3. Kapitel
Als wir am Abend unsere Plätze an einer von fünf langen Festtafeln eingenommen hatten, war ich nur wesentlich besser gelaunt als jene Männer, die ich vor wenigen Stunden auf dem Burghof gesehen hatte. Es wäre mir lieber gewesen, nach der ungewohnt langen Reise einen Tag – oder zumindest einen halben – Zeit zu haben, in dem Bett unseres Gästezimmers zu liegen, die Augen zu schließen und solange nichts zu tun, bis ich meinte, meinen Körper nicht mehr zu spüren. Die Schuld daran, dass mir ebendies nicht vergönnt war, schob ich kurzerhand auf unsere Eskorte. Wären sie einen Tag früher bei uns gewesen, hätte ich sogar die Gelegenheit gehabt, die Burg auf eigene Faust zu erkunden. Alles, was ich bisher gesehen hatte, waren der Eingangsbereich, einige Treppen, das Zimmer, das man uns für diese Nacht zur Verfügung gestellt hatte, und die Halle, in der wir uns aufhielten.
Zugeben, der Anblick letzterer hatte gereicht, um meine missmutigen Gedanken für einige Augenblicke zu vertreiben. Es war zu erwarten gewesen, dass sie größer sein würde als alles, was ich bisher in dieser Hinsicht kannte, doch ihre tatsächlichen Ausmaße hatten mir den Atem geraubt. Neben den fünf längs gestellten Tischreihen bot sie Platz für eine sechs Stufen hohe Erhebung mit einer weiteren Tafel darauf. Ich musste nicht die Gesichter und Namen jedes einzelnen Anwesenden kennen, um zu wissen, dass die Männer an diesem Tisch der Dreh- und Angelpunkt des heutigen Abends waren. Wir saßen zu weit entfernt, um Details erkennen zu können, doch allein ihre gesonderte Position, von der aus sie die gesamte Halle überblicken konnten, genügte. Mit einem von denen würde Mutter mich zumindest nicht verkuppeln können.
Ich ließ den Blick kurz über den Tisch vor mir schweifen, ehe ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Rest der Halle widmete. Es war ein Festessen, ohne Zweifel, und der Gastgeber hatte weder Mühen noch Kosten gescheut: Die einzelnen Tische bogen sich bedenklich unter den Massen von gebratenen Vögeln aller Größen, ganzen Spanferkeln, Wildschwein- und Hirschbraten, Beilagen aus Kohl, Karotten und anderem Gemüse, vier verschiedenen Brotsorten, Suppen deren Inhalt sich nicht mehr identifizieren ließ, und allem, was das Herz der Gäste noch begehren könnte. Die Luft war von einem intensiven Geruch erfüllt, bei dem mir das Wasser im Mund zusammenlief, obwohl ich nicht einmal sagen konnte, wonach genau es roch. Essen, wäre meine schlichte Antwort gewesen, wenn mich jemand danach gefragt hätte.
Dennoch brachte ich es nicht über mich, mehr als ein paar Happen zu essen. Der mit Kräutern garnierte Fisch auf der Platte vor mir starrte mich vorwurfsvoll aus seinem toten Auge an, bis ich angeekelt den Blick abwandte. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich einen kompletten Fisch auseinandernehmen würde, aber irgendetwas hielt mich heute davon ab. Ein unbestimmtes Gefühl, dessen Ursache ich allenfalls erahnen konnte, hatte sich beim Betreten der Halle zu einem schmerzhaften Knoten in meinem Magen zusammengezogen und ließ sich auch von allen Beschwichtigungen meinerseits nicht vertreiben. Ich konnte mir einreden, was ich wollte, ein Teil von mir schien davon überzeugt zu sein, heute Abend würde etwas Schreckliches geschehen.
Zum wiederholten Mal starrte ich einen der goldenen Wandteppiche auf der anderen Seite an und erinnerte mich selbst daran, wie lächerlich ich mich benahm. Soweit ich es mitbekommen hatte, musste jeder außer den wachhabenden Soldaten am Halleneingang jegliche Waffen abgeben und mit den fast stumpfen Essmessern würde niemand einen Aufstand anzetteln. Woher also kam diese Angst?
Als der Mann gegenüber von mir so laut über einen Witz seines Sitznachbarn lachte, dass winzige Essensreste durch die Luft flogen und Bratensoße in seinen Bart rann, rutsche ich unauffällig ein Stück nach links. Das wird es sein, entschied ich mit einem weiteren Blick auf den Mann. Ich habe Angst davor, wen ich am Ende dieses Fests womöglich meinen Verlobten nennen muss. Die Kandidaten, die ich bisher gesehen hatte, hatten ihr Bestes getan, um meinen Vorsatz schwanken zu lassen. Wenn ich es genau bedachte, könnte ich auch Nonne werden, um meinen Eltern nicht mehr zur Last zu fallen. Obwohl es bisher nur wenige Frauenklöster in England gab, und ich die Letzte war, die sich für ein derart strenges und gottesfürchtiges Leben eignete, beruhigte mich dieser Gedanke. Von den Namen, die Mutter mir beständig aufzählte und dabei mal in diese mal in jene Richtung nickte, war sowieso keiner bei mir hängen geblieben. Nach den ersten zwanzig hatte ich aufgehört, ihr ernsthaft zuzuhören und beschränkte mich seitdem darauf, gelegentlich ein zustimmendes Geräusch von mir zu geben. Selbiges galt für die ältere Frau auf meiner anderen Seite – mit dem Unterschied, dass sie bemerkt hatte, wie wenig Aufmerksamkeit ich ihr entgegenbrachte, und sich daraufhin jemand anderem zugewandt hatte.
In der Hoffnung, auf diese Art den Fisch zu vergessen, musterte ich die Gäste an den anderen Tischen, soweit es mir möglich war. Ich überlegte seit geraumer Zeit, wer von ihnen die Schotten sein könnten, kam jedoch zu keinem Ergebnis. Weder äußerlich noch anhand des Benehmens konnte ich Unterschiede zu den restlichen Männern ausmachen und begann mich zu fragen, ob die Bezeichnung als Barbaren nicht doch übertrieben war. Auf mich wirkte niemand hier anders als seine Tischnachbarn. Eine Weile hatte ich zwar eine Gruppe am äußersten linken Tisch im Verdacht gehabt, weil sie sich im Gegensatz zu allen anderen nicht sofort auf das Essen gestürzt, sondern es misstrauisch beäugt hatten, ehe sie nacheinander einen Bissen kosteten. Nachdem sie dieses Verhalten ebenso rasch abgelegt hatten, musste ich mich der Erkenntnis stellen, dass meine Beobachtungsgabe nicht ausreichte, um eindeutig sagen zu können, wer hier aus welchem Land kam.
„... und wenn wir Glück haben, können wir nachher mit dem ein oder anderen sprechen. Irgendjemand hier – hörst du mir überhaupt zu, Julie?"
Ich schüttelte stirnrunzelnd den Kopf, um meine Konzentration von einer hitzigen Diskussion drei Tische weiter zu lösen. Worum es ging, konnte ich zu meinem Bedauern nicht verstehen, doch es war Grund genug, um zwei der Männer so weit zu provozieren, dass sie mit abgerissenen Brotstückchen auf die anderen warfen. Hätten sich nicht in derselben Sekunde zwei Schatten von der Wand gelöst und sie offenkundig zur Ruhe ermahnt, wäre das Ganze meiner Einschätzung nach rasch in einer Schlägerei ausgeartet. Spannender, als mir die endlose Namensliste anzuhören und einzuprägen, war es dennoch.
„Natürlich", murmelte ich und gab vor, intensiv unter den anwesenden Herren nach einem passenden Ehemann zu suchen. „Ihr meintet gerade, dass wir später die Gelegenheit erhalten würden, mit einigen der Kandidaten zu sprechen."
Es war unwahrscheinlich, dass sie meine mangelnde Aufmerksamkeit nicht bemerkt hatte, doch anstatt mich deswegen zu maßregeln, nickte sie nur und antwortete auf die Fragen ihrer Nachbarin. Erleichtert, vorerst ungestört gedanklich abwesend sein zu können, nahm ich ein Büschel Petersilie und platzierte es so auf dem Auge des Fischs, dass er mich nicht mehr ansehen konnte. Ich unterdrückte mühsam ein triumphierendes Grinsen und schob gleichzeitig den Becher voller rotem Wein von mir. Dass ich jetzt schon damit begann, mich von einem toten Fisch zu fürchten, sprach alles andere als für meine Zurechnungsfähigkeit. Sonderlich viel hatte ich nicht getrunken, dennoch beschloss ich, den nächsten Diener, den ich erwischte, um Wasser anstelle von Wein zu bitten. Zu gut erinnerte ich mich an die spöttischen, teils sogar verächtlichen Blicke, die uns einige der anderen anwesenden Damen zugeworfen hatten, als wir die Halle betraten. Verdenken konnte ich es ihnen nicht – in Anbetracht ihrer vermutlich nach der neusten Mode geschnittenen Samtkleider in satten Rot- und Grüntönen kam ich mir in dem hellblauen Leinenkleid mit dunkleren Stickereien an Ausschnitt und Säumen ungewohnt schäbig vor. Ich hatte es immer als einen meiner wertvollsten Besitztümer angesehen. Die Erkenntnis, dass es allenfalls ein Viertel des Werts anderer Gewänder hier ausmachen konnte, fühlte sich an wie ein Schlag in den Magen.
Das war nicht meine Welt, wie mir allmählich dämmerte. Fast alles hier rief Abneigung in mir hervor, angefangen bei der reinen Masse an Menschen, von denen sich jeder über jeden den Mund zerriss. Bei dem Gedanken, im schlimmsten Fall von nun an öfter solchen Veranstaltungen beiwohnen zu müssen, entschied sich der Knoten in meinem Magen, Übelkeit hervorzurufen.
In dem Wissen, mich nicht an den übrigen Gästen zum Ausgang vorbeidrängeln zu wollen, schloss ich die Augen und zwang mich, tief durchzuatmen. Lang genug, um die Geräusche um mich herum ausblenden zu können. Nach und nach verschwand das Lachen, die gebrüllten Gespräche und das Klappern der Messer und Becher verstummte. Erst, als ich die Augen wieder öffnete, wurde mir klar, dass sie tatsächlich erloschen waren. Stille hatte sich über die Halle gesenkt, einzig unterbrochen durch meinen Herzschlag, der beunruhigend schnell in meinen Ohren dröhnte.
Wie von selbst folgte ich der Bewegung der anderen und drehte den Kopf nach rechts. Ein einzelner Mann war vor die Tafel am Ende der Halle getreten. Er war alt, mehr konnte ich nicht erkennen. Seine Stimme schallte durch die Luft, laut genug, um auf den letzten Plätzen verstanden zu werden. Ich bemühte mich verzweifelt, meine anschwellende Panik unter Kontrolle zu halten und die einzelnen Wortfetzen, die ich auffing, zu einem Zusammenhang zu führen. Frieden, Familie, Kapelle.
Kapelle?
Auf einen Schlag kehrten die Geräusche zurück, lauter als zuvor. Um mich herum standen nacheinander alle auf, schoben ihre Stühle nachlässig an den Tisch und strebten dem Ausgang entgegen, während sich das Stimmengewirr zu einem tiefen Summen wandelte, dass in jeder meiner Fasern zu vibrieren schien.
Eine Hand auf meiner Schulter riss mich aus meiner Benommenheit. Ich blinzelte, bemerkte, dass ich ebenfalls aufgestanden war, und sah ungläubig zu, wie Dutzende Soldaten aus Dienstboteneingängen traten und sich einzelnen Männern und Frauen in den Weg stellten.
Jener, der plötzlich neben mir stand, ließ seine Hand langsam sinken und sah mich ausdruckslos an. „Ich muss Euch bitten, mich zu begleiten, Mylady."
„Aber -", protestierte ich, ohne zu wissen, wie ich den Satz beenden sollte. In der festen Überzeugung, es müsse sich um eine Verwechslung handeln, wandte ich mich an die einzige Person, der ich vorbehaltlos traute. „Mutter?"
„Wir lieben dich, Julie, das musst du mir glauben", sagte sie leise. Ich wusste nicht, was mich mehr schockierte – ihr Lächeln oder die Träne, die über ihre Wange rollte. „Wir haben keine andere Möglichkeit gesehen."
Ich wich zurück, versuchte erfolglos mit dem Verstand zu verstehen, was mein Herz längst begriffen hatte. Der Soldat ergriff die Gelegenheit und schob mich weiter in die entgegengesetzte Richtung. Die Gewissheit, dass Eleanors Worte nicht so klangen, als würden wir uns in ein paar Stunden wiedersehen, traf mich einige Schritte weiter. Ich spürte, wie in mir selbst Tränen aufstiegen, versuchte mich loszureißen und erreichte damit nur, dass sich der Griff um meine Arme verstärkte.
„Ich muss mich verabschieden!"
„Später", antwortete er, ohne sein Tempo zu verlangsamen.
Als ich einen Blick über die Schulter warf, stand sie noch immer an derselben Stelle, sah mir nach und lächelte, während weitere Tränen über ihr Gesicht rannen. Bevor ich unsanft durch eine Seitentür gezerrt wurde, bewegten sich ihre Lippen und ich meinte, die Worte trotz der Entfernung und dem Lärm zwischen uns so deutlich zu hören, als stände sie neben mir: Ich hoffe, du wirst glücklich.
Das Gefühl, in einem Albtraum aufgewacht zu sein, schnürte mir die Kehle zu. Was auch immer hier vorging, es war nichts Gutes. Friedensverhandlungen? Wenn dem so war, dann handelte es sich hier nicht um die klassischen Gespräche von Mann zu Mann, im Gegenteil.
Ich drängte mit aller Macht die in mir aufsteigende Panik zurück und befahl mir selbst, mich zu beruhigen. In endloses Schluchzen auszubrechen, war das Letzte, das mir in dieser Situation helfen würde.
Was hatte der Redner vorhin gesagt? Das Wort Familie war gefallen, doch ich konnte mir keinen Reim darauf machen, was das mit den Aufständen in Schottland zu tun haben sollte. Ein Austausch von Geiseln würde keinen Frieden schaffen, das wenigstens war mir klar. Ich versuchte mich zu erinnern, ob im Laufe des Abends etwas anderes geschehen war. Irgendetwas Außergewöhnliches, etwas, das erklären könnte, warum ich im Eilschritt durch staubige Dienstbotengänge hasten musste. Es war kein Zufall, dass es ausgerechnet mich getroffen hatte – andernfalls hätte Mutter nicht davon gewusst. Wie viel hat sie gewusst?, fragte ich mich beklommen und stolperte prompt über den Saum meines Kleids.
Mein Begleiter gab einen Laut des Unwillens von sich und zog mich wieder auf meine eigenen Beine, ohne nachzusehen, ob ich mich verletzt hatte. Auf meine Frage, wohin wir unterwegs seien, hatte er weder beim ersten noch beim dritten Versuch reagiert. Ich verfluchte erneut die Zusammenstellung unglücklicher Zufälle, die dazu geführt hatte, dass ich mir die Burg nicht genauer ansehen konnte. Obwohl ich bezweifelte, in den unzähligen Abbiegungen den Überblick zu behalten, wäre alles besser als diese Ungewissheit. Die anderen Gäste strömten in diesem Augenblick zur Kapelle, aber das würde kaum unser Ziel sein. Wenn es so wäre, sähe ich keinen Grund, warum ich einen gesonderten Weg nehmen musste. Ich, und die anderen, die von Soldaten aufgehalten wurden, rief ich mir ins Gedächtnis. Das Wissen, nicht völlig allein zu sein, nahm einen Teil der unsichtbaren Last von meinen Schultern. Ich war noch immer die Tochter des Earls of Conteville – umbringen würden sie mich nicht.
Ein frischer Luftzug schlug mir entgegen, als wir eine Tür passierten. Dass wir das Gemäuer verlassen hatten und uns unter freiem Himmel befanden, realisierte ich nur, weil sich der Boden unter meinen Füßen änderte. Von unzähligen Schritten glatt geschliffene Steine wurden von weicher Erde abgelöst und ein Büschel Gras strich über meinen Knöchel. Ein Garten?
Ich stolperte erneut, absichtlich diesmal. Die ursprüngliche Motivation dazu verwarf ich gleichzeitig wieder. Es war eine mondlose, wolkenverhangene Nacht und ich konnte keine fünf Schritte in dieser Festung tun, ohne mich zu verlaufen. Selbst wenn ich es schaffte, meinem Bewacher zu entkommen, wäre eine Flucht nicht von Dauer. Es mochte unmöglich erscheinen, von Außen in die Burg einzudringen, doch andersherum würde es nur unwesentlich leichter sein.
„Herrgott, seid Ihr immer so ungeschickt?", murmelte der Soldat und ging in die Knie, um mir aufzuhelfen. „Wir sind eh schon zu spät dran."
Ich schloss kurz die Augen und holte tief Luft, ehe ich ein unverbindliches Lächeln aufsetzte. „Entschuldigt. Spät für was, wenn ich fragen darf?"
Er warf mir einen Blick zu, dessen Bedeutung ich im Dunkeln nicht einschätzen konnte. Dass ich mich nicht mehr sträubte, mit ihm zu gehen, veranlasste ihn immerhin dazu, seinen Griff weit genug zu lockern, um es als Führung statt Entführung werten zu können. „Seht Ihr gleich."
Gleich war in diesem Fall eine passende Bezeichnung. Ich überlegte noch, ob ich mehr aus ihm herausbekommen hätte, wenn ich mich von Beginn an kooperativ gezeigt hätte, als wir ein neues Gebäude betraten. Wiederum durch einen Nebeneingang, wie ich mit einer Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung feststellte. Ich meinte, ein Echo des Stimmengewirrs aus der Festhalle zu hören, doch der Gang, auf dem wir standen, war leer. Mein Begleiter hielt sich an seine Aussage, wir seien spät dran, und zog mich geradewegs durch die nächste Tür.
Hätte ich gekonnt, wäre ich vor Überraschung stehen geblieben. Es war nicht mehr als eine Kammer, eher ein etwas breiterer Gang als gewöhnlich, der durch einen Vorhang von dem, was dahinter lag, abgeschirmt wurde. Direkt neben dem Vorhang stand ein weiterer Soldat, der immer wieder durch einen Spalt zwischen dem dunklen Stoff und der Wand nach draußen spähte. Vor ihm eine Reihe junger Frauen und Mädchen, die nicht weniger verwirrt aussahen als ich es war.
Die Stimmen waren lauter, viel lauter. Etwas verspätet begriff ich, das die übrigen Menschen hinter dem Vorhang sein mussten.
„Conteville", warf der Soldat, der für mich verantwortlich war, in den Raum und blieb kurz vor dem Vorhang mit mir stehen. Der andere musterte mich kurz, zog einen Bogen Pergament hinter ihm hervor, überflog es und nickte. „Die dritte", er zögerte, sah erneut durch den Spalt und schob das Mädchen vor ihm hindurch. „Jetzt ist sie die zweite."
Ich arbeitete noch daran, das alles in einen logischen Zusammenhang zu bringen, und protestierte nicht, als ich mitten in die Reihe der Frauen bugsiert wurde. Zumindest bin ich nicht die Erste, dachte ich und krallte die Finger in mein Kleid. Der raue Stoff fühlte sich beruhigend echt an.
„Was geht hier vor?", murmelte ich, ohne zu wissen, wem ich diese Frage überhaupt stellte. Jedem, der bereit war, sie zu beantworten vermutlich.
Von dem Soldaten erwartete ich nichts, doch das Mädchen vor mir drehte sich um. „Ist das nicht offensichtlich? Wir heiraten – allesamt, jetzt und hier."
Aus ihrer Stimme sprach nichts als Sachlichkeit. Falls das Geschehen sie in irgendeiner Weise beunruhigte, zeigte sie es nicht. Ich überlegte, ob sie womöglich eher als wir anderen davon gewusst hatte und sich dementsprechend wappnen konnte, als sie sich wieder nach vorne wandte. Alles an ihrer Haltung strahlte Selbstsicherheit aus, wären da nicht die schmalen Hände, die sie so fest zu Fäusten geballt hatte, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Nein, vielleicht hatte sie schneller eins und eins zusammengezählt, doch als sie die Halle heute Abend betreten hatte, war sie nicht weniger ahnungslos als wir anderen.
Ich warf einen kurzen Blick über meine Schulter und registrierte, dass etwa ein Dutzend Frauen den Gang bevölkerten, alle mehr oder weniger gefasst. Einige starrten fest auf einen Punkt vor ihnen, andere bewegte lautlos die Lippen als würden sie beten. Als ich sah, wie einem jungen Mädchen stumme Tränen über die Wangen liefen, wandte ich mich betreten ab. Sie konnte nicht älter als zwölf sein.
Im Gegensatz zu ihr fühlte ich mich überraschend ruhig. Die Gewissheit, was mich erwartete, reichte, um meine Panik vorerst zu vertreiben. Deswegen hatte Mutter in den letzten Tagen ununterbrochen von einer Heirat gesprochen. Nicht, weil sie mich davon überzeugen wollte, mich an der Suche nach einem Ehemann zu beteiligen, sondern um mich insgeheim auf diesen Moment vorzubereiten. Das erklärte auch, warum sie darauf bestanden hatte, so viel Gepäck mitzunehmen. Ob sie auch erfahren hatte, wem ich das Ja-Wort geben musste? So unwahrscheinlich es auch war, hoffte ich, dass sie dabei ein Mitspracherecht gehabt hatte.
Das Mädchen vor mir schritt auf ein Zeichen des Soldaten mit hocherhobenem Kopf und gestrafften Schultern durch den Vorhang und ich rutschte unbehaglich an ihre Stelle. Augenblicklich verschwand die Ruhe, die ich empfunden hatte. Mein Herzschlag hämmerte in meiner Brust, so laut, dass es beinahe weh tat. Ob die Männer gewusst hatten, dass sie heute heiraten würden?
„Du bist dran", flüsterte jemand hinter mir und versetzte mir einen leichten Stoß in den Rücken. Ich stolperte nach vorn und sah den Soldaten mit geweiteten Augen an. War es wirklich schon so weit? Es konnten doch kaum fünf Minuten vergangen sein, seit das Mädchen vor mir gegangen war. Eher drei, höchstens vier. Oder doch zehn?
Der Vorhang wurde ein Stück beiseite gezogen. Meine Füße setzten sich wie von selbst in Bewegung. Schritt für Schritt, die Augen fest auf den Altar vor mir gerichtet. Jetzt bloß nicht hinfallen, schoss es mir absurderweise durch den Kopf, als ich einen winzigen Blick nach links riskierte. Ich hatte daran gezweifelt, dass alle Gäste in die Kapelle passen würden, doch nun war ich mir nicht mehr so sicher. Sie drängten sich auf den Bänken, im Gang dazwischen, neben den Säulen, auf den drei Emporen und den Treppen zu diesen. Es war zu dunkel, um einzelne Gesichter ausmachen zu können. Sie waren eine einzige Masse, ein Monster der Nacht, das mich zu verschlingen drohte, und dessen zu einem Flüstern gesenkte Stimme einem aggressiven Knurren glichen.
Der Altar und seine unmittelbare Umgebung waren der einzige Ort, der durch Kerzen und einige Fackeln an den Wänden erhellt wurde. Aus einer Schale am Boden strömte verbrannter Weihrauch aus; meine Augen begannen von dem intensiven Geruch zu tränen. Die Verlockung, in Ohnmacht zu fallen, war übermächtig und doch tat ich alles, um dagegen anzukämpfen. Zu groß war die Angst vor dem Monster hinter mir.
Den Blick konzentriert auf den Boden geheftet, bemerkte ich kaum, wie jemand neben mich trat. Ich spürte seine Anwesenheit mehr als dass ich sie bewusst zur Kenntnis nahm. Seine fast körperlich fühlbare Gelassenheit übertrug sich unwillkürlich auf mich und ich zwang mich, den Kopf zu heben und seine unverhohlene Musterung zu erwidern. Dass er nicht sehr viel älter als ich sein konnte, bemerkte ich mit unendlicher Erleichterung, ebenso dass ich keine Grausamkeit in seinen Zügen entdeckte. Er war größer als ich, einen halben Kopf vielleicht, die schwarzen Haare hatten sich aus ihrer ordentlich gekämmten Position gelöst und fielen ihm in die Stirn, bis knapp über die vollen Augenbrauen, die sich in diesem Moment leicht zusammengezogen hatten. Warme braune Augen, ein dunkler Schatten auf Kinn und Wangen, und schmale Lippen, die sich zu einem kaum merklichen Lächeln verzogen.
Attraktiv, schloss ich gedanklich meine anfängliche Betrachtung. Gleichzeitig spürte ich, wie mir das Blut in die Wangen schoss, als ich überlegte, wie sein erster Eindruck von mir lautete. Angesichts des schlichten hellgrünen Hemds, dunkelbraunen Hosen und gleichfarbigen Stiefeln würde er wohl zumindest keinen Anstoß daran nehmen, dass ich alles andere als prunkvoll gekleidet war.
Ein mahnendes Räuspern lenkte unsere Aufmerksamkeit zurück auf den Priester. Er warf uns über den Rand seiner Hakennase einen abschätzenden Blick zu und starrte auf eine Liste vor sich. „Kincaid und Conteville?"
Er wartete auf das bestätigende Nicken von beiden Seiten, ehe er seine stechend grauen Augen auf den Mann neben mir heftete und fortfuhr. „Nun denn. Wollt Ihr -", er unterbrach sich und sah erneut auf die Liste, „William Francis Kincaid die hier anwesende", ein weiterer Blick zur Liste, „Julie Adelé Conteville zu Eurer rechtmäßig angetrauten Frau nehmen, ihr die Treue halten in guten wie in bösen Zeiten, in Gesundheit und in Krankheit, in Armut und Reichtum, und sie lieben, achten und ehren, bis der Tod euch scheidet?"
„Was wäre, wenn ich nein sage?", erwiderte er beiläufig.
Ich zuckte zusammen. Nicht wegen seiner Antwort, sondern Dank des deutlich hörbaren Akzents in seiner Stimme. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich im Begriff war, einen Schotten zu heiraten. Jemanden, vor dem ich laut Richard schleunigst die Flucht ergreifen sollte, wenn ich ihm begegnete. Ich warf ihm einen abschätzenden Seitenblick zu und sah, dass sein Blick weder auf den Pfarrer noch auf mich, sondern auf die Soldaten im Hintergrund gerichtet war.
Einer von ihnen trat einen Schritt nach vorne, die Hand deutlich am Schwertgriff. „Dann", antwortete er höflich, „wird Eure Braut Witwe, ehe sie überhaupt verheiratet war."
Ich zog angesichts dieser deutlichen Drohung scharf die Luft ein, doch William nickte nur. „Aye, das dachte ich mir. In dem Fall – ja, ich will."
Der Pfarrer gab ein zustimmendes Geräusch von sich und der verkniffene Ausdruck um seinen Mund lockerte sich ein wenig, als er sich mir zuwandte. „Und wollt Ihr, Julie Adelé Conteville, den hier anwesenden William Francis Kincaid zu Eurem rechtmäßig angetrauten Mann nehmen, ihm die Treue halten in guten wie in bösen Zeiten, in Gesundheit und Krankheit, in Armut und Reichtum, und ihn lieben, achten und ehren, bis der Tod euch scheidet?"
Nein, dachte ich. Alles, was ich will, ist aus diesem Albtraum aufzuwachen. „Ja", flüsterte ich, weil ich meiner Stimme nicht traute.
Der verkniffene Ausdruck kehrte zurück. „Lauter, wenn ich bitten darf."
Ich holte tief Luft und betete, dass Mutter recht haben und ich glücklich werden würde. „Ja, ich will."
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