedes Mal, wenn das Wesen sich gegen die Wände warf, flammten die Runen auf und schlugen sie zurück in die Mitte der Zelle. Sein Knurren ließ die Tür unter meinen Händen vibrieren.
„Was siehst du, Herrera?", fragte Marre ungeduldig.
Als hätte ihre Stimme den Karr auf ihre Spur gebracht, wirbelte er herum. Sein Blick traf meinen, seine Augen schienen zu brennen. Doch ich erkannte ihn. Ich hatte stets geglaubt, ich hätte vergessen, wie sein Gesicht aussah, doch es war mir so vertraut wie mein eigenes Spiegelbild. Wenn ich mich erinnerte, sah ich einen stolzen Karr in der Uniform der noxischen Luftflotte. Nun war er verborgen unter Muskelbergen, zu groß, um natürlich zu sein, und den Glyphen auf seiner Haut.
Irgendwo, verborgen unter dem Geruch nach Magie und heißem Eisen, unter Tod und Schweiß und Feuer, erkannte ich etwas, das nach Wind in den Segeln eines Luftschiffs roch. Nach der Unterwelt von Tarensvault und dem Gebrüll der Exerziermeister in der Kaserne. Nach noxischen Uniformen, nach Vergebung, nach dem Donnern von Kanonen, einem Schiff, dessen Segel an Drachenflügel erinnern, das Aufflammen von Feuer in eisernen Mäulern. Nach Fallen und Asche und dem Wissen, dass ich überlebt hatte und er gestorben war.
„Arcaul", flüsterte ich heiser.
Arcaul, oder das Wesen, das Arcaul war, knurrte tief. Dann schnellte er auf die Tür zu, die Krallen nach mir ausgestreckt.
Das Krachen seines Körpers gegen die Tür ließ mich zurücktaumeln. Die Runen flammten auf, und Arcaul fiel auf die Planken zurück. Seine Krallen hinterließen scharrende Spuren, und in einem schattenhaften Wirbel wandte er sich wieder zu mir um. Mein Herz pochte in meinem Hals, und ich stolperte hastig von seiner Zelle fort.
Meine Gedanken rasten. Er sollte in Noxus sein. Er sollte in den Händen des Kaisers von Nox sein. Wie sollte Arcaul, mein Bruder, verwandelt in diese Kreatur, das Geschenk der Kaiserin sein, auf Myazis Schiff? Und Marre... sie durfte ihn nicht für ihre Zwecke benutzen. Niemand durfte das. Ich würde ihn von diesem Schiff schaffen, nahm ich mir vor. Ich würde ihn retten, wie er mich so oft vor den Schlägern in Tarensvault gerettet hatte. Zu den Unheiligen mit dem Schwert des Caligár, ich musste nur an einen Ort, wo ich mit Arcaul von Bord gehen und unbehelligt verschwinden konnte. Alles andere, alle anderen war nebensächlich. Aber er wollte mich töten. Er war nicht mein Bruder. Die Kreatur in der Zelle würde mich töten, wenn er die Gelegenheit dazu bekam, und ich wusste nicht, wie ich meinen Bruder zurück bekommen sollte.
Dafür brauchte ich Hilfe. Doch nicht Marres und auch nicht Vailornes. Es gab nur eine einzige Person, der ich zumindest ein wenig vertraute, die wusste, dass und weswegen ich das Schwert suchte. Doch Farraday war nicht hier. Er war bei Myazi. Plötzlich fragte ich mich, was er mit dem Kitsune besprochen hatte, und wo er gefangen gehalten wurde.
Am Rande meines Bewusstseins bemerkte ich, dass die Knochensammler mich töten würden, sollten sie mich außerhalb meiner Zelle antreffen, und ich trat hastig wieder zu Vailorne und Marre. Mit zitternden Händen verschloss ich die Tür wieder.
„Was hast du gesehen?", wollte Marre wissen.
Ich sammelte mich und versuchte, die Angst aus meiner Stimme zu bannen. „Nichts von Bedeutung."
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