I
In ihrer kleinen Hütte am Rande von Jarlshof, kehrte Runa soeben die letzten hartnäckigen Staubschichten von ihrem Boden. Sie bückte sich und hob einen vertrockneten Thymianzweig auf, den sie mit einer fließenden Bewegung durch die geöffnete Tür ins Freie beförderte. Zufrieden begutachtete Runa ihr Werk.
Ihr kleines Haus bestand aus zwei Räumen. Der große Raum, in dem sie soeben stand, diente hauptsächlich als Wohn- und Arbeitsraum. In der rechten hinteren Ecke befand sich eine Kochnische mit einer Feuerstelle. Vor der Feuerstelle standen ein Tisch und zwei Stühle.
An der gegenüberliegenden Wand waren mehrere Tische aufgereiht, die mit unterschiedlichen Gefäßen bestückt waren. In den Gefäßen befanden sich verschiedene Salben, Tinkturen und getrocknete Kräuter, die sie für ihre Arbeit als Kräuterkundige und Heilerin des Dorfes benötigte. Aus diesem Grund nannten sie einige Dorfbewohner eine Hexe.
Im hinteren Teil des Raums führte ein Durchgang in ein kleineres Zimmer. In diesem schlief Runa in einem schlichten Bett. Neben der Eingangstür war im linken Teil des Hauses eine weitere Tür, die in den Garten führte. Der Garten beherbergte die verschiedensten Pflanzen und Gewächse, die Runa für ihre Salben pflegte.
Die Heilerin lebte allein in dem Häuschen. Ihre Eltern waren vor sechs Jahren verstorben, als sie achtzehn Jahre alt war. Sie konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als der Dorfvorsteher zu ihr kam, um die traurige Nachricht zu überbringen. Beim Sammeln von Kräutern, war ihre Mutter und ihr Vater in einem Steinbuch ums Leben gekommen. Über ihnen habe sich plötzlich ein Stein gelöst, der beide erschlagen hatte.
Runa trauerte lange Zeit um ihren Verlust. Nach dem Tod ihrer Mutter übernahm Runa die Rolle der Heilerin im Dorf. Diese hatte ihr all das Wissen über die Kräuter und die Botanik beigebracht und so hielt sie die Arbeit ihrer Mutter in Ehren. Die Dorfbewohner respektierten die Arbeit einer Heilerin, doch sie waren abergläubisch und von ihren eigenen Ansichten überzeugt. Die Tätigkeit ihrer Mutter wurde des Öfteren mit dunkler Magie verglichen und so kam es, dass oft böse Zungen die Familie verunglimpften. Dass Runas Vater als Schreiner tätig war und viele Häuser repariert und erbaut hatte, konnte die Meinung der Menschen nicht ändern.
Runa war froh, dass ihr Häuschen am Rand des Dorfes stand und sie größten Teils ihre Ruhe vor den Dorfbewohnern hatte.
Die Kräuterhexe trat vor ihre Feuerstelle und rührte in den Topf, der über dem Feuer hing. Ein Eintopf köchelte im Inneren und ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Der Eintopf musste noch köcheln, bevor er genießbar war, doch der Duft war köstlich und erfüllte den Raum.
Mit einer fließenden Bewegung schob sie eine verirrte Haarsträhne zurück in ihren braunen Zopf. Anschließend klopfte sie sich den Staub von ihrem grünen Kleid, das ihren schlanken Körper umspielte. Mit ihren Augen, in derselben Farbe, spähte Runa aus dem Fenster. Ein Ruf hatte ihr Interesse geweckt und sie trat zu ihrer Haustür.
Anschließend ertönte ein lautes Klopfen und Runa öffnete die Tür. Die Kräuterhexe blickte auf ein kleines Mädchen in einem braunen Kleid, welches japsend nach Luft schnappte.
„Runa", sagte das Mädchen. „Der Dorfvorsteher schickt mich. Er ist krank und benötigt deine Hilfe."
„Ich danke dir, Klara", erwiderte Runa und blickte das Mädchen mit einem Lächeln auf den Lippen an. „Kannst du mir erklären, welche Krankheit den Dorfvorsteher plagt?"
Mit wenigen Sätzen beschrieb Klara, dass der Dorfvorsteher, der die besten Jahre seines Lebens bereits hinter sich hatte, seit mehreren Tagen im Bett lag und über Schüttelfrost klagte. Dass dem Mann häufig die Kälte heimsuchte, war nichts Neues. Doch Klara beschrieb, dass seit heute Morgen ein Fieber den Mann überrumpelt hatte und sein Zustand sich zunehmend verschlechterte.
Runa bat Klara kurz zu warten und drehte sich um, um die nötigen Utensilien zusammenzusuchen. Thymian und Schafgarbe wanderten in einem großen Weidekorb. Zudem zog sie ein kleines Töpfchen von einem der Tische und verstaute dies ebenfalls in dem Korb. Mit geübten Handgriffen suchte Runa noch weitere Utensilien zusammen und nahm den Korb in ihre Arme. Anschließend ging sie zu Klara und zusammen machten sie sich auf den Weg zum Haus des Dorfvorstehers.
Jarlshof war ein Dorf mit ungefähr hundert Einwohnern. Im Zentrum befand sich der Dorfplatz, an dem die verschiedenen Feste der Einwohner gefeiert wurden. Um den Dorfplatz herum waren die Häuser der Verwaltung und die große Halle. Direkt über der Halle wohnte der Dorfvorsteher und seine Familie. Alle anderen Häuser waren ohne besondere Ordnung um den Platz errichtet worden.
Runa und Klara kamen an der Bäckerei des Dorfes vorbei und die Besitzerin namens Kati grüßte sie freundlich.
„Runa!", rief die Bäckerin und die Kräuterhexe blieb stehen. Mit wenigen Schritten überbrückte Kati die Entfernung. Kati war ein guter Mensch und die einzige Freundin, die Runa im Dorf besaß. „Hast du schon gehört, dass Constantin verschwunden ist? Er ging vorgestern in den Wald und kam nicht wieder zurück. Seine Frau ist völlig aufgelöst. Heute sind einige Männer in den Wald gegangen, um nach ihm zu suchen. Bis jetzt sind sie noch nicht zurückgekehrt."
Die Kräuterhexe runzelte ihre Stirn. „Das ist ja seltsam. Seine Frau ist doch schwanger und sie erwarten bald ihr erstes Kind."
„Das stimmt. Es sieht ihm nicht ähnlich, dass er einfach verschwunden ist. Wir hoffen, dass Constantin in einer Höhle liegt, um seinen Rausch auszuschlafen. Du weißt ja, er sagt nie Nein zu einem guten Bier."
Runa nickte und pflichtete ihrer Freundin bei. Es war ungewöhnlich, dass ein Dorfbewohner verschwand, vor allem weil seine Ehefrau in Kürze das Wochenbett hüten musste.
„Ich denke, die Männer werden ihn bald finden", sagte Runa mit einem Funken Hoffnung in der Stimme und verabschiedete sich von Kati. Das Mädchen namens Klara begleitete Runa bis zum Dorfplatz. Die Heilerin bedankte sich bei ihr und ging allein die Stufen zum Haus des Dorfvorstehers hinauf.
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