Nachwort
Nachwort
oder auch: Das Protokoll
»Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie ganz herzlich zu unserer Tagung. Ich freue mich, dass sie alle so zahlreich meinem Aufruf zur III. medizinisch-psychiatrischen Konferenz in New York gefolgt sind. Mein Name ist Doktor Paulus und ich möchte Ihnen heute einen psychologischen Fall präsentieren, der sich in meiner Klinik ereignete. Subjekt ist ein sechsundzwanzig Jahre alter Mann mit stattlicher Natur und ...«, erzählte er so dann und las aus seinen Notizen all die Stichpunkte vor, die er für seinen Vortrag vorbereitet hatte.
»So möchte ich Ihnen nun schließlich das abschließende Protokoll meiner Untersuchung vorstellen:
Der betroffene Mann litt unter einer psychischen Störung, die ich in meinen ersten Gedanken als Persönlichkeitsstörung bezeichnete. Genauer kam ich auf den Begriff des Borderline-Syndoms, bei welchem die Patienten eine ausgeprägte Impulsivität kennzeichnet, instabile und dennoch intensive zwischenmenschliche Beziehungen eingehen, Stimmungsschwankungen vorweisen und ein verzerrtes Selbstbild haben. Diesem Patienten möchte ich diese Erkrankung weiterhin nicht absprechen, gerade deshalb, weil es nun doch mehrere Faktoren gibt, die die angesprochene Störung unterstützen. In seinen Antworten wurde mir deutlich, wie leicht er freundschaftliche Beziehungen eingehen kann, sie jedoch sehr schnell wieder aufgibt, wenn entsprechende Instanzen plötzlich wegfallen. Gleichzeitig, bei längeren Beziehungen, berichtete er von häufigen, in der Nachbetrachtung doch eher kleineren, Streitigkeiten, die zum Zerbrechen langjähriger Beziehungen führten. Doch ebenfalls berichtete er, sich nach diesen Beziehungen, die er doch selber, Zitat: „zerstörte", zu sehnen und verzweifelte, als er bemerkte, dass sich entsprechende Personen von ihm abwandten. Besonders erstaunt war ich, als er mir davon berichtete, dass er wohl niemanden hat, der sich um ihn sorgte. So sagte er, er wäre allen egal und sie würden lächelnd zusehen, wie er in sein Unheil läuft. Wir alle wissen: so wie wir selber sind, suchen wir uns auch unsere Mitmenschen. Wer nicht ehrlich sein kann zu sich selbst, Angst hat, der wird sich auch niemanden suchen, der ihm diese Aufgabe abnimmt oder leichter macht. Der ständige Wechsel besagter Freundschaften charakterisierte sich so dann mit Meinungsverschiedenheiten, die er als essentiell für seinen Charakter ansah, oder mit Bemerkungen, ganz gleich welcher Coleur, die er auf sich negativ bezog und sich dadurch verurteilt fühlte. Dies lässt sich mit seinem instabilem Selbstbewusstsein verbinden, dass sich darin äußert, eigenständige Interessen zugunsten der Gesellschaft aufzugeben, dem Vorgelebten nachzuahmen, um eben das eigene Selbstbewusstsein, das wohl mangelnd ausgeprägt ist, teilweise auffangen zu können. Für eben jenes Selbstvertrauen positiv ist das Herausstellen von den Schwächen anderer, konkret, die Selektion all jener, die nicht in das angepasste Bild passen. Durch die Aussortierung der vermeintlich „Falschen" kann und konnte das Subjekt sein Selbstbewusstsein kurzzeitig steigern. In einem Experiment, dass ich mit einem leeren, verschlossenen Karton durchführte, zeigte sich der Grund für sein mangelnd-ausgeprägtes Selbstbewusstsein: der fehlende Mut, sich selbst zu ergründen, eigene Fehler einzugestehen, den wahren Charakter herauszufinden, mit seinen guten wie schlechten Seiten. Die mangelnde Kompetenz, die sich aufgrund der Einfachheit der Annahme anderer Eigenschaften durchsetzte, schaffte das Subjekt in eine Lage, sich nicht mehr selbst zu kennen. Geläufiger, unter uns Medizinern und Psychologen, ist der Begriff des „Midlife-Syndroms", also der Phase im Leben, bei der erstmalig auf das zurückliegende Leben geblickt wird. Es tritt häufig dann auf, wenn im Umfeld die ersten Personen verscheiden, die Eltern oder Freunde. Im Totenbett kommt ebenfalls diese Frage auf: „Wer hätte ich sein können, wäre ich nur »ich selbst« geblieben.«. Ich wage nun den Schritt und bezeichne unser Subjekt als ersten Fall einer neuen, psychologischen Erkrankung, die ich victor totalitati nenne, also dem totalitären Sieger, den Gewinner, der sich bei seiner Erkrankung das Ziel gesteckt hat, so ähnlich wie möglich zu seinem Umfeld zu sein, um so viel Anerkennung (und Liebe) wie möglich zu erhalten. Ursache ist ein gestörtes Selbstvertrauen, dass durch die Vorgabe, so zu sein, wie andere es sich wünschen, begünstigt wird. Zusammenfassend lässt sich die Erkrankung also wie folgt beschreiben: Gewinner sind, wie soll man sagen, jene, die wie alle sind. Sie tragen stolz um ihren Kragen den Strick, den er zum Angeln nimmt.«
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