III
Runa hielt mit ihrer linken Hand einen Lavendelzweig fest, um ihn mit der Sichel in ihrer anderen Hand behutsam abzutrennen. Anschließend legte die Heilerin die Kräuter in einen Korb. Sie wiederholte die Prozedur an einem weiteren Lavendelstrauch und nahm von den Gewächsen nur so viel weg, dass die Pflanzen keinen Schaden davontrugen. Die Kräuter in Runas Garten waren ihr heilig und sie pflegte sie so gut, wie es bei dem rauen Wetter von Jarlshof ging. Den Lavendel würde die Heilerin später zu einem Öl verarbeiten, das das Einschlafen förderte.
Während Runa vertieft in ihrer Arbeit war, hörte sie nicht die lauten Rufe vom Eingang ihrer Hütte. Erst als Kati, die Bäckerin des Dorfes, neben ihr stand und Runa direkt ansprach, bemerkte sie ihre Besucherin.
„Hallo Kati", begrüßte Runa die andere Frau. „Was verschlägt dich zu mir?"
„Hast du es schon gehört? Ein weiterer Dorfbewohner ist verschwunden. Seit gestern Abend ist Sally verschollen. Laut ihrer Mutter ist sie zur späten Stunde zum Dorfbrunnen gegangen, um frisches Wasser zu holen. Anschließend hat Sally keiner mehr gesehen."
Runa erhob sich und klopfte den Staub aus ihrem grünen Kleid. „Diese Ereignisse sind seltsam. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dies kein Zufall sein kann."
Kati schüttelte den Kopf. „Nein. Nach Sallys Verschwinden sind sich alle Dorfbewohner einig: Constantin und Sally wurden entführt. Der Sohn des Dorfvorstehers hat einen Suchtrupp organisiert. Leider steht das Sommerfest in zwei Tagen an und alle stecken mitten in den Vorbereitungen. Mein Mann hat sich am Suchtrupp beteiligt, aber ich kann die Backöfen nicht so lange unbeaufsichtigt lassen."
„Das ist verständlich. Mir geht es genauso. Was kann eine Frau schon gegen einen Entführer ausrichten?"
Kati lächelte nach ihren Worten leicht. „Du bist schlagfertiger als jede andere Frau, die ich in Jarlshof kenne. Unterschätze dich nicht, Runa."
Die Heilerin bedankte sich bei ihrer Freundin. Sie unterhielten sich noch eine kurze Zeit über belanglose Themen, bis Kati zurück zur Bäckerei musste.
Runa beendete ihre Lavendelernte und kehrte in ihr Haus zurück. Dort nahm sie die Hälfte des Lavendel und band diese zu Bünden zusammen. Anschließend hing sie die Bündel über ihren Arbeitstisch zum Trocknen auf. Die restlichen Lavendelzweige verteilte sie über den Tisch, um diese am nächsten Tag zu Lavendelöl zu verarbeiten.
Für den heutigen Tag beendete Runa ihre Tätigkeit und aß ihren Eintopf. Anschließend ruhte sie sich aus. Ihre Kräuterernte würde sie zur späten Stunde fortsetzen, um im Wald unter dem Vollmond frische Blumen zu ernten. Manche Pflanzen entfalten erst in der Nacht ihre vollen Aromen und im vollen Licht des Mondes fällt Runa das Sammeln einfacher.
Die Stunden verstrichen und Runa bereitete ihren nächtlichen Ausflug vor. Sobald das letzte Licht hinter dem Wald verschwunden war und der Vollmond durch ihre Fenster leuchtete, streifte die Heilerin ihren warmen Mantel über, nahm ihre vorbereitete Tasche mit ihren Utensilien in die Hand und schlüpfte hinaus in die Dunkelheit.
Ein kurzer Schauer durchfuhr ihren Körper und Runa dachte an die verschollenen Menschen. Kopf schüttend zog sie ihre Haustür zu. Die beiden Menschen waren im Dorf verschwunden. Kein anderer weiß, dass sie sich zur späten Stunde im Wald aufhielt. So nahm Runa einen tiefen Atemzug und trat in die Nacht. Ihr Weg führte aus dem Dorf hinaus und in den großen Wald, der Jarlshof fast vollständig umgab.
Der Weg aus dem Dorf wich bald einem verwilderten Waldweg. Runa nutzte das Licht des Mondes, um sich zurechtzufinden. Seit ihrer Kindheit war sie jeden Vollmond nachts unterwegs gewesen. Wie von selbst trugen ihre Schritte sie tiefer in den Wald hinein. Das Geräusch ihres Atems vermischte sich mit dem Leben um sie herum. Trotz der Dunkelheit versprühte der Wald Leben. Überall waren die nachtaktiven Tiere unterwegs und beobachteten die Heilerin im Verborgenen.
Die dunklen Riesen des Waldes hießen sie in ihrer Umarmung willkommen. Bald schon wich das unangenehme Gefühl in Runa der völligen Vertrautheit, die sie mit diesem Ort verband. Der Wald bedeutete für sie Sicherheit. In ihm konnte die Heilerin so sein, wie sie war. Ihre Mutter brachte ihr früh bei, die Natur und alles Leben darin zu achten und wertzuschätzen.
Mit schnellen Schritten durchquerte sie den Wald, bis Runa zu einer Lichtung kam. Der Vollmond schien durch die Baumkronen und ließ die Lichtung in einer gespenstigen Atmosphäre erstrahlen. Durch den warmen Waldboden stiegen in der kühlen Nachtluft Nebelschwaden in den Himmel und tauchten die Lichtung in ihre Magie.
Mit einem sanften Lächeln trat Runa auf die Lichtung und mit einem geübten Blick fand sie schnell die Pflanze, die sie suchte.
Auf der in dunklen Nebel getauchten Wiese erblühte die Blume, wie ihre Namensvetter im Himmel, im strahlend weißen Licht. Der Sternbalsam reckte seine Blütenblätter gegen den Himmel und verströmte seinen betörenden Duft.
Runa legte vorsichtig ihre Tasche ins Gras und holte ihre Handsichel heraus. Zudem legte sie ein großes Tuch neben ihre Tasche. Mit geübten Fingern erntete die Heilerin den Sternenbalsam und legte diesen vorsichtig auf das Tuch. Der Sternenbalsam war eine Blume, die ausschließlich in der Nacht ihr volles Aroma entfaltete. Für die Tinktur, die Runa aus der Pflanze gewinnen möchte, benötigt sie die volle Kraft der Blütenblätter. Die Heilerin erntet einen Strauß von den süß duftenden Blumen. Mit wenigen Handgriffen band sie die Stängel der Blumen zu einem festen Bündel zusammen. Anschließend befestigte Runa das Bündel an ihrer Tasche. Diesen Vorgang wiederholte sie noch dreimal, bis vier Blumensträuße an ihrer Tasche hingen. Nach ihrer Arbeit verstaute Runa die Handsichel in ihrer Tasche und stand auf. Die Heilerin schloss die Augen und bedankte sich bei der Natur für das Geschenk.
Bei einem abschließenden tiefen Atemzug stieg ihr ein vertrauter Geruch in die Nase, der nicht zum süßlichen Duft des Sternenbalsams passte. Der Geruch war herb und erinnerte sie an ihr eigenes Zuhause. Verwirrt hielt sie inne und lauschte auf die Umgebung. Bald schon vernahm Runa Stimmen und sie öffnete ihre Augen. Neugierig geworden, wer zu später Stunde wie sie den Wald besuchte, folgte die Heilerin den Stimmen und schritt über die Lichtung hinweg. Auf der anderen Seite angekommen, nahm der Geruch zu. Ihre Vermutung bestätigte sich und der Geruch von Myrre erfüllte die Luft.
Runa schlüpfte in den Wald und folgte den immer lauter werdenden Stimmen. Die Luft war erfüllt vom Geruch des Harzes. Runa spürte, wie ihr Herz raste und ein innerer Instinkt ermahnte sie zur Vorsicht.
Ihr Weg endete vor einem großen Gestrüpp. Vorsichtig bog sie ein paar Zweige auseinander und blickte durch die Öffnung. Runa hielt den Atem an und ihr Herz setzte ein paar Schläge aus. Das, was sie sah, erschütterte sie zutiefst. Doch bevor sie ihren Blick abwenden konnte, wurde die Heilerin von hinten gepackt und eine Hand legte sich auf ihren Mund, um ihren aufkommenden Schrei zu ersticken. Erschrocken fuhr ihr Blick nach oben und traf auf die Augen ihres Angreifers.
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