8. Kapitel

Es dauerte länger als erwartet, die große Halle wiederzufinden. Obwohl ich mir sicher war, denselben Weg gegangen zu sein, wie mit William am Abend, hatte ich offenbar die richtige Abzweigung verpasst. Bei Tageslicht wirkten die Gänge und Treppen länger als bei Kerzenschein. Ich hatte gehofft, jemandem zu begegnen, der mir die Richtung weisen konnte, doch während ich unschlüssig vor der dritten Abzweigung stand, schienen sich die übrigen Menschen in Luft aufgelöst zu haben. Aus der Ferne drangen immer wieder Stimmen zu mir, aber so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte ihren Ursprung nicht ausmachen. Ganz gleich, in welche Richtung ich mich drehte, sie wanderten mit mir, statt ihren Herkunftsort beizubehalten. Meine Erwartung, an jeder Ecke einen Soldaten zu treffen, stellte sich ebenfalls als falsch heraus. Entweder gingen sie nicht davon aus, dass eine derart aufmerksame Bewachung notwendig war, oder ich war tatsächlich die Einzige, die diesen Teil der Burg je betreten hatte.

Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.

Als ich zum zweiten Mal in einer Sackgasse landete, konnte ich mich nur mühsam davon abhalten, gegen die weiß gestrichene Wand zu treten. War meine Erinnerung dermaßen schlecht, dass ich nicht einmal den einfachsten Weg zurückfand oder hatte ich nur den katastrophalsten Orientierungssinn der Welt? Beide Varianten gefielen mir nicht und die dritte – dass sich die Wände über Nacht verschoben hatten – noch viel weniger.

Ich holte tief Luft und versuchte, vor meinem geistigen Auge eine Karte entstehen zu lassen. Wir waren von der Halle aus beständig geradeaus gegangen, dann nach rechts auf die erste Treppe abgebogen, hatten im Stockwerk darüber den linken Gang gewählt und waren dann schon an der Tür gewesen. Es musste hier sein. Stirnrunzelnd starrte ich weiter die Wand vor mir an und beschwor sie gedanklich, eine Tür freizugeben. Sie konnte doch nicht mit ihr verschmolzen sein.

„Himmel, warum bin ich da nicht gleich drauf gekommen?", sagte ich und schüttelte über mich selbst den Kopf. Natürlich konnte ich die Tür nicht ohne Weiteres finden – wir hatten die Halle durch einen der Dienstboteneingänge verlassen. Der normale Eingang befand sich mehrere Gänge rechts von mir und ich hatte mich gar nicht verirrt, sondern nur nach der falschen Tür gesucht.

Von neuer Zuversicht erfüllt, ging ich ein paar Schritte zurück und bog bei der ersten Gelegenheit ab. Diesmal erblickte ich endlich andere Menschen, die ähnlich zielstrebig unterwegs zu sein schienen. Und tatsächlich: keine Minute später stand ich im Schatten einer der deckenhohen Flügeltüren und musterte die Halle. William hatte recht gehabt; es gab Essen, wenn auch nur die Reste von gestern statt eines normalen Frühstücks. Daran störte sich jedoch keiner der Anwesenden – es wurde diskutiert, gelacht und hier und da Beleidigungen ausgetauscht. Mir fiel auf, dass die Halle merklich leerer war als am Abend. Über die Hälfte der Gäste musste schon abgereist sein oder sich derzeit an einem anderen Ort aufhalten. Mutter entdeckte ich zu meiner Enttäuschung nicht.

„Verzeihung", wandte ich mich an einen der Soldaten, der ein Stück links von mir stand und gemeinsam mit fünf weiteren die Halle im Auge behielt. „Ich bin auf der Suche nach meiner Mutter, der Countesse of Conteville. Wisst Ihr, wo ich sie finden könnte?"

Er warf mir einen winzigen Blick zu und schüttelte den Kopf. „Bedaure."

„Was? Dass Ihr es nicht wisst oder dass Ihr es mir nicht sagt?" Von plötzlichem Ärger erfüllt, trat ich einen Schritt näher auf ihn zu. Es mochte stimmen, dass er es nicht wusste, doch in jedem Fall musste er eine ungefähre Ahnung haben, wo sich die übrigen englischen Gäste aufhielten. Dass man mir nicht einmal das mitteilen wollte, grenzte an Unverschämtheit. Und dass er auf meine zweite Frage keine Reaktion zeigte, war sogar noch schlimmer.

„Herrgott, Julie! Was glaubt Ihr eigentlich, was Ihr da tut?", grollte jemand neben mir und zog mich gleichzeitig von den Soldaten weg. Was genau er damit verhinderte, hätte ich nicht sagen können.

Ich sträubte mich einige Augenblicke lang, bemerkte dann, dass es zwecklos war, und ließ meinen Widerstand fallen. Vermutlich würde mir der Soldat auch dann nicht antworten, wenn ich ihm die Meinung sagte. „Ich suche meine Mutter."

„Aye, das dachte ich mir schon. Aber auf einen bewaffneten Engländer loszugehen, ist nicht die effektivste Methode." William lotste mich in die erstbeste Ecke und baute sich so vor mir auf, dass er mir jeden Fluchtweg versperrte. Zu welchem Zweck auch immer.

„Nicht für mich, meint Ihr", erwiderte ich spitz. „Das ist eher Euer Ding, nicht wahr?"

Seine Mundwinkel zuckten, ehe er wieder ernst wurde. „Nicht heute. Und selbst wenn Ihr irgendjemanden erfolgreich einschüchtern würdet, würde Euch das nichts bringen. Eure Mutter ist nicht mehr hier."

Ich blinzelte, realisierte, dass die scharfe Entgegnung auf meiner Zunge nicht zu seiner Antwort passte und schluckte sie herunter. „Woher wollt Ihr das wissen?"

„Ich habe mich nach ihr erkundigt – bei den richtigen Leuten", fügte er hinzu, als ich protestierend den Mund öffnete. „Sie ist gemeinsam mit dem Großteil der anderen Engländer bei Anbruch der Dämmerung aufgebrochen. Man vermutet, dass der Earl of Richmond verhindern wollte, eine der Bräute könnte auf die Idee kommen, gemeinsam mit ihrer Familie abzureisen, wenn sie nur die Gelegenheit dazu erhält. Nicht sonderlich nett, aber das ändert nichts daran, dass sie fort ist."

„Aber ...", begann ich, unsicher, was ich überhaupt sagen wollte. Die Erkenntnis, was dieser verfrühte Aufbruch für mich bedeutete, sickerte nur langsam zu mir durch. Ich würde Mutter nicht wiedersehen, nicht allzu bald, im schlimmsten Fall nie mehr. Es erschien mir unwirklich, noch unwirklicher als gestern Abend. Sie konnte nicht einfach fort sein. Nicht, ohne zumindest ein paar letzte Worte mit mir gewechselt und mich ein letztes Mal in den Arm genommen zu haben.

„Ich konnte mich nicht einmal verabschieden", flüsterte ich und lauschte auf die dumpfe Leere, die sich in mir ausbreitete. Ich wollte weinen, meinen verzweifelten Zorn über diese Ungerechtigkeit herausschreien, mich irgendwo zu einer Kugel zusammenrollen und erst wieder aufwachen, wenn alles wieder beim Alten war. Doch ich blieb, wo ich war. Keine Träne verließ meine Augen, kein Schrei meine Kehle. Irgendetwas in mir balancierte auf einem Seil über dem Abgrund, schwankte gefährlich stark, obwohl es das Ende beinahe erreicht hatte. Ich wartete auf den Fall, die erlösende Kraft, die die Dämme sprengen und mich in einer Höhle der Trauer zurücklassen würde – doch er kam nicht. Stattdessen berührte mich jemand an der Schulter und zog mich auf die rettende Seite, weg von dem Seil und dem Abgrund.

„Es ist kein großer Trost, aber Ihr könnt Eurer Familie schreiben, wenn wir Zuhause sind." William lächelte aufmunternd. „Es wird sicher eine Weile dauern, ehe sie Eure Briefe erhalten, aber sie werden früher oder später bei ihnen ankommen. Und wenn sie wissen, wohin sie schreiben sollen, werden sie Euch gewiss regelmäßig antworten."

Ich holte tief Luft, entfernte mich gedanklich weiter vom Abgrund, und nickte. „Das wäre großartig."

Er erwiderte mein Nicken und trat einen Schritt zurück. Falls er angenommen hatte, mich von einer unüberlegten Handlung abhalten zu müssen, war er offenbar zum gegenteiligen Schluss gelangt. Oder er war der Meinung, mich im Zweifelsfall ohne Weiteres aufhalten zu können. „Aye, dann sollten wir zusehen, dass wir möglichst bald aufbrechen, nicht? Und davor solltet Ihr etwas essen."

Mein Protest wurde von dem zustimmenden Grollen meines Magens vereitelt. Ich war versucht, zu behaupten, das wäre kein Hunger gewesen, ließ es dann aber doch bleiben. William hatte das Geräusch mit einem derart vielsagenden Blick quittiert, dass ich es für unwahrscheinlich hielt, ihn vom Gegenteil überzeugen zu können. Ich bezweifelte, dass er mich in irgendeiner Weise zum Essen zwingen würde, aber spätestens, wenn ich auf der Reise über Hunger klagte – oder weitere Imitationen eines gereizten Hundes abgab - , würden prompt entsprechende Bemerkungen folgen. Und es würde eine lange Reise werden.

Er hatte entweder keine Antwort erwartet oder meinen Magen als solche gewertet und zog mich vorbei an halb besetzten Tischen, auf denen die bunt zusammengewürfelten Platten aus Vor-, Haupt-, und Nachspeise zum Teil beinahe über die Kanten fielen, weiteren Wachen und drei Dienstmädchen, die unermüdlich leeres Geschirr aus der Halle schleppten. Als die letzten Gäste irgendwann in der Nacht zu Bett gegangen waren, hatte sich niemand die Mühe gemacht, hinter ihnen aufzuräumen – ich meinte, an einer Stelle Erbrochens an der Wand kleben zu sehen, und wich angeekelt zurück. Wenigstens verdeckte der noch immer präsente Essensgeruch alles andere.

Obwohl die Stimmung auf den ersten Blick genauso ausgelassen schien wie gestern Abend, spürte ich unterschwellig etwas anderes. Auf der Suche nach dem Ursprung meines mulmigen Gefühls ließ ich den Blick weiter schweifen, in der Hoffnung, es würde keiner Anstoß daran nehmen, wenn ich ihn kurz ansah. Im Gegensatz zu gestern waren die Schotten nun in der Überzahl. Ich wusste nicht, woher die plötzliche Gewissheit rührte, sie wären keine Engländer; vielleicht war es die deutliche Grüppchenbildung, deren Mitglieder jeweils eng zusammengerückt waren und gelegentlich einen finsteren Blick auf die Wachen warfen. Mehrmals schnappte ich auch ein Wort auf, von dem ich sicher war, es sei Gälisch.

Doch es waren weder die einzelnen Gruppen noch deren oftmals feindselige Haltung, die mich beunruhigten. Es waren die Waffen, die jeder der Männer selbstverständlich trug. Sollten sie sich entschließen, gemeinsam die Soldaten zu überwältigen und die Burg einzunehmen, könnten sie es meiner Einschätzung nach schaffen – ungeachtet der Tatsache, dass sie in der fünf-, wenn nicht gar zehnfachen Minderheit waren.

Ich war so in meine Betrachtung der anderen Anwesenden vertieft, dass ich erst bemerkte, dass wir stehen geblieben waren, als das Gespräch neben uns verstummte. Die Worte waren zu leise gewesen, um sie zu verstehen, doch ihr plötzliches Fehlen genügte, um meine Aufmerksamkeit auf die beiden Männer zu lenken. Beide trugen einen Gesichtsausdruck zur Schau, der irgendwo zwischen purem Misstrauen und Ablehnung schwankte.

William räusperte sich, woraufhin zumindest die Miene des Jüngeren einen Hauch freundlicher wurde. Der andere blitzte mich weiterhin unter aschblonden Strähnen, die ihm weit genug in die Stirn fielen, um seine Sicht ernstlich zu behindern, an, als würde er mich allein dadurch in ein Häufchen Staub verwandeln zu können.

„Julie, das sind John Mackenzie und Gawain Mitchell – zwei meiner engsten Freunde. Und das", wandte er sich deutlich schärfer an die beiden, „ist Julie Conteville Kincaid – meine Frau, falls ihr euch erinnert. Also hört auf, sie anzustarren, als wäre sie der Teufel persönlich."

„Sie ist Engländerin", erwiderte der Blondschopf – John – und verengte die Augen, ohne den Blick von mir zu nehmen. „Das kommt verdammt nah dran."

Gawain murmelte etwas auf Gälisch und schien John unter dem Tisch zu treten, ehe er mir ein schiefes Lächeln schenkte. „Engländerin hin oder her, sie gehört jetzt zu uns, aye?"

Ich nickte zögernd, entschied mich dazu, mich im Falle der Wahl immer an Gawain zu halten, und setzte mich ihm gegenüber. Woher auch immer der Hass rührte, den John allen Engländern im Allgemeinen und derzeit mir im Besonderen entgegenzubringen schien: Er würde sicher nicht innerhalb der nächsten Minuten verschwinden. Insgeheim keimte die Frage in mir auf, ob es William womöglich ähnlich erging und er seine Gefühle lediglich meisterhaft vor mir verbarg. Spontan würde ich sie mit nein beantworten, doch Johns Reaktion auf meine Anwesenheit weckte Zweifel in mir. Selbst wenn William mir gegenüber keine solche Abneigung hegte, gab es mehr als genug Menschen in seinem Umfeld, die es tun könnten.

Auf der Suche nach irgendetwas anderem als Johns stechendem Blick betrachtete ich die Speisen, die ihren Weg auf diesen Tisch gefunden hatten, und kam zu dem Schluss, dass sie bei Weitem nicht so appetitlich aussahen wie gestern Abend. In der Suppe schwammen mehrere Fliegen, von dem, was womöglich einst ein Wildschwein war, waren nur abgenagte Knochen übrig geblieben und auf dem Mus hatte sich eine dicke Haut gebildet. Ein Fisch hatte es ebenfalls überlebt und starrte mich wachsam aus seinem glasigen Auge an, als würde er mich bei einer falschen Bewegung anspringen – ich würde schwören, dass es derselbe war, der mich schon gestern pausenlos beobachtet hatte. In der Ermangelung eines neuen Petersilienbüschels, das ich ihm auf den Kopf legen konnte, behielt ich ihn vorsichtshalber im Auge, als ich nach dem Lebkuchen hinter ihm langte. Die Stücke waren über Nacht weich geworden, doch sie erschienen mir von allem noch als die beste Wahl.

Dennoch nahm ich vorerst nur einen winzigen Bissen, um unangenehme Überraschungen vorzubeugen. Der vormals knusprige Teig war matschig und löste sich in meinem Mund zu einer klebrig süßen Masse auf.

Gelegentlich sah ich auf und stellte fest, dass die drei Schotten sich wortlos über etwas verständigten, ohne erkennen zu können, wie genau diese Verständigung ablief. Eine kaum merklich gehobene Augenbraue von Gawain, ein leichtes Kopfrucken von William und Stirnrunzeln von John. Offensichtlich ging es um mich. Ich fragte mich, warum sie nicht einfach Gälisch sprachen. Vielleicht, weil ich dann in jedem Fall bemerkt hätte, dass sie nicht wollten, dass ich etwas verstand. Aus den wenigen Gesten konnte ich mir dennoch genug zusammenreimen: Sie überlegten, was sie mit mir machen sollten.

Meine Spekulationen gingen so weit, John zu verdächtigen, mich im Zweifelsfall an irgendeiner Wegkreuzung – oder gleich mitten im Wald – auszusetzen. William bestand sehr wahrscheinlich darauf, mich als das zu akzeptieren, was ich nun einmal war, und mich auch dementsprechend zu behandeln. Nicht als Engländerin, sondern als seine Frau. Obwohl die Ehe mehr auf dem Papier als in der Wirklichkeit verankert war, schien er es als inakzeptabel zu werten, nicht für meine Sicherheit zu sorgen. Was Gawain von der ganzen Sache hielt, war schwer einzuschätzen. Abwarten, sagte sein Blick, als er mich kurz streifte.

Ohne weitere Informationen wanderten meine Gedanken weiter zu der Reise, die mir bevorstand. Drei Tage, hatte William gesagt. Die Frage war nur, ob sie auf ein normales Tempo oder eine regelrechte Hetzjagd bezogen waren. Ich bezweifelte, dass ich in allem, was über leichten Trab hinausging, mithalten konnte. Was mich zur nächsten Überlegung brachte.

„Ihr habt nicht zufällig ein zusätzliches Pferd dabei, oder?", fragte ich zögernd. Dennoch kam meine Stimme scheinbar so überraschend, dass alle anderen Anwesenden ertappt zusammenfuhren.

„Es ist nur so", fuhr ich fort, als William mich verständnislos ansah, „dass meine Mutter mit großer Sicherheit mein Pferd mit nach Hause genommen hat."

Er blinzelte mehrmals, bis ihm das Problem endlich aufzugehen schien. Und auch dann antwortete er nicht, sondern beschränkte sich darauf, die Stirn in Falten zu legen und schweigend nachzudenken. Ich bereitete mich innerlich darauf vor, ihn davon überzeugen zu müssen, dass ich nicht mit ihm gemeinsam auf ein Pferd steigen würde, als sich Gawain räusperte.

„Soweit ich es mitbekommen habe, stellt Johnny allen bei Bedarf einen seiner Gäule zur Verfügung. Es wird zwar nur ein alter Klepper sein, aber besser als nichts, aye?"

Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich verstand, dass er sich nicht auf John Mackenzie neben sich bezogen hatte, und offenbar vom Earl of Richmond sprach. Ich schwieg und hoffte, dass er mit seiner Vermutung recht behielt. Ein alter Klepper wäre mir lieber als ein störrischer Hengst, der mich ununterbrochen abwerfen wollte.

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