Das Protokoll des Doktor Paulus
„Retten Sie mich, Doktor Paulus, retten Sie mich.«
Er kam aus der Tür des Dakotas, das geradewegs auf den Central Park blickte. Die Leute kannten ihn und seinen Beruf: »Ein Psychiatrist«, tuschelte und schimpfte man doch beinahe gleichzeitig. Für ihn war es Alltag geworden, dass die Leute über ihn sprachen, spotteten und rätselten. Er hatte sich an die verdutzten Gesichter gewöhnt und konnte stolz darauf sein, dass sein Unterbewusstsein die unverfänglichen Blicke nicht mehr wahrnahm. Er war definitiv niemand gewesen, dem der Erfolg zugeflogen kam, niemand, der sich in der kapitalistischen Welt auf berühmte Vorfahren berufen konnte, die ihn mit Ruhm und Kapitalanlagen umsorgen konnten.
Doktor Paulus war Arzt gewesen.
»Etwas Neues?«, fragte er, als er sich über die Berichte der vergangenen Nacht informieren wollte.
»Nein, Mister H. hat sich ausgesprochen ruhig verhalten.«
»Umso besser«, freute er sich.
Nicolas Harrington kam aus Halifax in die psychiatrische Klinik nach New York. Auf die Frage, was denn seine genauen Beschwerden wären, antwortete er nur unkonkret: er wäre nicht zufrieden gewesen. Mister H., der das Krankenzimmer Nummer 25 beanspruchte, aß nur noch sehr wenig, betrieb viel Sport und vernachlässigte seine Interessen. Gerade die eigentümlichsten, eben jene, die ihn in der Kindheit so einzigartig machten, verfolgte er nur noch mit seinen Augen. Mister H. hatte gehört, dass Doktor Paulus der Beste Arzt auf dem Gebiet der psychologischen Erforschung des menschlichen Seins gewesen wäre und verband mit ihm die letzte Hoffnung, die er in seinem Leben übrig hatte.
Die Voruntersuchungen ergaben ein klares, aber dennoch unschlüssiges Bild des Patienten: Er hatte eine ansehnliche Figur, eine normale Körpergröße und eineintakte Familienstruktur. Physische Anomalien oder Einschränkungen waren nicht vorhanden. Für Doktor Paulus wurde es interessant, als er sich über den näheren Kreis der Freunde des Mister H. informierte:
»Haben sie Freunde?«
»Ja, ganz viele. Wir unternehmen recht viel. Manchmal spazieren wir, verabreden uns für gemeinsame Gespräche oder besuchen einige Tanzlokale, Museen, Opern.«
»Das klingt beeindruckend. Wie viele sind das, ungefähr?«
»Ich weiß nicht«, Patient H. runzelte die Stirn ein wenig, »Vielleicht 15?«
»Das ist aber eine ganze Menge!«
»Ja, es sammelt sich an, würde ich sagen.«
»Wie vielen der fünfzehn wissen, dass sie sich in eine psychiatrische Einrichtung begeben haben?«
»Keiner«, antwortete er leise.
»Können Sie schon eine erste Diagnose stellen, Doktor?«, fragte die Schwester, die auf ihn zukam, als er aus Zimmer Nummer 25 ging. Doktor Paulus sah sie fragwürdig an. Normalerweise interessierte es sie nicht, wie es den Patienten erging, mehr noch, eigentlich war es verboten, Details auszutauschen. »Ich frage, weil ich hoffe, dass er schnell wieder gesund wird. Vielleicht könnten wir uns verabreden.« Doktor Paulus sah daraufhin nur bedrückt auf den Boden, schmunzelte, und sagte, dass er eine Persönlichkeitsstörung vermutete. »Vielleicht ist es Borderline. Mehr kann ich aber zum aktuellen Zeitpunkt einfach nicht sagen.«
»Mister Harrington, ich möchte heute mit Ihnen ein Experiment wagen.« Mister H. sah sich verunsichert um: »Aber doch nicht etwas mit irgendwelchen Injektionen und Bestrahlungen?«
»Nein, es geht nur um einen Karton.«
»Einen Karton?«
»Hier,«, Doktor Paulus übergab seinem Patienten einen versiegelten Kasten aus Pappe, »Sie können ihn öffnen, wenn Sie möchten.«
»Und was, wenn ich nicht sehen will, was sich darin verbirgt?«
»Dann bleibt er eben geschlossen und sie werden nie erfahren, ob es gut oder schlecht gewesen ist, dass Sie ihn verschlossen gelassen haben.«
»Gut, dann bitte schön: Hier erhalten Sie Ihren Karton zurück«, Mister H. wirkte etwas pampig und unbeeindruckt.
»Denken Sie nicht, dass ich Sie für dumm halte - oder ähnliches. Es ist legitim, dass Sie den Karton nicht öffnen wollen. Es kann ja schließlich durchaus sein, dass sich etwas gefährliches darin verbirgt.« Doktor Paulus schrieb etwas auf sein Klemmbrett und Mister H. nickte.
Doktor Paulus war ein guter Arzt gewesen. Er war es vielleicht deshalb, weil er den Blick für viele Dinge wahren konnte, weil er sie selbst erlebt hatte. Während seine Mitstreiter das Glück besaßen, alles so zu tun, wie es andere von ihnen verlangten, erhielten sie einen vorgefertigten Blick, der Doktor Paulus verwehrt blieb. Was für seine Leidenschaft förderlich war, setzte ihm im Privaten doch lange Zeit mehr zu, als er es eigentlich beabsichtigt hatte. Er gehörte nicht dazu, weil er die Kraft besaß, seine Individualität über das Interesse der Gemeinschaft zu stellen. Als Resultat wurde er der beste Arzt des Staates, wenn nicht sogar des Landes und der Welt. Die Schattenseite davon war, dass ihm einige, durchaus nicht alle, soziale Erlebnisse schwerer zu Teil wurden. »Die Gesellschaft sagt: Sei stets wie du bist. Doch die Gesellschaft verlangt, dass du dich ihr widerstandslos hingibst«, hing als Spruch über seinem Arbeitsplatz. Wahrlich hatte Doktor Paulus unaufhörlich Repressalien erfahren müssen, weil er sich im Laufe seines Lebens immer wieder die Frage stellte, was er vom Leben haben möchte: Eines, in welchem er lange Zeit gut leben kann, weil ihn die anderen mögen und am Totenbett bereut, nicht »selbst gewesen« zu sein, oder wollte er ein Leben führen, dass ganz und gar nicht den Vorstellungen seiner Gesellschaft entsprach, aber ihm dafür als »unikal« und »echt« erschien. Die Antwort lag ihm klar auf der Hand wie die Schande derer, die sich für Ersteres entschieden hatten.
»Was tun Sie in Ihrer Freizeit?«, fragte Doktor Paulus, als er sich wieder auf den Sessel in seinem Arbeitszimmers setzte.
»Ich treffe mich häufiger mit Freunden, wir gehen in Museen oder auch zu Tanzveranstaltungen«, erzählte Mister H. ganz unbeeindruckt.
»Rein aus persönlichem Interesse, ich gehe auch sehr gerne in Museen und kulturellen Veranstaltungen, was begeistert Sie daran?«
»Das weiß ich nicht so Recht. Es ist - so..., es machen ja schließlich alle«, er nickte und Doktor Paulus schrieb eifrig auf sein Klemmbrett.
»Und in Ihrer Kindheit? Was haben Sie da gemacht?«
»Früher habe ich gerne Querflöte gespielt, aber auch nicht wirklich lange.«
»Wieso das denn?«
»Die anderen haben mich ausgelacht.«
»Es tut mir leid, Lily, aber einigen Menschen kann ich einfach nicht helfen«, sagte Doktor Paulus zu der Krankenschwester, die sich erneut über den Gesundheitszustand des Patienten aus Zimmer 25 erkundigte. »Wie meinen Sie das?«, fragte sie verunsichert und beinahe den Tränen nahe. »Es gibt Menschen, die lassen sich selbst zurück, um ihrem so geringen Selbstvertrauen, das sie sonst nur durch Erniedrigung der Schwächeren aufbauen können, einen letzten Halt zu geben. Sie orientieren sich an den anderen und befolgen die Ideale, die die Mehrheit vorgibt und bewundern dann all die Filme und Lektüren, die ihnen vermitteln wollen: Sei so wie du bist. Aber sie schaffen es nicht. Sie sind zu feige, sich selbst zu verstehen, sich selbst zu hinterfragen. Sie haben keinen Mut, um gegen die Regeln ihrer Umgebung aufzubegehren. Sie lassen sich selbst im Stich, weil es für sie einfacher erscheint, so zu sein, wie es die Gesellschaft erwartet. Und nun suchen sie Hilfe bei denjenigen, die sie einst ausgelacht haben. Wie abscheulich ist diese Krankheit, die aus Menschen Mörder macht. Es ist ein Gesellschaftskoma und jeder sieht zu«, wütend schmiss er die Tür hinter sich zu und rannte zum Aktenschrank, um die letzten Ergebnisse seiner Untersuchung abzuheften. Lily hatte es gerade noch so geschafft, ihm hinterher zu kommen und der Tür auszuweichen. »Ich kann ihm nicht helfen und ich würde es auch gar nicht wollen. Er erhält nun sein Schicksal, das er sich selbst ausgesucht hat. Er hat eine Entscheidung getroffen, damals, für die er nun bezahlen muss. Ich bin nicht Gott, ich kann nur mit zu sehen, wie er das erhält, was ihm der Teufel versprach, als er ihm seine Seele abgekauft hat. Er hat sich den Strick selbst um seinen Hals gelegt, als er sich zum scheinbaren Sieger erklärte.«
»Aber ist es denn schlimm, wenn man so lebt?«, fragte sie.
»Wenn ich perfekt wäre, würde ich »Nein« sagen. Dann würde ich sagen, dass jeder Mensch die Freiheit besitzt, so zu leben, wie er es möchte, so lange er andere dadurch nicht in direkte Mitleidenschaft zieht«, sie nickte. »Da ich aber menschlich bin, sage ich: »Ja«. Ja, es ist schlimm, wenn man zu denen gehört, die über nichts und niemanden nachdenken, weil es ihnen einen Halt gibt, für den sie andere Leute ausgelacht haben«, wieder rauschte er an ihr vorbei und verschwand auf dem langen Gang.
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