6. Kapitel

„Euch ist doch nicht wirklich übel, oder?", fragte William und musterte mich im Gehen skeptisch.

„Natürlich nicht. Wenn Ihr mir dann endlich sagen würdet, was Ihr vorhabt?"

Er bog zielstrebig nach rechts auf eine der Treppen ab und warf mir einen kurzen Blick zu. „Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber ich habe wenig Lust, unsere Hochzeitsnacht in Gesellschaft von zehn weiteren Männern zu verbringen."

Ich auch nicht, dachte ich. Lieber würde ich doch noch in Ohnmacht fallen – obwohl es fraglich war, ob das die Rädelsführer des Ganzen davon abhalten würde, auf dem Vollzug der Ehe unter Zeugen zu bestehen. Als ich meine Röcke raffte und William um einiges langsamer die Treppe hinauf folgte, bereute ich es, mich nicht mit meinen Schwestern über dieses Thema unterhalten zu haben. Woher sollte ich auch wissen, dass ich nicht die Gelegenheit erhalten würde, vor meiner Hochzeit noch einmal mit ihnen zu sprechen? Normalerweise hätten wir uns am Abend vorher zusammengesetzt und ein letztes Mal alles durchgesprochen. Obwohl es genauso gut möglich war, dass sie mich damit nur noch mehr beunruhigt hätten, wäre es mir lieber gewesen, sie zu fragen, wie ihre Hochzeitsnächte liefen. Irgendein weibliches Wesen, das mir darüber Auskunft geben könnte, wäre sogar besser als nichts.

Warum musstest du auch immer unter einem Vorwand verschwinden, wenn Letizia das Gespräch darauf gelenkt hat?, warf ich mir selbst vor. Dann wärst du jetzt zumindest nicht völlig ahnungslos.

William wartete am Ende der Treppe und sah ungeduldig abwechselnd zwischen mir und dem Gang zu seiner rechten hin und her. Halb erwartete ich schon, dort jemanden stehen zu sehen, doch alles blieb ruhig, als wir die ersten Türen hinter uns ließen. Ich fragte mich, woher er den Weg so gut kannte, sprach meine Zweifel an der Behauptung, er wäre noch nie hier gewesen, aber nicht aus. Dass er schlicht einen sehr guten Orientierungssinn besaß, war durchaus möglich. Oder er hatte sich den Weg absichtlich genau eingeprägt.

„Wartet hier", murmelte er nach drei weiteren Abbiegungen. So leise, dass ich unwillkürlich den Atem anhielt und lauschte, in der Befürchtung, er hätte etwas gehört, das mir verborgen geblieben war. Einzelne Stimmen drangen an mein Ohr, doch selbst ich konnte erkennen, dass sie sich merklich entfernten. Dennoch fuhr die Angst in meinem Bauch erneut ihre Messer aus, als William den Gang weiter lief, an der Ecke stehen blieb und einen kurzen Blick auf die andere Seite warf. Er verharrte einige Augenblicke dort und schien ebenfalls auf die Stimmen zu lauschen, ehe er ebenso lautlos zurückkam, wie er gegangen war.

„Die waren schneller als erwartet", stellte er fest, diesmal in normaler Lautstärke, und öffnete die Tür neben mir. „Howard wird nicht erfreut sein, dass wir uns schon aus dem Staub gemacht haben."

Ich betrat zögernd den dunklen Raum. „Wer?"

„Der, den die Etikette davon abgehalten hat, uns ins Bett zu schleifen, während wir noch gegessen haben." Er schloss die Tür mit einem Klicken und sperrte damit das wenige Licht aus dem Gang aus.

„Ihr meint Glatzkopf?" Ich widerstand dem Drang, die Arme auszubreiten, um mögliche Zusammenstöße zu vermeiden und beschränkte mich darauf, die Augen weit aufzureißen. Die Umrisse eines Betts am anderen Ende des Raumes und ein Tisch samt zwei Stühlen begannen sich allmählich herauszukristallisieren.

William lachte leise. „Aye, obwohl Ihr ihn diesen Spitznamen nicht hören lassen solltet. Ich bin ihm in einem Pub in Edinburgh begegnet und habe mit ihm um vier Schilling Karten gespielt. Seitdem ist er schlecht auf mich zu sprechen, fürchte ich."

Es dauerte einen Augenblick, bis mir klar wurde, warum seine Stimme nicht aus der erwarteten Richtung kam. Während ich versucht hatte, mich zu orientieren, war er hinter mich getreten und zog mich sanft am Arm zu sich, bis ich neben ihm stand und die Wand im Rücken spürte. „Er hätte eben nicht spielen dürfen, wenn er schlecht darin ist."

„Oh, nein, schlecht ist er nicht, im Gegenteil", antwortete er und seine Zähne blitzten weiß in der Dunkelheit auf. „Aber ich bin um einiges besser im Betrügen."

„Was der eigentliche Grund ist, weswegen er Euch nicht ausstehen kann", schlussfolgerte ich. „Besitzt Ihr auch so etwas wie Freunde?"

„Aye. Der ein oder andere hält es noch mit mir aus."

Ich nickte und schwieg in Ermangelung eines anderen Themas. Ich hätte fragen können, welchem Zweck es diente, nebeneinander im Dunkeln an der Wand neben der Tür zu lehnen, ließ es aber bleiben. Die Antwort würde ich früher oder später eh erfahren – dass es einen Grund dafür geben musste, stand zweifellos fest. Und solange wir hier standen und uns von dem Bett fernhielten, beruhigte sich mein Herzschlag.

Wie viel Zeit verging, bis ein anderes Geräusch als unser gleichmäßiges Atmen die Stille durchschnitt, konnte ich nicht einschätzen. Die Schritte draußen tauchten so plötzlich auf, dass mein Puls augenblicklich wieder in die Höhe schnellte. Meine Augen hatten sich inzwischen gut genug an das fehlende Licht gewöhnt, um zu sehen, wie sich die Türklinke langsam senkte. William führte einen Finger an seine Lippen, doch ich wäre auch so nicht auf die Idee gekommen, ein Geräusch von mir zu geben.

Der flackernd rote Schein eines mehrarmigen Kerzenleuchters schob sich als erstes in mein Blickfeld, danach folgte ein Arm mit langen, schmalen Fingern. Den dazugehörigen Körper verdeckte die halb geöffnete Tür.

„Hier ist niemand, Sir", sagte eine gesichtslose Stimme. Der Leuchter schwankte ein wenig zur Seite, als wolle er sich vergewissern, nichts übersehen zu haben, ehe er sich ein Stück entfernte. Die Tür schloss sich und ich hörte, wie dahinter jemand deutlich verärgert antwortete, doch den genauen Wortlaut verstand ich nicht. Dennoch – die Schritte entfernten sich und die Spannung wich aus meinem Körper.

„Die sind wir hoffentlich bis morgen früh los", sagte William. „Ich schätze, sie werden die Suche nach uns recht schnell abbrechen. Es gibt zu viele Orte, an denen wir sein könnten."

Ich sah zu, wie er zur Tür ging und den Riegel vorschob. Die Nervosität, die mich begleitete, seit zum ersten Mal das Wort Hochzeitsnacht gefallen war, kehrte intensiver als zuvor zurück. Vorhin hatten wir darauf gewartet, dass jemand hier auftauchen würde, aber jetzt existierte keine Ausrede mehr. In der Hoffnung, das Unvermeidliche ein wenig herauszögern zu können, verließ ich meinen Platz an der Wand fluchtartig und stellte mich stattdessen an das Fenster, um hinauszusehen. Unter mir erstreckten sich einige kleinere Gebäude und weiter vorne die Burgmauer, doch dahinter konnte ich die Wiesen und einen der beiden Flüsse erahnen.

„So einen schönen Ausblick hat unser Zimmer nicht", bemerkte ich, als ich Williams Gegenwart direkt hinter mir spürte.

„Müsstet Ihr das alles nicht schon auf der Anreise gesehen haben?", erwiderte er amüsiert.

Ich schüttelte den Kopf und zuckte zusammen, als sich seine Hände auf meine Schultern legten. Im ersten Moment wollte ich zur Seite ausweichen, zwang mich dann aber zu bleiben. Was auch immer ich erwartet hatte – eine Massage ganz sicher nicht. Und doch fühlte ich, wie die Anspannung langsam aus mir wich und tiefer Zufriedenheit Platz machte.

„Drei Tage."

„Was?", fragte ich verwirrt und öffnete die Augen. Dass ich sie geschlossen hatte, bemerkte ich erst jetzt.

Ich spürte, wie William mit den Schultern zuckte, ohne in seiner Tätigkeit innezuhalten. „Ich versuche herauszufinden, was in Eurem Kopf vorgeht, und irgendwie bin ich auf die Idee gekommen, Ihr würdet überlegen, welche Entfernung Euch zukünftig von Eurer Familie trennt. Mein Zuhause liegt drei Tagesritte entfernt von hier."

„Ehrlich gesagt habe ich bis jetzt über gar nichts nachgedacht", gab ich zu. Drei Tage. Das machte insgesamt fünf Tagesreisen, die zwischen meinem und seinem Zuhause lagen. Nichts, was mich daran hindern konnte, meine Familie regelmäßig zu besuchen – vorausgesetzt, ich erhielt die Möglichkeit dazu. Die Gedanken an ein Fortbestehen des Kriegs drängten sich erneut in mein Bewusstsein. Vielleicht würde es Frieden geben, doch zu welchem Preis?

„Aber jetzt denkt Ihr über etwas nach", stellte er fest. „Und es ist nichts Positives."

Ich lächelte. „Sagt bloß, Ihr könnt Gedanken lesen?"

„Gelegentlich, wenn ich ein wenig Hilfe habe. Ihr verspannt Euch."

In dieser Hinsicht musste ich ihm recht geben. Ob die Überlegungen, was die Zukunft bringen würde, der alleinige Grund dafür waren, oder ob es doch damit zu tun hatte, dass er aufgehört hatte, meine Schultern zu massieren, und stattdessen die Haarnadeln aus meiner Frisur fischte, war fraglich. Ich dachte daran, wie lange Mutter gebraucht hatte, um die einzelnen Strähnen zu Zöpfen zu flechten, einen Teil davon aufzustecken und den Rest zu einem einzelnen Strang zusammenzuführen, und mir stiegen wieder Tränen in die Augen. Hoffentlich würde ich sie wenigstens morgen früh sehen, um mich zu verabschieden. Wenn ich William richtig einschätzte, würde er mir die nötige Zeit lassen und nicht schon bei Sonnenaufgang aufbrechen wollen – doch falls John of Brittany es für besser hielt, lange Abschiedsszenen zu unterbinden, konnte ich nichts dagegen ausrichten.

„Wie alt seid Ihr eigentlich, Julie?", fragte er unvermittelt und begann damit, vorsichtig die Zöpfe aufzulösen.

Ich registrierte überrascht, dass es das erste Mal war, dass er mich mit meinem Namen ansprach. Es klang ungewohnt, weil er ihn anders betonte. „Siebzehn. Ihr?"

Er murmelte sehr leise etwas in einer anderen Sprache. Gälisch, wie mir im selben Moment klar wurde. Obwohl ich kein einziges Wort verstand, war ich mir sicher, dass es kein sonderlich freundlicher Ausdruck war.

„Vierundzwanzig. Ich hätte Euch älter geschätzt."

„Ich glaube, es wäre bedenklich, wenn ich mit Mitte dreißig noch nicht verheiratet wäre", erwiderte ich trocken. Es interessierte mich, was er vorhin gesagt hatte – und noch mehr warum -, aber ihn danach zu fragen, traute ich mich nicht. Es war sicher kein Versehen, dass er nicht Englisch gesprochen hatte.

Wie erhofft, lockerte meine Antwort die Atmosphäre auf. Ich spürte, wie William vor unterdrückten Lachen bebte und ich mich ein gutes Stück mehr entspannte.

„Ganz so alt dann doch nicht", sagte er mit einem hörbaren Grinsen. „Aber bei den bisherigen Überraschungen heute hätte mich selbst das nicht gewundert."

Ich nickte und wir versanken wieder in Schweigen. Er war fertig damit, meine Haare zu entwirren; entweder war er selbst unsicher, was er als nächstes tun sollte, oder er wollte es herauszögern. Egal, was es war, es führte dazu, dass wir beide in die Dunkelheit starrten, ohne wirklich etwas zu sehen. Zumindest sah ich nichts. Dass es William anders erging, bezweifelte ich. Vielleicht huschten auch vor seinem inneren Auge Schatten der Vergangenheit vorbei, Erinnerungen, die zu verschwommen waren, um sie greifen zu können, und nicht mehr als ein beklemmendes Gefühl hinterließen, weil man sie nicht in allen Einzelheiten betrachten konnte. Ich nahm unterbewusst wahr, dass es kalt war, weiterhin kälter werden würde, solange wir die Fensterläden nicht schlossen. Dennoch konnte ich mich nicht überwinden, zurückzutreten und es zu tun.

„Einer meiner engsten Freunde hat vor etwas mehr als einem Jahr geheiratet", sagte William irgendwann. „Die Eltern seiner Frau haben darauf bestanden, dass genügend Zeugen beim Vollzug der Ehe anwesend sein müssen, und als sein Freund habe ich mich verpflichtet gefühlt, einer davon zu sein – damit nicht nur Fremde dabei sind. Sie hatten natürlich die Vorhänge am Bett zugezogen, aber wir waren eben im selben Raum. Seitdem ...", er zögerte und ein warmer Lufthauch streifte meinen Nacken, als er einige Sekunden später den angehaltenen Atem ausstieß.

„Seitdem fürchte ich mich vor meiner eigenen Hochzeitsnacht", fuhr er deutlich leiser fort.

Einen Herzschlag lang war ich sicher, mich verhört zu haben. Dann wurde mir klar, dass ich mich gar nicht verhört haben konnte – wie man es auch drehte und wendete, anders ergab der Satz keinen Sinn. Ein Scherz war es aber auch nicht, dessen war ich mir sicher. Dafür hatte es ihn zu viel Überwindung gekostet, ihn auszusprechen.

Es verunsicherte mich. Sowohl der Inhalt als auch die Tatsache, dass er ihn mir überhaupt anvertraut hatte. Ginge es darum, dass er sich vor Zeugen fürchtete, hätte er es nicht für nötig gehalten, darauf hinzuweisen, bedachte man, dass wir allein waren. „Meines Wissens nach hat die Frau einen größeren Grund, Angst vor der Hochzeitsnacht zu haben."

„Aye, das ist das Problem." Er schwieg wieder, lang genug, um mich dazu zu bringen, meinen vergleichsweise sicheren Posten am Fenster aufzugeben und mich zu ihm umzudrehen. Sein Blick hielt meinen fest. „Ich fürchte mich davor, weil ich weiß, dass ich dir weh tun werde, ohne es verhindern zu können."

Verblüfft über diese Ehrlichkeit öffnete ich den Mund und schloss ihn wieder, in Ermangelung einer passenden Antwort. „Das ... beruhigt mich jetzt unheimlich. Hättet Ihr mir das nicht später sagen können?"

„Entschuldige, das habe ich nicht bedacht", antwortete er und besaß immerhin genug Anstand, um zerknirscht auszusehen. „Ich finde es nur geschmacklos, dass wir miteinander ins Bett gehen sollen, obwohl wir uns gerade mal drei Stunden kennen, wenn überhaupt. Das fühlt sich ... nicht richtig an."

Ich schluckte meine Zweifel, ob es sich jemals richtig anfühlen würde, herunter. Das klang nach einer ernstzunehmenden Chance, die ganze Sache länger als ein oder zwei Tage herauszuzögern. Es wäre dumm, sie nicht zu nutzen. „Dann sollten wir vielleicht warten, bis es sich ... richtig ... anfühlt."

„Aye." William lächelte kurz, ehe er sich von mir entfernte, neben dem Bett in die Hocke ging, und offenbar etwas suchte. Als er sich wieder aufrichtete, blitzte Metall in seiner Hand auf. Er sah abwechselnd zwischen mir und dem Bett hin und her und schlug dann die Decke zum Fußende zurück. Als er den Dolch mit einer raschen Bewegung über seinen Daumen zog, trat ich einen Schritt vor.

„Was habt Ihr vor?" Obwohl ich wusste, dass ein so kleiner Schnitt alles andere als gefährlich war, konnte ich das Zittern in meiner Stimme nicht verhindern. Mir kam äußerst unpassend in den Sinn, dass ich so gut wie nichts über die Lebensweise der Schotten wusste. Vielleicht handelte es sich um irgendein altes Hochzeitsritual? Dass es mir makaber vorkam, das Ehebett mit Blut zu segnen, musste nicht bedeuten, dass es niemand tat.

William warf mir einen weiteren abschätzenden Blick zu und presste den verletzten Daumen etwa auf die Mitte des Bettlakens. „Wenn schon keine Zeugen anwesend sind, werden sie einen anderen Beweis fordern. Und ich bin nicht gerade scharf darauf zu erfahren, was sie tun, wenn sie ihn nicht bekommen."

Ich seufzte lautlos vor Erleichterung. Kein merkwürdiges Ritual, nur der Versuch, die Verantwortlichen der Hochzeit hinters Licht zu führen. In der Überzeugung, nichts befürchten zu müssen, stellte ich mich neben William und betrachtete den Fleck, der in diesem Licht schwarz statt rot war. „Wir sollten ihn etwas verreiben – das ist zu gleichmäßig. Ich habe drei ältere Schwestern", fügte ich hinzu, als sein Kopf hoch ruckte. „Wir mussten zwar nie dabei sein, aber die Laken waren schwer zu übersehen."

„Aye", erwiderte er skeptisch, „dann sollten wir das wohl tun."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top