IV
Die Augen von Runas Angreifer blickten sie streng, aber voller Sorge an. Ihr Schrei erstickte unter der Hand, die ihren Mund zuhielt. Mit kräftigen Fingern drückte die Person sie zurück ins Gebüsch und wartete, bis Runa ihren kurzen Widerstand aufgab. Das Gefühl der Erkenntnis durchzuckte die Heilerin und sie ließ erleichtert ihre Arme sinken. Ihr gegenüber saß Askjell der Jäger. Nachdem Runa sich beruhigt hatte, ließ er die Frau langsam los. Der Jäger hob einen Finger an seinen Mund und deutete Runa somit an, leise zu sein.
Sie nickte ihm zustimmend zu und der große Mann rutschte zurück an den Rand des Busches, der ihnen die Sicht auf einen schrecklichen Schauplatz versperrte.
Die Heilerin rutschte langsam auf seine linke Seite, um erneut einen Blick auf das Spektakel vor ihnen zu werfen. Vorsichtig schob Runa einen Zweig auf die Seite und blickte auf ein kleines Lagerfeuer. Neben dem Lagerfeuer standen zwei Personen in langen dunkelbraunen Umhängen. Die Personen hatten ihre Hände in die Höhe gestreckt und aus ihrem Mund drangen fremdartige Wörter. Die seltsame Szene war nicht das Schrecklichste an dem Bild, sondern die zwei weiteren Personen, die mit den Rücken zueinander an einem Pfahl gebunden waren. Runa erkannte mit Entsetzen, dass es sich bei den gefesselten Personen um Constantin und Sally handelte. Beiden waren die Augen zugebunden und hingen kraftlos an ihren Fesseln. Zu ihren Füßen waren verschiedene Kreise in den Boden gezeichnet und darin kleine Gefäße aufgestellt. Runa erkannte, dass der Geruch von Myrre aus den Gefäßen stammte und mit einem Mal begriff sie, dass sie soeben Zeugin eines schrecklichen Rituals wurde.
Erschrocken blickte die Heilerin zu ihrer Rechten. Askjell erwiderte ihren Blick und sie erkannte das gleiche Entsetzen, das in ihr tobte, in seinen blauen Augen wieder. Vorsichtig hob er eine Hand und legte sie auf ihre Schulter. Mit einem sanften Druck seiner warmen Hand versuchte der Jäger Runa sein Mitgefühl auszudrücken. Sie nickte ihm zu, legte eine Hand auf seinen Unterarm und schloss ihre Finger. Das Entsetzen in ihrem Inneren wich und hinterließ den Drang, das schreckliche Schicksal der Dorfbewohner zu beenden und ihnen zu Hilfe zu kommen.
Der Jäger nahm seine Hand von ihrer Schulter und griff hinter sich. Mit einer leisen Bewegung zog er ein etwas längeres Messer hervor, das er auf seine Beine legte. Erneut suchte Askjell den Blick von Runa. Ihre Augen trafen sich und strahlten eine Intensität aus, dass die Luft zu vibrieren schien.
In diesem Moment empfand Runa das erste Mal gegenüber einem anderen Menschen, außer ihrer Freundin Kati, keine Scheue. Zudem gab Askjell ihr das Gefühl, wichtig zu sein und sie spürte eine gewisse Dankbarkeit in seinem Blick.
Runa öffnete ihre Tasche und holte die Handsichel hervor. Soweit sie in dem kurzen Augenblick erkennen konnte, hatten die fremden Personen keine Waffen dabei. Dennoch wusste die Heilerin nicht, ob sie nicht versteckte Waffen unter den Umhängen verborgen hielten. Aus diesem Grund fühlte sich Runa mit dem vertrauten Werkzeug in ihrer Hand sicherer. Käme es zu einem ernsthaften Kampf, so war sich Runa sicher, würde sie keine Chancen haben.
Bewaffnet blickte sie Askjell erneut in die Augen. Dieser nickte ihr zu, dass sie daraufhin erwiderte. Anschließend wendeten sie sich zum Ritualplatz um und mit einer fließenden Bewegung sprangen sie zusammen aus dem Gebüsch.
Die Fremden waren in ihren Versen vertieft, sodass sie Runa und Askjell zu spät bemerkten. Der Jäger war schneller als die Heilerin und stürzte sich sofort auf die größere Person. Beim Näherkommen erkannte Runa, dass es sich bei den Fremden um einen Mann und um eine Frau handelte. Ohne darüber nachzudenken, drehte sie sich zu der Frau um. Diese wendete sich Runa zu und blickte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Ihre Hände senkten sich und sie steckte sie tief in ihren Mantel. Der Instinkt von Runa klingelte alarmierend. Die Heilerin holte mit ihrer rechten Hand aus, in der sie die Handsichel fest umklammert hielt. Doch bevor sie den Angriff durchführte, stockte Runa und blieb zwei Meter vor der Fremden stehen.
Noch nie in ihrem Leben hatte Runa ein Lebewesen verletzt. Blut war ihr als Heilerin nicht fremd, doch das bewusste Verletzen von anderen Menschen widersprach ihren Grundsätzen als Heilerin.
Runa zögerte nur wenige Sekunden, doch diese Zeit genügte der anderen Frau. Diese zog aus ihrem Mantel einen Dolch und stellte sich breitbeinig vor der Heilerin auf. Runa blieb stehen und fluchte in sich hinein. Aus dem Augenwinkel bekam sie mit, dass Askjell mit dem Mann kämpfte. Dieser hatte einen Stab in der Hand und hielt den Jäger auf Abstand. Runa stellte enttäuscht fest, dass ihr Überraschungsmoment verschwunden war.
Zähneknirschend blickte Runa die Fremde an. „Was wollt ihr hier? Verschwindet!", schrie sie ihr entgegen. Die Unbekannte rief Runa ihrerseits in einer fremden Sprache etwas zu. Die Worte klangen für die Heilerin völlig andersartig.
Ein Stöhnen ließ Runas Aufmerksamkeit an der Frau vorbeiblicken. Constantin hob schwach den Kopf und die Heilerin konnte erkennen, dass seine Augen angeschwollen waren und sein Gesicht mehrere Schrammen aufwies.
Wut stieg in Runa auf und sie wendete sich wieder der Frau zu. Da wusste sie, was zu tun war. Mit einer fließenden Bewegung holte Runa aus und warf ihre Sichel in die Richtung der Frau. Wie erwartet wich die Fremde der Sichel aus. Ein Lachen drang aus der Kehle der Unbekannten. Das Lachen erstickte nach einem kurzen Augenblick, nachdem sie Runa erblickt hatte.
Runa nutzte den kurzen Moment, sprang die letzten Meter auf die Frau zu und tritt sie mit ihrem ganzen Gewicht direkt in den Bauch. Die Fremde stöhnte schmerzerfüllt auf und blieb mehrere Meter von Runa entfernt gekrümmt auf dem Boden liegen. Runa hechtete hinterher und setzte mit einem weiteren Tritt auf die Hand, die den Dolch hielt, der Fremden nach. Ein lautes Knacken war zu hören, als das Handgelenk und die Finger brachen. Dieses Mal schrie die Frau vor Schmerzen auf und ließ den Dolch fallen.
Runa nahm den Dolch an sich und hob ihre Sichel vom Boden auf. Beides verstaute Runa in ihrer Tasche. Mit einem letzten Blick vergewisserte sie sich, dass die Fremde vorerst nicht aufstehen würde. Sie drehte sich zu Askjell und dem Mann um. Ein erleichterter Seufzer entwich ihrem Mund, als sie den Jäger unversehrt über dem Mann gebeugt sah. Der Jäger verband mit geübten Fingern die Hände des Fremden und blickte Runa an.
„Deine Tritte haben es in sich", sagte der Jäger und stand auf. Der Fremde schrie Askjell in der gleichen Sprache an, die die Frau benutzt hatte. Doch der Jäger ignorierte dies und trat zu Runa. Die Fremde knebelte er auf die gleiche Weise wie den Mann. Währenddessen wand sich Runa den beiden Dorfbewohnern zu. Diese saßen in der Mitte eines Pentagramms aus Kerzenschein. Ein Schauer durchfuhr ihren Körper und sie konnte die böse Energie dieses Ortes spüren. Die Atmosphäre strahlte pure Bosheit und Tod aus.
Mit schweren Schritten trat sie zu Sally und Constantin. Beide waren mit mehreren Seilen gefesselt, die Runa vorsichtig mithilfe ihrer Sichel löste.
„Runa?", fragte Sally vorsichtig. Mit einem warmen Lächeln blickte sie der jüngeren Frau in die Augen. Runa stellte erleichtert fest, dass Sallys Gesicht nicht so schlimm aussah, wie das von Constantin. Dennoch hatte Sally einige blaue Flecken und tief stehende Augen.
„Es wird alles gut, Sally. Wir sind nun hier und helfen euch." Ein Schluchzen kam über Sallys Lippen und Tränen der Erleichterung traten aus ihren Augen.
„Ich danke dir!"
Runa nickte ihr liebevoll zu. Trotz der Verletzungen schafften es Sally und Constantin, ohne große Hilfe zu stehen. Askjell gab den beiden zwei provisorische Gehstöcke, auf die sie sich stützen konnten.
Der Jäger trat zu Runa. „Wir werden die Entführer mitnehmen." Runa nickte ihm zu. Die beiden Fremden weigerten sich zunächst mitzukommen. Anschließend baute sich Askjell vor den Unbekannten auf und hielt ihnen sein Messer entgegen. Der Jäger überragte die Fremden um mehr als einen Kopf und blickte sie finster an. Die Drohung genügte und sie folgten den Dorfbewohnern Richtung Jarlshof.
Runa war erstaunt über die Ausstrahlung von Askjell. Sie hatte den Jäger immer als ruhige Person in Erinnerung. Askjell lebte wie sie, abgeschieden von den anderen Dorfbewohnern und war die meiste Zeit im Wald unterwegs. Sein Verhalten empfand Runa als mürrisch und desinteressiert. Mit einem Mal begriff Runa, dass sie Askjell falsch eingeschätzt hatte. Ein Lächeln der Erleichterung umspielte ihre Lippen und sie drehte sich zu Askjell um. Dieser blickte sie zunächst verwirrt an, doch erwiderte daraufhin das Lächeln. Anschließend schritten sie durch den Wald in Richtung des Dorfes.
Die Nacht war bereits weit fortgeschritten, als die Truppe Menschen an den Waldrand trat. In Jarlshof weckten sie den Sohn des Dorfvorstehers, der die gefangenen Fremden in einen Raum im Rathaus sperren ließ. Der Tumult am Dorfplatz weckte weitere Dorfbewohner und so erzählten Runa und Askjell, mit der Hilfe von Constantin und Sally, die Einzelheiten, die sich in der Nacht ereignet hatten. Runa erzählte, dass die entführten Dorfbewohner für ein grausames Ritual missbraucht wurden, dem sie ein Ende setzen konnten.
Constantins Frau und Sallys Mutter waren über die Rückkehr der beiden erleichtert und Runa verarztete sie im Rathaus. Mit Erleichterung stellte die Heilerin fest, dass beide Menschen nur oberflächige Verletzungen davongetragen hatten.
Die nächsten Tage vergingen für Runa wie im Flug. Überall, wo sie entlanglief, wurde sie als Heldin gefeiert und die Dorfbewohner begegneten ihr mit Freude und Dankbarkeit. Die grausamen Worte und abneigenden Blicke ihr gegenüber verschwanden völlig. Der Gesundheitszustand des alten Dorfvorstehers wurde besser und am Sommerfest, wenige Tage später, hielt er eine Rede, die den Mut von Askjell dem Jäger und Runa der Heilerin gewidmet war.
Während der Rede rang Runa mit den Tränen. Sie wurde von der Dorfgemeinschaft endlich akzeptiert und aufgenommen. Mit einem Blick über den Festtisch erkannte Runa, dass auch Askjell die Freude ins Gesicht geschrieben stand. An diesem Abend wurden die Außenseiter des Dorfes zu Helden.
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